Klaus Ebner: Was bleibt

Klaus Ebner
Was bleibt


Nachdem er begonnen hatte, den am Vortag angefangenen Text weiterzuschreiben, strich Nils ein neues Blatt Papier glatt, setzte an und zog einen Strich, der gegen Ende heller und dünner wurde, kleine Unterbrechungen zeigte, der geradewegs, so dachte er, verhungerte. Er hielt inne, klopfte mit der Feder in der Hand ein paarmal auf die Tischfläche, probierte es abermals, schraubte die Füllfeder auf und entnahm eine leere Patrone, die er auf einen der Papierstöße legte. Er durchsuchte die oberste Schublade, flüsterte Worte vor sich hin, die er festhalten wollte, immerzu befürchtend, er könnte sie vergessen, bevor er daranging, sie niederzuschreiben.
Die letzte Tintenpatrone, die er in der Lade fand, steckte er in die Feder und schraubte diese zu. Er musste unbedingt neue Patronen kaufen, sagte er mit leiser Stimme in den Raum, wohl wissend, dass niemand da war, der ihn hören könnte. Gleich darauf riss er von seinem Blatt ein kleines Stück Papier ab und kritzelte groß »Patronen« darauf. Um nicht darauf zu vergessen. Die Feder schrieb jetzt makellos, und er wollte mehrere Zeilen zu Papier bringen. Doch schon im ersten Ansatz stockte er, machte ungeduldige Bewegungen mit dem Arm und setzte die Kappe auf den Füller, damit die Tinte nicht eintrocknete. Was waren die Worte gewesen?
Mit schräg gelegtem Kopf besah er das Blatt auf dem Tisch, wunderte sich über die Dicke des Tintenstrichs und spielte mit dem Gedanken, heute nichts mehr anzurühren, sondern ganz im Gegenteil alles genau so zu belassen, wie es sich gerade befand. Vorsichtig stand er auf, schob den Stuhl mit den Kniekehlen zurück, massierte mit dem Handballen langsam über seine rechte Schläfe und wandte sich zur Seite. Zwei Schritte, drei, wie in Zeitlupe, als Abspann eines Films. Erschöpft setzte er sich aufs Bett.
Wo war daheim? Hier, im Haus seiner Eltern, wo er aufgewachsen ist? Gewiss, dieser Ort prangte mit Erinnerungen, und er konnte sich des Gefühls kaum erwehren, tatsächlich zurückgekehrt zu sein. Aber ... heim? Waren es nicht vielmehr die Bücher, die er las, die Bücher, die er studierte und von denen er zahlreiche Einzelheiten im Gedächtnis behielt, oder die Bücher, die er schrieb und niemals veröffentlichte? Oder nahm diese Rolle gar der Schreibtisch ein, an dem er gewiss mehr Zeit zubrachte als irgendwo anders? Genau genommen war es an der Zeit, die alte Schreibmaschine herauszukramen, sie anzustecken, den Kofferdeckel abzunehmen und ein Blatt Papier einzuspannen. Sein Vater hatte die Maschine gekauft, vor vielen Jahren, und sie selbst nie verwendet. Es war wieder an der Zeit, ja, und Nils erschrak vor der immensen Schreibarbeit, die vor ihm lag, vor den notwendigen Übertragungen ins Getippte, weil er alles, wirklich alles mit der Hand schreiben musste. Die Eltern hatten einen Computer erwähnt, den es zu einem günstigen Preis zu kaufen gäbe. Das wäre zeitgemäß. Effizient und sinnvoll. Doch allein der Gedanke daran widerstrebte ihm. Noch immer. Sollten sie ihn doch altmodisch nennen! In der Stadt hatte er die Schreibmaschine auch nicht verwendet. Womöglich ein Fehler. Vielleicht aber war es gut so.
Im Kino träfe er die Schulkameraden von früher. Daran hegte er keinen Zweifel. Und dann? Mit ihnen reden, Unverbindliches, nur nicht über das Weltgeschehen oder seine Arbeit? Ihre vorgefertigten Meinungen hörte er jetzt schon, und die Frage, ob sie ihre Wurzeln jemals gekappt hätten, stellte sich ihnen gar nicht. Sollten sie etwa darüber schwatzen, was sie die ganze Zeit über trieben, was aus ihnen geworden war, ob sie Familie hatten oder alleine lebten? Nils wog den Gedanken ernsthaft ab, blieb jedoch unschlüssig, und vor allem: Er verspürte keine Lust dazu. Stattdessen legte er sich auf den Rücken und rutschte mit den Füßen vom Bett weg. Die Arme streckte er zuerst in die Höhe, dann auf die Seite. Ja: Es war definitiv besser, hier zu bleiben.
Mit dem Gedanken, ob er Hunger oder eine leichte Magenverstimmung hatte, schlief er ein.


Klaus Ebner
Geb. 1964 in Wien, lebt in Schwechat. Studium der romanischen und deutschen Philologie. Autor von erzählender Prosa und Essays sowie Lyrik auf Deutsch und Katalanisch. www.klausebner.eu