Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Wolfgang Fels: Mein Traum

Plötzlich stand er vor mir. Mitten in der Nacht. Im Traum. Ich glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, als wären wir uns in früheren Zeiten bereits begegnet. Ein Engel, mit weiß gelocktem Haar und Flügeln an der Rückseite seines wallenden Hemdes. Zu Tode erschrocken fragte ich ihn, ob er gekommen sei, mich abzuholen. Ich sei doch noch viel zu jung und auf ein vorzeitiges Abschiednehmen in keiner Weise vorbereitet. Außerdem müsste ich noch einige in letzter Zeit aus jugendlichem Leichtsinn in Verbindung mit unkontrollierbaren Testosteronschüben begangene Sünden – allerdings ohne die geringste Reue – beichten. Aber selbst dann wollte ich mit dem Gehen noch zuwarten, aus verständlichen Gründen bis weit in die Zeit des hormonellen Winters hinein.
Er setzte sich freundlich lächelnd an den Rand meines Bettes, nahm meine Hand und erzählte mir eine Anekdote aus seinem Engelsdasein.
Bereits einmal, vor vielen Jahren verließ er seinen Platz auf jener himmlischen Wolke, von der aus er als Engel abwechselnd Halleluja und Hosianna - von ergiebigen Hustenattacken unterbrochen - mit seiner, wie schon zu Lebzeiten immer noch rauchverschleimten Stimme in die Monotonie der Ewigkeit hinausjubelte. Vom Gremium der himmlischen Heerscharen war er auserkoren worden, im Münchner Rathaus nach dem Rechten zu sehen. Es hielt sich nämlich hartnäckig das Gerücht, dass die dortige Beamtenschaft einer über Jahrzehnte anhaltenden Arbeitsunlust verfallen sei, bei der bestenfalls monetär liebevoll gestaltete Ansuchen einer positiven Erledigung anheimfielen. Dies habe zur Folge, dass die dadurch verärgerte Bevölkerung den Glauben an das Gute im Menschen verlöre, sich womöglich von der Kirche abwende und widerspenstig den finsteren Mächten der Hölle Tür und Tor öffne. Um dies zu verhindern, müsse er bei dieser diplomatische Mission die Anweisungen seiner Dienstgeber exakt befolgend durchführen und dafür sorgen, dass die in den Amtsstuben anfallenden Arbeiten ganz im Sinne einer zufriedenen Bürgerschaft erledigt werden. Nach erfolgreichem Abschluss des Auftrags, wenn im Rathaus wieder Zucht und Ordnung eingezogen seien, erwarte man seine Rückkehr in das Zentrum des himmlischen Geschehens. Daraufhin schickten sie ihn, wiederum zum Leben erweckt, in die bayerische Landeshauptstadt. Dort ging er Tag für Tag im Münchner Rathaus ein und aus, musste aber trotz intensiver, zeitraubender und jahrelang frustrierender Bemühungen zur Kenntnis nehmen, dass man auch mit himmlischen Mächten im Rücken eine gut organisierte Beamtenschaft nicht zu einem geordneten Arbeitsalltag motivieren könne. Er beendete völlig demotiviert sein irdisches Dasein zum zweiten Mal und machte sich über die Himmelsleiter auf den Weg zu seiner vertrauten Wolke, um wieder in gewohnter Weise den Herrn zu loben und - das Antlitz nach allen Himmelsrichtungen wendend - zu jubilieren. Diese Aufgabe erfüllte er zur vollsten Zufriedenheit der himmlischen Obrigkeit, sodass seiner Aufnahme in die Hierarchie gehobener Himmelsboten nichts mehr im Wege stand. Aus dem gemeinen Engel – jetzt fiel mir auch sein Name wieder ein: „Weiß Ferdl“ (ein bekannter bayrischer Humorist erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts) war sein bürgerlicher Name hier auf Erden -, wurde der Erzengel Ferdinand. Diesen Aufstieg in die Prominenz geistlicher Heerscharen merkte man nicht nur an seiner durch die Beförderung stolzgeschwellten Brust, an die ein golden glänzender, aus Erz gearbeiteter Stern geheftet war, sondern auch an der würdigen, fast schon protzigen Gestaltung seiner überdimensionierten Flügel, welche die Wichtigkeit seiner neuen Positionen deutlich erkennen ließ, allerdings das Sitzen an meiner Bettkante erheblich erschwerte, ja nahezu unmöglich machte.
