Stein / Etcetera 89 / Prosa / Karin Leroch: Reinhart Steinhart

Reinhart Steinhart wurde geboren. Dies war seine erste Begegnung mit Druck.
Seine Mutter fand das Gewicht des Babys zu beschwerlich und hängte es dem Vater auf den Rücken. Dieser konnte nicht viel Zeit erübrigen, sie besaßen eine Druckerei und er arbeitete bis spät nachts.
Reinhart wurde zu einem Kind, das gerne allein spielt. Zum zweiten Geburtstag bekam er einen kleinen Rucksack, den er sich auf den Rücken schnallte und nur noch zum Schlafen ablegte. Niemand durfte hineinsehen, er begann zu schreien, wenn seine Mutter den Reißverschluss öffnete, und so ließ sie es bleiben.
„Er ist irgendwie eigenartig. Hätten wir ihn anders nennen sollen?“
„Wieso?“ fragte der Vater.
„Nun ja, Rein… hart. Er tut sich etwas hart. Dieser Sack, den er da immer mitschleppt, ich weiß nicht ...“
„Lass ihn. Zusätzliches Gewicht trainiert die Muskeln.“

Als Reinhart älter wurde, tauschte er den Rucksack gegen einen größeren. Seine Mutter fand, er sah aus wie ein Einsiedlerkrebs, der seinen Hinterleib in einem Schneckenhaus verbirgt. „Drückt der Rucksack dich nicht?“
„Ich mag das. Außerdem habe ich so immer alles bei mir“, antwortete er und holte ein hartes Ei und etwas Steinobst heraus.
Einen Freund hatte er, Hartmuth. Dieser trug immer eine weiche Decke bei sich, genau wie Reinhart seinen Rucksack.
Trotz dieses Gegensatzes verstanden sie einander ohne viele Worte.
Reinhart hatte auch Feinde: Zwei Mitschüler, Manni und Mo, fühlten sich von dem Rucksack provoziert. Sie überfielen Reinhart aus dem Hinterhalt, klemmten ihn mit den Knien fest, rissen den Sack von seinen Schultern und öffneten ihn. Manni kramte darin herum, Schätze erhoffend oder unsäglich peinliche Geheimnisse.
„Was ist drin? Sag schon!“, forderte Mo.
Aber Manni, sein Gesicht fast im Sack verschwunden, murmelte. „Ach, nichts Cooles, nur Mistkram.“ Er warf den Rucksack plötzlich weit von sich, gab Reinhart eine Kopfnuss und machte ab sofort einen großen Bogen um ihn. Mo erfuhr nie den Grund dafür.
Die Mädchen betrachteten Reinhart aus weiter Entfernung.
Die Distanz blieb auch in seinen Teenagerjahren trotz starker Druckgefühle aufrecht und wurde von keiner der beiden Seiten überwunden. Bis Hildegart kam und seinen Rucksack streichelte. Sie war es gewöhnt, Last auf ihren Schultern zu tragen, weil sie ihre Großmutter betreute. Im Grunde ihres Herzens verstand sie Reinhart.
Sie wurde seine Gefährtin, wenn er ihr das auch nicht leicht machte.
„Komm mit zum Teich, Reinhart! Schwimmen!“
„Ich kann doch nicht mit dem Rucksack.“
„Leg ihn ab.“
„Ich muss ihn erst aufräumen.“
Er blieb am Teichufer sitzen und sortierte den ganzen Nachmittag den Rucksackinhalt. Hildegart blickte ihm über die Schultern und sah Gegenstände, schwarz, grau, fleischfarben, undefinierbar. Sie wuschelte seine Haare und sprang ins Wasser.

Nach dem Schulabschluss fand Reinhart eine Anstellung bei einem Outdoor Equipment Hersteller in der Buchhaltungsabteilung. Zahlen waren für ihn gut zu bewältigen.
Er addierte sie, subtrahierte sie, verglich sie, versteckte sie und fand sie wieder, potenzierte sie und brach sie.
Auf seinen Wunsch wurde er jedoch in den Außendienst versetzt. Ab sofort fuhr er mit Mustern von Rucksäcken, Schlafsäcken und Zelttaschen zu Händlern und Warenhäusern.
Seine Verkaufszahlen waren unerreicht, denn in den Verkaufsgesprächen ließ er keine andere Meinung zu als jene, dass jeder Mensch nur mit Rucksack komplett war, wobei dieser Rucksack als Körperteil zu verstehen war.
Zum Jubiläum seiner zwanzigjährigen Dienstzugehörigkeit bekam er einen Drehstuhl mit ergonomisch freigelassenem Raum in Rucksackhöhe.

