Karsten Beuchert: Der Schriftsteller

Karsten Beuchert
Der Schriftsteller


Wie fast jeden Morgen sitze ich auf meinem Bürostuhl am Schreibtisch. Völlig unüblich liegt auf diesem allerdings ein leeres Blatt Papier, DIN A4 – ein 21 mal 30 Quadratzentimeter großes weißes Menetekel auf der Schreibfläche aus Holzimitat. Ich löse meinen Blick von diesem eklatanten Zeugnis meiner Untätigkeit und lasse ihn schweifen. Neben dem Blatt liegen Stifte. Ein
alter Füllfederhalter, den ich trotzdem gerne verwende, ein praktischer Kugelschreiber und zwecks Drohung an mich selbst ein roter Filzstift – säuberlich nebeneinander platziert und parallelisiert. Kein Wunder, habe ich die letzte halbe Stunde statt mit Schreiben doch damit verbracht, sie immer wieder zur Hand zu nehmen und noch ein bisschen genauer ausgerichtet wieder abzulegen. Im Kontrast dazu hängt die unachtsam zurückgeschobene Tastatur meines PC’s etwas schief in der ansonsten wohlgeordneten Arbeitslandschaft, knapp vor dem zugehörigen Monitor, auf dessen Bildschirm anklagend ein Word-Fenster prangt, das innerhalb seines Rahmens auch nur eine genauso leere Fläche zu bieten hat wie das Blatt Papier vor mir. Flankiert wird das gesamte elektronische Arrangement von den zwei Pflanzen, die in arbeitsamen Stunden meine müden Augen mit etwas lebendigem Grün erfreuen sollen. Doch in diesem Moment nimmt mein rastloser Blick kaum etwas außer unbeschriebenem Weiß wahr. Wenn denn wenigstens von ein bisschen Ergebnis aus dem ganzen Zeitaufwand die Rede sein könnte! Frustriert lehne ich mich in meinen Bürostuhl zurück. Hat die Besinnung auf die klassischen Arbeitsmaterialien eines Schriftstellers also auch nicht zum erhofften Erfolg geführt!

Ich zwinge meinen Blick zurück auf das Stück flachgepressten Regenwaldes, das in Zeiten elektronischer Datenverarbeitung wie ein Fremdkörper auf meinem Schreibtisch vor mir liegt. Normalerweise – so kenne ich es von mir – müssten allmählich die Gedanken zu fließen beginnen, sich langsam zu ersten Ideen zusammenfügen, bis schließlich eine fast fertige Geschichte vor meinem inneren Auge stünde. Wenn Zen-Meister durch Sitzen vor weißen Wänden zu Erleuchtung und Nondualität finden können, dann muss doch für mich durch Betrachten eines weißen Blattes wenigstens eine brauchbare Geschichte herausspringen! Doch nichts rührt sich in mir. Unbeteiligt liegt das Papier da, und die Nichtfarbe darauf scheint wie ein Dunst zu sein, der vor diesem Fenster zu meinen kreativen Innenwelten aufgezogen ist, um mich – leider erfolgreich – von ihnen abzuschneiden. Ich kneife die Augen zusammen, um meine sensorische Wahrnehmung bewusst zu verzerren, und stelle mir wabernde Nebelbänke vor, in denen sich Unheimliches und Bizarres verbergen mag – und sei es, wenn mir schon nichts Hochgeistiges einfällt, nur die Schwiegermutter, die unangekündigt zu Besuch kommt. Doch auch hieraus mag sich keine Story formen. Monster, Geister, Schwiegermütter – was auch immer sich hinter meinem diesig verhangenen Fensterblatt verbirgt, es will offensichtlich nicht entdeckt und ins Licht einer zu veröffentlichenden Geschichte gezerrt werden!

Dabei hatte vor ein paar Wochen alles so gut ausgesehen! Nicht, dass ich von meiner Kunst hätte leben können – ein Brotjob zum Brötchenerwerb war leider immer noch vonnöten. Und doch – eine Geschichte nach der anderen aus meiner Feder, oder vielmehr Tastatur, war von Verlagen akzeptiert worden und in Anthologien zusammen mit teilweise namhaften Autoren erschienen. Ein erstes vollständiges Buch mit eigenen Geschichten schien in greifbare Nähe zu rücken. Aber es gab auch Irritationen. So hatten mir ein paar gute Freundinnen rückgemeldet, dass meine Figuren viel zu wenig Gefühle zeigen würden – geradeso, als seien sie Beobachter und nicht Teilhabende des Geschehens und der Geschichten um sie herum. Geschweige denn Teilnehmende. Leicht verunsichert hatte ich diese Kritik zur Kenntnis genommen und beschlossen, fortan auf diesen Punkt besonders zu achten. Und dann der Schock vorletztes Wochenende, als meine Partnerin noch eins draufsetzte, indem sie mir eröffnete, dass ich ihrer Wahrnehmung nach quasi nur vermittelt durch meinen Schreibtisch und die zugehörigen Aktivitäten mit meiner Umwelt in Kontakt treten würde! Diese Aussage gab mir heftig zu schlucken und zu denken, und mein Selbstbild bröselte. Bis dato hatte ich geglaubt, dass meine Mitmenschen in mir wie in einem offenen Buch lesen könnten. Nun wurde diese Scheinsicherheit von verstörenden Gedanken abgelöst: Hatte ich letztlich mit meinen Geschichten und den darin handelnden Figuren ein literarisches Fenster in meine mir selbst unbekannte Innenwelt geöffnet, in der ich genauso getrennt von meiner Umwelt vor mich hin lebte wie sie in ihren jeweiligen Erzählungen? Nein, dies war definitiv nicht, was und wie ich sein wollte! Selbstzweifel brandeten auf, meine mühsam errungene Kreativität brach wie ein angestoßenes Kartenhaus zusammen und riss alle fiktiven wie realen Beobachterfiguren mit sich.