Aber dann fragte ich ihn: „Warum bist Du heute zu mir gekommen?“ Ich überlegte im Stillen, ob ich ihn nicht besser mit aller gebotenen Höflichkeit per „Sie“ ansprechen hätte sollen, handelte es sich doch immerhin um einen Erzengel, der in himmlischer Pracht unbequem hin und her rutschend am Rand meines Bettes Platz genommen hatte. Doch dann fiel mir ein, dass auf Grund seiner nicht gerade vornehmen, sondern bayrischen Herkunft die Anrede per „Du“ durchaus gerechtfertigt und völlig ausreichend sei. Er schien meine Gedanken lesen zu können, lächelte mich verschmitzt an und sagte: „Bleiben wir beim Du. Auch ich weiß, dass Deine Adern nicht mit edlem Geblüt gefüllt sind und Du gesellschaftlich eher ein Schatten bist“. Damit war die Frage unseres amikalen Umgangs ausgeredet und E.E Ferdinand klärte mich über den Grund seines neuerlichen Erscheinens hier auf Erden mit folgenden Worten auf:
„In unserer Zentrale, die im Kirchturm von St. Stefan in Wien untergebracht ist, macht man sich große Sorgen um das Wohl der österreichischen Bevölkerung. Es hat den Anschein, die Ausbreitung der Corona Pandemie lasse sich durch die bisherigen Maßnahmen der zuständigen Behörden nicht mehr kontrollieren. Zu Beginn der Epidemie gehorchte ein Großteil der Bevölkerung noch folgsam und kleinlaut den Anordnungen der Regierung, die sich anfangs sogar mit den Oppositionsparteien auf eine gemeinsame Linie einigen konnte. Somit war es ihr
möglich, den Bürgern in ungestörter Eintracht ihr parlamentarisches Gesundheitsprogramm auf die Augen zu drücken, ohne oppositionelle Querschüsse befürchten zu müssen. Als die Opposition aber feststellte, dass die gewählte Partei mit ihrer Arbeit in der Wählergunst gewaltig zulegte, besann sie sich ihrer eigentlichen politischen Aufgabe, nämlich publikumswirksam die Verordnungen der Regierungspartei als Pfusch in Frage zu stellen und das Gegenteil der verordneten Maßnahmen als das einzig Wahre anzubieten. Da plusterte sich so mancher mickrige Abgeordnete als sogenannter „Oppositionsgockl“ auf, dem es hochtrabend mit markigen Sprüchen tatsächlich gelang, unruhestiftend einen Keil in die Strategie der Pandemiebekämpfung zu treiben, um deren Aktionen mit viel Häme händereibend in den Schmutz zu ziehen. Solche Typen müsse man schleunigst von ihrem hohen Ross herunterholen und zur Raison bringen“, meinte mein neuer Freund.
Mit diesen Worten erhob er sich von meiner ungemütlichen Bettkante, wanderte im Zimmer auf und ab und sagte schließlich:
„Ich bekam jetzt – um mich nach meinem Münchner Fiasko zu rehabilitieren -, eine neue Aufgabe mit dem Auftrag, an der Regierungsarbeit im Wiener Parlament unterstützend mitzuwirken und seinen Ministerien beratend zur Seite zu stehen. Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt meines Erscheinens bei dir. Da ich nicht als Erzengel gekleidet bei den Nationalratssitzungen auftreten kann, möchte ich Dich bitten, mir für diese Auftritte einige Deiner besseren Kleidungsstücke zur Verfügung zu stellen. Der schwarze Anzug, in dem ich seinerzeit beerdigt wurde, ist arg zerschlissen und vermodert, er entspricht nicht mehr den modischen Vorstellungen eines Parlamentariers von heute. Unsere Organisation traf bereits im Himmel Vorbereitungen für einen Kleidertausch. Du wurdest im Rahmen unserer Allwissenheit exakt vermessen, man verglich Deine Daten mit meinen Maßen.
