LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Valentina Pirklbauer: Feurige Eismusik

Ich glaube die Welt wurde gerade in flüssigen Stickstoff getunkt. Sie steht still. Wie die toten, grotesken Augenhöhlen eines ausgemergelten Schädels blicken die leeren, dunklen Fenster der dreckigen Häuserblöcke teilnahmslos auf die ausgestorbene Gasse. Sogar die Schneeflocken hängen festgefroren in der Schwebe, alle Bewegung der Erde scheint sich in die Kälte des sternenklaren Himmels verflüchtigt zu haben. Schön scheint der Mond.

„Scheiß Vorweihnachtsangebote, ihr widerwärtigsten Engerlinge des gesamten, schleimigen Madentums! Hinterhältigste Würmer des Internetkosmos!“

Schreiend erzähle ich der Kälte von meiner Online-Buchung eines sagenhaft vielversprechenden Hofer-Wochenendtrip- Angebots vom Hofer in die Linzer Innenstadt. Jetzt steh ich hier in dem Kaff, das sich durch Zivilisationsferne und eiskalte Ungemütlichkeit auszeichnet.
Dann fluche ich nochmal. Verfluche heiser den Typen, der mich am Hauptbahnhof um meine Sporttasche bestohlen hat. Dabei bräuchten meine zitternden, fahrigen Hände jetzt ganz dringend die Zigaretten und mein liebstes Schatzi – das Beatles-Feuerzeug. Ich steh da, ohne Google Maps, meine verkümmerten Orientierungszellen von der klirrenden Eisluft zusätzlich beeinträchtigt, und muss schluchzend auflachen, als ich schließlich versuche, mich an den Sternen zu orientieren.

„Was gibt’s denn da zu lachen, der große Wagen wieder mal wo dagegen gedeppert? Passiert ihm in letzter Zeit öfter, ich glaube der Mond hat vergessen, sein Fernlicht auszuschalten heute!“

Ich hüpfe einen sportlichen Einmetersprung in die Luft.
Dann muss ich warten bis mein Herz wieder zu klopfen anfängt, denn es war von der grässlichlauten, stillezerfetzenden Stimme in einen effektiv-anhaltenden Schockzustand versetzt worden.

„Na, na - schrecken Sie sich doch ned so arg! Schalten’S auf gechilltes Stand-by, dann sparn’S Energie - die brauchen’S heut Abend noch. Minus 21 Grad sagt die Raika.“

Ich drehe mich um, sprachlos. Denn von der Akkumulation mehrerer, sicherlich ganz ungesunden Herzaussetzern der vorigen Schrecksekunden war ich redeunfähig geworden. Der Eisgraupel knirscht unter meinen Winterstiefeln und ich blicke auf die fröhlich blinkende Temperaturanzeige des Bankgebäudes gegenüber. Bedrohlich lange Eiszapfen betonen überheblich die Richtigkeit der Gradangabe.

„Der Gustl bin ich! Ich hab mir schon gedacht heute kommt gar niemand mehr vorbei hier. Drei zache Stunden her, dass da das letzte Mal jemand vorbeigehastet ist, gehen tut bei diesem Wetter eh fast niemand mehr. Alle freuen sie sich auf ihre warmen Stuben und den Vanillekipferln.“

Traurig starrt Gustl auf den am Boden festgefrorenen Hut vor ihm, ein Münzensammelsurium von mickrigen 70 Cent darin.

„Ja“, lacht er bitter, „weil sich die Geige andauernd mit der Kälte streitet. Sie ist verstimmt und launisch in letzter Zeit - dreizehn Jahre hab ich sie schon. Das müssen irgendwelche pubertären Wallungen sein“.

Einsam und verloren verklingt mein Lachen in der gefrorenen Luft, wandert die glatte Straße runter und fällt dort verausgabt in den Schneehaufen. Ich frage mich, wie man bei -21 Grad noch scherzen kann, in dieser modrigen, nach Urin riechenden, zigarettengrau gefärbten Häuserecke. Von welch sagenhaft magischbunten Ort seines Inneren mag Gustl diese farbenfrohen Humorschnipsel wohl aufklauben?

„Anke Emmerlich“, stelle ich mich plump vor, ihm die Hand reichend. Seine Finger sind blauschwarz. Der Händedruck dauert weit über 30 Sekunden, in denen Gustl so tut, als hätte er vergessen, meine Hand loszulassen. Er plaudert frisch weiter und ich weiß, dass er dabei so viel Wärme meiner noch halbwegs lebendigen Finger aufzusaugen versucht wie nur möglich. Wir reden uns die Kälte von den klammen, trockenen Lippen. So frieren sie nicht zusammen.