Hildegart und er pflegten eine Living-apart-together Beziehung. Sie wohnte in der Wohnung ihrer nun verstorbenen Großmutter, er lebte mit seinem Rucksack zusammen. Selbst Hildegart zog sich zurück, wenn er das Ding von seinem Rücken nahm und darin zu suchen begann. Er holte Dinge heraus, legte sie auf, betrachtete sie lange, redete mit ihnen, küsste sie, tätschelte sie, seufzte in sie hinein, stopfte sie wieder zurück, und alles begann von vorne.
Einmal wurde Reinhart krank. Der Hausarzt schickte ihn zur Magnetresonanztomographie, und, den Befund in Händen, sprach er ein gewichtiges Wort. „Sie müssen sich entlasten. Sonst sieht es nicht gut für Sie aus. Da wächst etwas in Ihnen, das Sie umbringen kann, auch wenn es eindeutig psychosomatischen Ursprungs ist. Es hat sogar eine Entsprechung außerhalb Ihres Körpers.“
Der Arzt blickte bedeutungsvoll auf Reinharts Rucksack.
Hildegart las den Befund und machte sich Sorgen. Ihr war aufgefallen, dass eines der Dinge in dem Rucksack ungewöhnlich groß war.
„Wirf das weg, das ist doch zu schwer!“, sagte sie.
„Jaja, irgendwann hole ich es raus.“
„Nicht irgendwann! Jetzt! Das ist idiotisch! Warum hängst du überhaupt so an diesem Rucksack?“ Die Sorge machte sie wütend.
„Nicht so!“, warnte er. Trotzdem dachte er lange und grundlegend nach. Endlich fischte er das große Ding heraus, schleppte es hinunter in den Müllraum und warf es weg.
„Mir fällt ein Stein vom Herzen!“, seufzte Hildegart.
Heimlich ging sie nachsehen, woraus das Ding eigentlich bestand. Sie fand einen harten, schweren Klumpen, rosagrau gebändert. Reinhart ging es ab sofort besser.

Die Zeit lief davon, Reinhart wurde alt und Hildegart hörte nicht mehr gut. Nur gelegentlich traf Reinhart sich noch mit seinem alten Freund Hartmuth, der, anders als Reinhart den Rucksack,
seine Decke noch in der Jugendzeit abgelegt hatte.

Es war eine warme Sommernacht, als Reinhart sich zu einem späten Spaziergang aufmachte. Auf dem Hügel am Rande der Stadt begann ihn der Rucksack zum ersten Mal zu stören. Er musste sich auf den Rücken legen, um ihn abwerfen zu können.
Als er sich aufrichtete, merkte er, wie seine Wirbelsäule sich geradebog wie eine junge Feder, weil der Druck auf seinen Rücken fort war. Vorsichtig dehnte und zog er sich in alle Richtungen. Er fühlte sich locker und elastisch und vor allem so groß wie nie zuvor!

Die Nacht kitzelte ihn unter der Haut. Reinharts Arme flogen wie Vögel in die Höhe. Er drehte sich im Kreis und kickte seine Beine, und traf irrtümlich dabei den Rucksack, der sofort den Hügel abwärtsrollte. Der Wind fuhr unter Reinharts Hemd und blies es auf, und wie ein Ballon stieg Reinhart in die Höhe und flog mit weit ausgebreiteten Armen über den Hügel, die Felder, über die Stadt.
Immer weiter, höher, bis in die Wolken, wo er durch Reibung ein Gewitter verursachte. Blitze erleuchteten den Himmel, Donner krachte und Hagelkörner schossen zur Erde.
Sie waren alle hart. Durchsichtig, rein, hart. Steinhart.

 

Karin Leroch
Geboren 1963. Lebt und arbeitet in Wien. Besuch des Lehrgangs des Berufsverbandes Österreichischer Schreibpädagogen (BÖS). Veröffentlichung des Kurzromans „Die Saat“ beim Verlag Ohneohren. Veröffentlichungen in Anthologien und in den Zeitschriften „Etcetera“ und „DUM“