Die Übereinstimmung ist perfekt, dein Gewand müsste mir von der Statur her wie angegossen passen. Deshalb hat man Dich für diese streng geheime Aktion sozusagen als meinen verdeckten, irdischen Mitarbeiter auserwählt. Meine Erzengel Uniform überlasse ich Dir inzwischen als Pfand. Pass gut auf sie auf, zieh sie aber bitte in der Zeit meiner Abwesenheit nicht an. Besuche damit auf keinen Fall einen Maskenball, sie ist sehr leicht brennbar! Lass sie einfach in der Garderobe, nein besser am Dachboden hängen, bis ich wieder zurück bin.“
„Aber, wie stellst Du Dir Dein Erscheinen im Parlament vor, mit welchen Vorschlägen möchtest Du Dich in die inzwischen ziemlich chaotische Regierungsarbeit einbringen,“ fragte ich ihn. „Da habe ich einige interessante Pläne vorbereitet, lass dich überraschen“ sagte er, während er im Schlafzimmerschrank meine Kleidungsstücke durchmusterte, die er für diese Aufgabe auszuwählen gedachte. Nachdem er meine zwei Anzüge - einer davon ist für die Sonntagsmesse gedacht, der andere, schon etwas hergenommen und verbraucht, aber für Beerdigungen und ähnliche Feierlichkeiten noch durchaus geeignet – geprüft hatte, fuhr er mit seinen Erklärungen fort:
„Als erstes würde ich dem Parlament einen Rollentausch vorschlagen. Die gegenwärtig polternden Oppositionspolitiker sollen sich im Management der Pandemie beweisen, der jetzigen Regierung ihren Platz auf der Oppositionsbank anbieten und dann selbst die Regierungsarbeit übernehmen. Da wird es sich zeigen, ob und in welchem Ausmaß sie in diesen schwierigen Zeiten mit der gesundheitspolitischen Problematik besser als die alte Regierungspartei zurechtkommen. Insbesondere dann, wenn ihnen jetzt bewusst wird, welch belastende Emotionen hochkommen, wenn ihnen die oppositionelle Seite fortwährend in die Suppe spuckt und mit an Haaren herbeigezogener Argumentation versucht, die mühsam erarbeiteten Vorschläge ins Lächerliche zu ziehen und damit das an sich biedere und leichtgläubige Volk, dem die Fähigkeit zum kritisch Denken verkümmert ist, als aufwieglerischen Mob für ihre Machtansprüche zu missbrauchen. Da die ehemalige Opposition bislang nicht viel anderes als markige Sprüche zu bieten hatte, ist mit einer Wendung zum Besseren in ihrer Regentschaft sowieso nicht zu rechnen.
Jedenfalls müsste man in der Lage sein, diesen Regierungstausch kurzfristig wieder rückgängig zu machen, auf alle Fälle noch bevor die Bevölkerung an der Unfähigkeit von selbsternannten Besserwissern endgültig zu Grunde geht. Aber ich werde mir die Sinnhaftigkeit dieses Rollentauschs noch einmal gut durch den Kopf gehen lassen, es war nur still vor mich hingedacht.
Ein weiterer Punkt in meinen Bestrebungen, euer Vaterland zu retten, liegt in der Tatsache, dass sich die Bevölkerung in ihrer Haltung zur Covid Strategie in zwei Lager geteilt hat, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Jede Seite ist mit engstirniger Argumentation von der Richtigkeit ihrer Meinung überzeugt und nicht bereit, zur Beilegung dieses Konflikts menschliche Größe zu zeigen, Gegensätze auszugleichen oder gar zu überwinden. Es scheint fast, als hätten die Knechte der Unterwelt mit teuflischen Umtrieben die Menschheit vom Pfad der Vernunft abgebracht und sie zu Gewaltausbrüchen ermuntert, um sich ihrer hasserfüllten Seelen in ewiger Verdammnis sicher zu sein. Aber lass Dich überraschen, Du wirst dich wundern, mit welchen zündenden Ideen ich mich durchsetzen werde“. Damals schien er noch voll Optimismus gewesen zu sein.
Nach diesen Worten schlüpfte er in meinen Sonntagsanzug und meinte, Eile sei geboten, die Zeit werde ihm knapp. Er rief mir noch zu, dass er großen Wert darauf lege, mit mir in Verbindung zu bleiben, drehte sich um und entschwand im Traum meinen Blicken. Wahrscheinlich Richtung Parlament, zu seiner neuen Wirkungsstätte. Daraufhin erwachte ich in ziemlich aufgebrachtem Zustand, durchwanderte mit wirren Blicken mein Zimmer, fand aber bald wieder mein inneres Gleichgewicht und maß diesem Traum kaum noch Bedeutung zu. Zumal mich der Alltag gleich wieder eingeholt hatte mit seinen FFP2 Masken, steigenden Infektionszahlen, Demonstrationen, einander widersprechenden Verordnungen, Gewalt und gegenseitigen Beschuldigungen…, ein ganz normaler Covid Alltag eben, wie er uns schon seit langer Zeit vertraut war. So vergingen Tage, Wochen und Monate, bis mein Freund, der Erzengel Ferdinand - allerdings nur in meiner Erinnerung -, endlich wieder auftauchte. Ein Kontakt mit ihm kam nie zustande und ich fürchtete schon um meinen Sonntagsanzug, das gute Stück, das ich ihm geborgt hatte. Hat er ihn womöglich bei Willhaben in eine Auslage gehängt? War das alles wirklich nur ein Traum? Oder erschien er tatsächlich als Retter der Nation bei mir und plagt sich jetzt immer noch mit unlösbaren parlamentarischen Querelen herum? Ich fand keine Antwort, den Ferdinand auch nicht, er war mit meinem Traum verschwunden.
