Sabine Brandl: Hemingway

Sabine Brandl
Hemingway


Mein Schreibtisch spricht mit mir. Schon seit Wochen. Anfangs nur selten, da waren es lediglich kurze Hinweise und Erinnerungen, die er kundtat: Es ging um Abgabetermine, die es einzuhalten galt, Mails, die ich zu beantworten hatte, oder schlicht darum, dass ich ihn mal wieder aufräumen und abwischen sollte. Er mag es nämlich gar nicht, wenn kleine Dinge wie Büroklammern auf ihm liegen oder gar Staub oder Dreck. Er sagt, das jucke ihn. Krümel hasst er am meisten. Deshalb esse ich auch nichts mehr, während ich an ihm sitze. Meine Brotzeit mache ich nur noch in der Küche, Chips und andere Knabbereien gibt es ausschließlich am Wohnzimmertisch.
Seit einigen Tagen ist mein Tisch deutlich penetranter. Er redet jetzt fast nonstop – von morgens bis abends. Meint, er sei ein großer Literaturkenner, kritisiert und mäkelt an meinen Werken herum. Eigentlich ist das, was er sagt, gar nicht dumm, gerade wenn er mir Formulierungshilfen gibt, etwa Synonyme vorschlägt, um Wortwiederholungen zu vermeiden, oder zu kompliziert gebaute Sätze auflöst. Und wenn er in meinen Texten Kürzungsbedarf anmerkt, hat er meistens ebenfalls recht. Doch mittlerweile kommentiert er sogar Sachen, die ihn gar nichts angehen, die überhaupt nicht in seinem Bereich liegen. So meint er zum Beispiel, ich solle Sport treiben, mich besser ernähren und früher zu Bett gehen. Ja, mein Schreibtisch ist so etwas wie eine mahnende Instanz für mich geworden, die über mich wacht, mich zurechtweist und kontrolliert. Und das auf eine sehr aufdringliche und oft ungebührliche Art. Ständig dieses: »Hallo Achim! Hier wartet Arbeit, nun komm schon, du Faultier! « Oder: »Achim, geh doch mal eine Runde joggen! Du wirst immer dicker.« Oder gar, wenn ich an ihm sitze und tippe: »Nein, Achim! So kannst du das nicht schreiben! Da schlafen einem ja die Füße ein!«
Wenn ich mich dann verteidige und protestiere, reagiert er entweder gar nicht darauf, oder er lacht nur. Und dieses arrogante Lachen nervt mich am meisten. Es ist so frech – so respektlos! Mein Schreibtisch ist einfach total überheblich, er hält sich für den Schlausten und Besten, glaubt, er habe einfach immer recht. Außerdem habe ich Sorge, verrückt zu werden: Seinen Schreibtisch sprechen zu hören, das ist schon nicht ohne, oder?
Aber ich glaube: Mein Tisch spricht wirklich. Es liegt nicht an mir, es liegt an ihm. Um zu überprüfen, ob das stimmt, habe ich gestern Olaf zu mir eingeladen. Ich wollte wissen, ob er den Tisch auch reden hört. Doch kaum war mein Kumpel im Haus, war der Tisch mucksmäuschenstill. Immer wieder habe ich irritiert zu ihm rübergeguckt, während mir Olaf irgendwelche Storys – über seinen angeblich so gewitzten Chef, seine etwas chaotische Freundin oder die neusten Macken seines Autos – erzählt hat. Doch der Tisch hat einfach nichts gesagt, nicht einmal ganz kurz, nicht einmal gezischt oder geflüstert. Er stand einfach nur stumm da. Als wäre er ein ganz normales Möbelstück. Um ihn herauszufordern, habe ich kurz meine Cola auf ihm abgestellt und dabei einige Tropfen verschüttet (auch das hasst er nämlich). Und dann habe ich sogar noch Chips-Krümel auf ihm verstreut, ganz unauffällig, im Vorbeigehen – doch selbst so habe ich ihn zu keinerlei Gemecker verleiten können. War doch ich es, mit dem etwas nicht stimmte – und nicht mein Schreibtisch? Dieser Gedanke setzte sich fest, wurde immer dominanter, ganz automatisch blickte ich immer häufiger zum Schreibtisch, hörte Olaf weniger zu.
»Sag mal, ist mit dir alles okay?«, fragte Olaf irgendwann. »Hast du noch zu tun? Du schaust ständig zum Computer rüber.«
»Nein, nein«, erwiderte ich hastig. »Tut mir leid, ich höre dir schon zu. Erzähl weiter. Was hat dein Chef dann gesagt?«
»Mein Chef? Zu meinem Auto?«
»Ja, nein … ich meine … entschuldige …«
Olaf lächelte. »Schon gut. –
Als ich dann also in der Werkstatt war …«
Ich zwang mich dazu, seinen langwierigen Ausführungen ab jetzt aufmerksam zu lauschen. Doch Olaf merkte wohl, dass ich auch weiterhin nicht ganz bei der Sache war. Kaum hatte seine aktuelle Story ein Ende gefunden (zumindest vermute ich das), sagte er: »Ich geh jetzt, Achim. Du wirkst heute so abgelenkt. Ich komme lieber ein anderes Mal wieder, wenn du den Kopf wieder frei hast. Ist aber okay: Ich weiß ja, ihr Schriftsteller schwebt öfter mal in anderen Sphären.« Er zwinkerte mir zu. Doch es wirkte nur halb aufrichtig.