Es hilft nichts. Vielleicht finde ich ja doch hier vor Ort bei mir zuhause eine Inspiration, wenn ich nur genau genug hinschaue? Es ist inzwischen schon wieder Mittag, und ich stehe am Fenster meines Appartements, auf welches ich in Brusthöhe das immer noch unbeschriebene Blatt geklebt habe, sodass ich das Glas gewissermaßen zu einem durchscheinenden senkrechten Schreibtisch mache. Das vernebelte Guckloch in meine Innenwelt, das sich mir seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr öffnen will, wird nun gerahmt von dem wirklichen Ausblick in meine reale Außenwelt. Was mir erscheint, hängt sehr von der Perspektive ab, in der ich darauf schaue. Knie ich mich vor das Fenster und blicke nach oben, wird das Blatt von einem fast gleichmäßig blauen Sommerhimmel umrahmt. Richte ich mich langsam auf, dann schieben sich die gegenüberliegenden Gebäudewände hinter und neben das undurchsichtige Blatt – mit ihren rechts und links davon vorbeigleitenden Fenstern als Sichtöffnungen in die Welten anderer Bewohner dieser Straße. Teilweise sind diese ebenfalls verhangen – klassische weiße Gardinen –, und teilweise öffnen sich die Wohnungen bereitwillig dem Betrachter, wie ich es von holländischen Häuschen kenne. In den unbeleuchteten Räumen meine ich hier und da vage Bewegungen ausmachen zu können. Was mag sich dort gerade abspielen? Vielleicht eine emotionale Ehekrise, möglicherweise ein Rosenkrieg – oder gar ein heimtückischer Mord? Kann ich aus den erahnten Geschehnissen Stoff für eine Erzählung gewinnen? Ich verziehe frustriert das Gesicht, als trotz aller mentalen Anstrengung jede Inspiration weiterhin ausbleibt und die
Antwort somit klar ‚nein’ lautet. Noch viel mehr Bewegung gibt es unten auf der Straße. Ich richte mich nah am Fenster auf und blicke hinab. Das leere Blatt füllt mein Gesichtsfeld jetzt weitgehend aus. Dennoch sehe ich deutlich Fußgänger in meinen Augenwinkeln auftauchen, die dann kurz hinter dem Papier verschwinden. Auf der anderen Seite des Blattes erscheinen sie wieder, nur um ohne Zögern endgültig mein Blickfeld zu verlassen. Bleibt!, möchte ich ihnen zurufen, möchte sie gefangen nehmen auf meinem Blatt Papier, möchte sie einsperren in einer Erzählung. Bleibt, und füllt meine Geschichte mit Eurem Leben! Vielleicht sogar meine Innenwelt …

Der Abend ist hereingebrochen und ich sitze im Schein der Glühlampe wieder an meinem Schreibtisch – und vor dem leeren Blatt. Der Hunger ging mit dem Abendessen, die Müdigkeit würde durch Schlaf zu beheben sein. Allein – ich bin es mir schuldig, heute wenigstens noch einen Anfang zu Papier zu bringen! Mühsam halte ich meine Augen offen, als plötzlich ein erlösender Gedanke kommt: Mache das zum Thema, was gerade ist! Hatte ich dies nicht einmal in einer Empfehlung für angehende Schriftsteller gelesen? Plötzlich fließen meine Gedanken wieder. Träge noch zunächst, fügen sie sich dennoch zu einer Idee zusammen, und – da ist eine Geschichte! Ich weiß auch schon, wie sie heißen wird – Der Schriftsteller –, und ich beginne zu schreiben: „Wie fast jeden Morgen sitze ich auf meinem Bürostuhl am Schreibtisch. Völlig unüblich liegt auf diesem allerdings ein leeres Blatt Papier, DIN A4 – ein 21 mal 30 Quadratzentimeter großes weißes Menetekel auf der Schreibfläche aus Holzimitat …“


Karsten Beuchert
Geb. 1965, Physikstudium, wohnt in München, arbeitet als Quality Manager in der IT. Vorliebe für SF, Fantasy, Surrealismus. Seit 2008 beim Münchner »REALTRAUM«. Veröffentlichungen in unterschiedlichen Anthologien. Beschäftigt mit Philosophie, Wissenschaft & spiraldynamischer Bewusstseinsevolution.