Nach langen, immer chaotischer werdenden Zeiten begab ich mich eines Tages wieder einmal auf meinen Dachboden, um Gerümpel, das schon ewig da oben herumlag, zu entsorgen. Im Lockdown fällt es leicht, die totzuschlagende Zeit für derlei Arbeiten zu nützen. Und plötzlich sah ich ihn. Meinen Sonntagsanzug. Sorgsam ausgebürstet und aufgehängt, des Erzengels Kleid mit den protzigen Flügeln allerdings war verschwunden. Auf einem am Anzug angehefteten Zettel stand zu lesen: „Tut mir leid für euch, ich mühte mich sogar mit der Macht des Himmels im Rücken vergeblich, eine Wendung zum Besseren für das österreichische Volk zu erreichen. Mit meinen Vorschlägen stieß ich bei Politik und den Bürgern auf verachtende Ablehnung. Macht euch jetzt euren Mist alleine, oder schließt gleich einen Bund mit dem Teufel, der euch vielleicht weiterhilft. Allerdings nur zu seinen Bedingungen. Danke übrigens für den Anzug, doch war mein parlamentarisches Outfit mit Deiner Leihgabe – wie alle anderen Bemühungen - für A. und F. Leider hat der Anzug – sein Stoff ist anscheinend nicht von feinstem englischen Garn – den ständigen Belastungen des parlamentarischen Alltags nicht standgehalten. Er bekam einige Risse und ist etwas ausgefranst und zerschlissen, aber immer noch für Dich als feierliche Bekleidung auf Deinem letzten Weg bestens geeignet. In der rechten Sakkotasche findest Du noch ein Schreiben von Erzengel Johann Wolfgang, ich glaube, auf seinem irdischen Weg nannte er sich Göthe, gerichtet an den Mob, der seine Freiheit darin sieht, auf der Straße zu krakeelen und randalieren. Sie sollen diesen Text lesen und darüber nachdenken, falls es ihr Horizont zulässt: „Dass wir nichts über uns anerkennen wollen, macht uns nicht frei“.
Wir sehen uns dann beim Jüngsten Gericht wieder, bis dahin gutes Gelingen, Dein EEF“. Was blieb uns jetzt anderes übrig, als Ferdinands Rat zu befolgen und ohne fremde Hilfe weiter zu wursteln. Die Versuche, mit Hirn, Nächstenliebe und Fürsorge die Gräben in der Bevölkerung zu schließen, waren weiter erfolglos. Mit der Unterstützung durch die Hölle wollten wir aber noch zuwarten, da wir sicher waren, dass der Teufel und sein Team die Fraktion der Leugner und Gegner bereits massiv infiltriert hat und wir mit ihren Dogmen auch in Zukunft nichts anfangen können.
Also mussten wir uns mit der Tatsache abfinden, dass Wolf und Covid bei uns heimisch geworden sind. Der eine frisst Schafe, das Virus die Menschen. Allerdings hatte es im Lauf der Evolution gelernt, seinen genetischen Code regelmäßig so anzupassen, dass sein Überleben gesichert ist. Mit der Mutation „Omega“ würde zwar das griechische Alphabet enden, nicht jedoch die Mutationsfreude des Virus. Das ist natürlich eine gewaltige Herausforderung für unsere Pandemie Kommission, die sich dabei mit einem unerwartet großartigen Entschluss selbst übertreffen wird: man solle die kommenden Covid Mutationen mit chinesischen Schriftzeichen, deren es an die 100.000 gibt, bezeichnen und nummerieren!
Hat sich da womöglich ein Kreis geschlossen?

 

Wolfgang Fels
Geb1942 in Salzburg, bis zur Pensionierung 2012 Allgemeinmediziner. Veröffentlichungen in div. Literaturzeitschriften. Veröffentlichungen zuletzt: 2018 Lyrikband „Des Mondes Silber hellt die Nacht “, 2018 Prosa „Der hypokroatische Eid und andere Mysterien“, 2019 Lyrikband “Bilder im Schattenlicht”, alle Innsalz Verlag.