Als Olaf weg war, fing der Tisch sofort wieder an zu reden, und natürlich meckerte er. Wie langweilig mein Freund doch sei – schon als Person und erst seine Geschichten! Dann forderte er plötzlich einen eigenen Namen. Ich hätte einen, mein Freund Olaf habe einen, wohl alle sprechenden Wesen hätten einen Namen, und selbst viele Nichtsprechende. Egal wie unwichtig und kleingeistig sie seien. Aber er nicht. Das könne so nicht bleiben. Ohnehin nicht underst recht nicht, wo er doch so einzigartig sei, so begabt und klug.
»Na gut«, knurrte ich. »Dann nenne ich dich eben Horst. Oder Hans? Mir doch egal.«
Er schwieg. War er beleidigt? Dachte er einfach nur nach?
Wohl eher letzteres, denn wenig später sagte er in aufgeräumtem Ton: »Nenn mich Hemingway! Einfach nur Hemingway, ohne Ernest. Als Künstlername. Cher heißt ja schließlich auch nur Cher.«
»Von wegen Hemingway! Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist? Und warum hast du nicht gesprochen, als Olaf dagewesen ist?!«
Da lachte er wieder nur. Laut und gehässig. Wie ich das hasse! Sein dreistes Wiehern und dass er nie antwortet, wenn er nicht mag, gar nicht darauf eingeht, wenn ich ihn mal zur Rede stellen will – als wäre das ganz egal und seiner ohnehin nicht würdig. Ich brüllte: »Sei endlich still, du hässlicher Klotz!« Doch sein Lachen wurde nur noch lauter und schallender. Wutentbrannt sprang ich auf und ging stampfend Richtung Garage, um die Säge zu holen, den großen Fuchsschwanz. Als ich zurückkam, ließ ich das Sägeblatt bedrohlich schnalzen; es machte dabei ein sogar für mich schauriges Geräusch. Wie musste sich da erst der Tisch fühlen? Dann stellte ich die Säge auf dem Schreibtischstuhl ab, also genau vor ihm, ganz demonstrativ. Mit drohender Stimme sagte ich: »So, mein Freund. Ich bin jetzt eine Weile weg. Wenn ich zurückkomme, benimmst du dich. Quassel nicht ständig auf mich ein und lache nie mehr – hörst du mich? – nie mehr so hämisch wie eben! Sonst säge ich dir deine Beine ab, eins nach dem anderen, und schließlich deine Platte in der Mitte durch – und dann werfe ich deine Einzelteile auf den Sperrmüll!« Ich grinste fies. Der Tisch, der längst nicht mehr lachte, jaulte laut auf und fing an zu protestieren. Ich unterbrach ihn: »Nachdem du ja nur sprichst, wenn wir beide alleine sind und dich somit sonst keiner reden hört, muss ich wohl davon ausgehen, dass ich mir dein Gerede nur einbilde. Da hab ich dann auch kein schlechtes Gewissen, wenn es darum geht, dich zu zersägen: Du bist ja nur ein Ding, geist- und gefühllos – also letztlich ein Nichts.« Ich ging in den Flur, zog mir Schuhe und Jacke an und wandte mich dann noch einmal an mein irres Möbelstück, den größenwahnsinnigen Schreibtisch, den selbst ernannten Hemingway. »Servus Tisch«, sagte ich. »Nutze die Zeit zum Nachdenken!«, dabei zeigte ich auf den Fuchsschwanz. »Ich meine es ernst.« Dann verließ ich das Haus. Mein Weg führte mich an den Tresen einer Kneipe, wo ich meine Wut mit einigen Bieren und Schnäpsen hinunterspülte. Als ich spätnachts nach Hause kam, mied ich das Wohnzimmer. Ich ging nur kurz ins Bad, zog mich im Schlafzimmer aus und warf mich dann gleich aufs Bett. Am nächsten Morgen erwachte ich leicht verkatert und mit extrem mieser Laune. Ich duschte kalt, zog mich an und ging in die Küche, wo ich Kaffee aufsetzte. Dann saß ich eine Weile missmutig am Küchentisch, trank das schwarze Gebräu und dachte nach. Von meinem Schreibtisch im Zimmer nebenan war nichts zu hören. Doch der würde schon wieder loslegen, wenn er mich sah, da war ich mir sicher. Ich würde es ihm heute aber beweisen, dass er gar nicht so wichtig war, wie er glaubte, dass ich auch ohne seine Belehrungen auskam!