Es ist noch eisiger geworden. Wir reden jetzt nicht mehr, weil sich jeder mit den eigenen Zehen und Fingern beschäftigt. Ich weine nun seit einiger Zeit vor mich hin, Gustl weint auch. Es ist Medizin. Heilende, flüssige Wärme, die die erstarrten Wangen entlangfließt, wie glühendes Vulkaninneres.

„Tränen machen wach", sagt Gustl dumpf und hievt sich schwach in die Höhe. Er greift nach der Geige, dann hinter seinen Geigenkasten. Stöbernd kramt er verzweifelt nach Indefinitem. Es ist mir gleichgültig, alles nicht Hitzespendende ist mir gleichgültig. Gustl hat jetzt endlich aufgehört mit dem Gewühle. Er zupft an jeder Saite einmal. G, D, A, E. Er lauscht mit geschlossenen Augen. Was er wohl denkt?

Seine rechte Hand macht plötzlich eine Bewegung und ich spüre, wie sich Wärme auf meiner Nase ausbreitet. G, D, A, E, es war eine Verabschiedung gewesen.

„Geh du arges Eis!". Gustl wirft das Feuerzeug weg und Flammen lodern auf, verschlingen den dunklen, runden Holzkorpus der Geige. Orangerote Funken passieren wild tanzend die feurigen Pforten der F-Löcher. Stöhnend, sich vor der Hitze verbeugend, fällt die Holzdecke in sich zusammen und die Saiten reißen mit entsetzlichem Wehgeschrei. Gustl leidet stumm vor sich hin. Ich bin verstört und gleichzeitig beeindruckt angesichts so ausgeprägten Einfallreichtums.

„Eine Geige anzünden. Sowas fällt nicht mal den kühnsten, frustriertesten Musikschülern ein", vermute ich erschöpft. Mein kälteumnebeltes Gehirn, von noch vereinzelten Feuerknacksern vollkommen berauscht, wirbelt in den Traum.

Gleißend helles Tageslicht weckt mich auf, eine junge Schneedecke begräbt sanft die Aschereste einer Sündentat. Raika sagt -20 Grad. Heiße Wut auf das eisig beharrende, unausstehliche Ego des Winters wallt in mir auf. Da liegt der leere Geigenkoffer. Ich streichle tröstend über den einsamen Samt. Nackt und entblößt liegt er vor mir, dem Instrument beraubt. Daneben, Gustls Feuerzeug. Die Beatles lachen mir entgegen. Ich blicke mich staunend um. HA! Tatsächlich - meine gestohlene Tasche lehnt hinten am Geigenkasten! Eine volle Minute lang starre ich nur vor mich hin, dann wandern meine Augen zum friedlich schlafenden Gustl. Er hatte mir in der Nacht die wärmere seiner beiden Decken geborgt. Ich drehe mich um und starte Google Maps.

30 Minuten später biege ich schnaufend um die Ecke der Straße, die ursprünglich geplante Geldsumme für den Wochenendtrip nun in ein grandioses Gustl-Geschenk investiert. Eine Menschentraube bildet sich da vorne vor der Urinecke. Ich gehe beunruhigt schneller. Jemand schreit laut. Ich bin fast da, laufe nun.

„Ich bin da!“, rufe ich und drängele mich völlig verausgabt durch die stummen Leute. Gustl schläft noch immer. Schneeflocken haben sich in seinen krausen Barthaaren verfangen, wie fettige Vanillekipferlbrösel. Blau ist seine Nase, blau wie der schlagartig hellgewordene Himmel. Die frühmorgendlichen Wolken haben sich verzogen und die Sonne scheint warm.

„Tot!“, schreit ein stehengebliebener Passant. Irgendjemand telefoniert hektisch, da drüben erbricht sich jemand in den Schneehaufen. Ich hole Gustls Geschenk aus dem Koffer und zupfe ihm ein Abschiedslied. G-D-A-E. „Gustl, Danke. Anke Emmerlich“.

 

Valentina Pirklbauer
Studiert Lehramt Deutsch und Biologie auf der Universität Wien und schreibt in ihrer kleinen Studentenheimkemenate Kurzgeschichten und Gedichte. Wenn man sie nicht in den Parks beim Spazierengehen trifft, so findet man sie im Studentenheimkeller, im Musikraum, wo sie Geige und Klarinette spielt.
pirklvali@gmail.com