Nach zwei Tassen Kaffee war ich bereit. Ich betrat das Wohnzimmer. Mein erster Blick galt dem Schreibtisch. Doch der sagte noch immer nichts, wirkte wie tot. Zielstrebig ging ich zum Schrank und holte mein Netbook hervor. Dann trat ich vor Hemingway. Ich nahm die Säge vom Stuhl, stellte sie auf dem Boden ab und steckte den USB-Stick in den Computer. Als ich gerade mein aktuelles Romanmanuskript darauf abspeicherte, erwachte mein Tisch zum Leben.
»He Achim, he, was machst du da? Was soll das?«
»Ich werde meine Arbeit jetzt in die Küche verlegen. Damit ich mir dein ewiges Gemecker und dein boshaftes Lachenicht mehr anhören muss!«
»Was? Du hast sie doch nicht mehr alle!« Er kicherte leise. Es klang aber eher scheu und verunsichert, nicht höhnischdominant, wie ich zufrieden feststellte. Nun sitze ich seit Stunden am Küchentisch vor dem Netbook und nichts will mir gelingen. Ich grübele und fische im Nirgendwo nach Ideen und Wörtern, aber es ist sinnlos. Mein Kopf ist einfach nur leer und lahm. Nein, das liegt nicht am Kater oder an meiner schlechten Stimmung, es liegt ganz eindeutig am Tisch. Seit Hemingway über mich wacht und mich antreibt, habe ich fast einen ganzen Roman geschrieben, ich habe mehr als dreihundert Seiten innur fünf Wochen getippt – und in Reinform gebracht! Jetzt fehlen nur noch die letzten zwei Kapitel. Doch ohne ihn … da bekomme ich wohl nicht mal ein paar wenige vernünftige Sätze hin. Völlig frustriert betrete ich am späten Nachmittag das Wohnzimmer. Hemingway schweigt. Ich gehe zu ihm, hebe die Säge vom Boden auf und trage sie zurück in die Garage. Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, höre ich ihn leise kichern. »Na, du genialer Schriftsteller? Was macht die Muse?« Ich reagiere nicht auf seine Provokation, setze mich vor ihn und öffne die Manuskriptdatei am Computer. Dann beginne ich still zu grübeln. Mein Romanheld steckt gerade ziemlich in der Klemme. Hemingway ist jetzt ebenfalls ruhig. Denkt er mit mir gemeinsam nach? Oder streikt er? Die Stille dauert verdächtig lange, normalerweise hat Hemingway doch immer schnell Ratschläge und Kritik parat. »Jetzt hilf mir halt«, sage ich irgendwann. »Putz mich meinetwegen runter, meckere und lache mich aus, wenn es sein muss. Aber tu endlich was, damit ich hier weiterkomme!« Ein zufriedenes Grunzen. »Du scheinst mich zu brauchen, was?«
»Ja, schon gut. Mag sein. Aber gleichzeitig gehst du mir tierisch auf die Nerven.«
»Ich weiß. So ist das eben. Du nervst mich ja auch mit deiner geistigen Schwerfälligkeit und Sturheit. Und nie zeigst du dich dankbar – als sei alles, was ich für dich tue selbstverständlich, als sei das mein Job. Aber ich muss das nicht tun, ich helfe dir stets freiwillig, das ist dir doch klar?« Ich denke an die Säge und daran, dass ich ihn damit durchaus zur Arbeit zwingen könnte, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. Schriftstellerei darf keine Zwangsarbeit sein. Dazu braucht es freie Hingabe und Muse.
»Ja, schon gut. Du könntest trotzdem freundlicher sein.«
»Du auch. Also los – nun konzentrier dich mal richtig auf den Text!«
Sein Tonfall ist barsch und herrisch, was mich sofort wieder ärgert. Aber zugegeben – es motiviert mich auch. Ich lese die letzten Zeilen auf dem Bildschirm noch einmal durch. Dann bewegen sich meine Finger zögerlich über die Tastatur. Kurz darauf höre ich ihn: »Die Metapher funktioniert so nicht, du Dummkopf. Wir sind jetzt beim Magen – und der ballt sich meinetwegen zur Faust. Aber der brennt doch nicht, das war vorhin sein Herz!« Ich seufze, geplagt und erleichtert gleichermaßen. »Danke.«
Es ist das erste Mal, dass ich mich bei Hemingway bedanke. Und ich meine tatsächlich ein leises wonniges »mhm« als Reaktion zu vernehmen.


Sabine Brandl
Geb.1977 in München, schreibt seit ihrer Jugend Lyrik und Prosa. 2004 gründete sie den Künstlerverein REALTRAUM e.V., dessen Vorsitzende sie ist. Veröffenlichte in den letzten Jahren zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte in Anthologien und Zeitschriften. Bestritt mehr als 100 Lesungen. Abeitet als Herausgeberin für verschiedene Buchprojekte. Durch zahlreiche kulturelle Aktivitäten hat sie in der Münchner Kulturszene sowie der deutschen lesbischen Literaturszene einen Namen. Ihr vierter Liebesroman „Sektflöte und Pommesgabel“ erschien Anfang 2020 im Main Verlag.