Stein / Etcetera 89 / Prosa / Wolfgang Eicher: Vom Werfen mit Steinen ins Wasser

Das Wesen von so manchen Dingen ist überall auf der ganzen Erde das gleiche. Uralt geistern einige Sachen durch die Generationen, ohne Zutun gehen sie von alt auf jung über. Oder aber man weiß überhaupt nicht, woher sie immer wieder an der Oberfläche des alltäglichen Passierens erscheinen, plötzlich ist eine Handlung da, die von einem Geist gesteuert wird, der über alle Erdteile herrscht.

Überall auf der Erde werfen Kinder Steine ins Wasser.

Meistens sind es die ganz Jungen, die Vier-, Drei-, oder Zweijährigen, die die gerade die Welt und ihre Wunder entdecken, sie können kaum gehen, schon werfen sie Steine ins Wasser. Einfach so. Auf der ganzen Welt. Zum Erobern der kindlichen Wirklichhkeit gehört es, Steine ins Wasser zu werfen. In Flüsse. In Seen. Oder ins Meer. Wenn dann der Stein geschmissen ist, in der Tiefe des geheimnisvollen Wassers verschwunden, werden die Kreise bewundert. Vielleicht sind es die Kreise, die dazu führen, dass Steine ins Wasser geworfen werden. Die
Kreise nämlich sind sehr viel größer als die Steine. Schon ein winziger Stein verursacht heftige Bewegungen an der Oberfläche des Wassers. Die Kreise weiten sich aus, werden immer größer, nur das Ufer kann diese Ausbreitung stoppen. Die Kreise geraten ineinander, wenn zwei Steine gleichzeitig geworfen werden. Die Kreise erzeugen eine beeindruckende Geometrie. Dem allem zuzuschauen ist beeindruckend, faszinierend und prägend. Überall auf der Erde.

Überall auf der Erde versuchen Eltern, ihre Kinder daran zu hindern, Steine irgendwohin zu werfen. Als es noch kein Eisen gab, wurden Steine als Waffen benutzt. Steine können töten. Durch das Werfen von Steinen kann Blut und Wut verursacht werden im Kampf der Kinder um die Eroberung der Welt. Das unschuldige Spiel der Kinder wird von einem auf den anderen Moment zum tragischen Ernst, wenn ein Stein dort landet, wo er nicht landen soll. Überall auf der Welt versuchen Eltern vergebens, ihre Kinder daran zu hindern, Steine ins Wasser zu werfen. Die Steine landen im Wasser. Sie müssen geworfen werden. Die Kreise sind ganz wichtig.

Als ich ein Kind war, habe ich viele Steine ins Wasser geworfen.

Leider lebte ich nicht direkt am Wasser. Aber da gab es diesen riesigen See in der Nähe, dort kam ich öfters hin. Und immer sofort musste ich, gerade erst angekommen an diesem magischen Ort, meine Steine in den See werfen, damit die dadurch entstandenen Kreise mir das Wesen des Wassers eroberten.
Das Wesen des Wassers fasziniert jedes Kind. Die Strömung, die durch die Hand fließt, meist kalt an heißen Sommertagen, das Hinausschauen, das Begreifen des Wortes Unendlichkeit beim Fixieren des Horizonts am Meer, das Nichthinkommenkönnen in die geheimnisumwitterte Tiefe unter dem Wasserspiegel, und irgendwann dann doch, wenn man das Tauchen erlernt hat, und natürlich das Werfen der Steine und Studieren der Kreise.
Kleines Ereignis, große Wirkung!
Ich bin durch die Schule des Wassers gegangen. Ich habe im Wald im Bach Staumauern gebaut und in die entstandenen Seen Fische, irgendwo gefangen, lebend hineingeworfen. Die verendeten dann. Später waren meine Kreise weiter. Dem Wesen des Wassers folgend erforschte ich immer größere Gewässer, weiter entfernt von meinem Heimatdorf, bis ich zufällig an einen Ort geriet, wo ein kleiner Fluss gerade einen Mäander durchbrochen hatte.
Dort begriff ich das Prinzip Mäandrieren, wie es funktioniert und passiert, wenn man dem Fluss seinen Willen lässt.

Ich habe viele Steine in diesen Fluss geworfen.
Auch später.
Auch jetzt noch.

Irgendwann zeigte mir irgendwer, wie man einen Stein, der jedoch schon eine bestimmte Form haben muss, in den See wirft, und der dann nicht gleich untergeht, sondern wieder heraus kommt! Ein schwerer Stein, den man ins leichte Wasser wirft, verschwindet nicht gleich in der Tiefe, sondern kommt zwei-, drei-, viermal oder noch öfter auf der Oberfläche des Wassers zurück, und macht eine Kette von Kreisen. Man nennt diese Tätigkeit Platteln. Ich übte das Platteln. Oft war es ein wenig frustrierend, weiles nicht immer funktioniert, aber ich wurde schließlich so gut darin, dass mein Rekord bei etwa fünfzehn Aufschlägen mit einem einzigen Stein lag. Der Stein schwamm praktisch auf dem Wasser, bevor er dann, wie alle anderen
Steine auch, unterging, in den Abgründen des schönen Gewässers verschwand.

Ich plattelte überall, wo es möglich war, und beeindruckte damit meine Freunde. Ich verriet ihnen den Trick, wie ich es tat, nämlich mit dem Zeigefinger dem Stein im letzten Moment vor dem Verlassen der Hand gegen die Flugrichtung eine Drehung zu versetzen. Viele Jahre zuvor hatte mir jemand dies gezeigt.
Mit den Jahren erhöhten sich weiter meine Möglichkeiten von Mobilität. Schließlich plattelte ich ins Meer hinaus. Am Meer muss man aufpassen beim Platteln, in welche Richtung der Stein fliegt, damit er nicht einen Schwimmer am Kopf trifft. Die Richtung zu kontrollieren ist jedoch nahezu unmöglich beim Platteln, da man sich auf die Rotation des Steines konzentrieren muss. Einige Steine näherten sich den Schwimmern bedenklich nahe, bis ich es nicht mehr wagte, das Platteln am Meer. Zu viele Schwimmer. Nur wenn es ganz ruhig dalag, das Meer, und zu kalt um sich darin aufzuhalten, im Oktober an der Ostsee zum Beispiel, da war es optimal, das Platteln am Meer. Das war sehr schön.
Übrigens kann man weit- oder hochplatteln. Beim Hochplatteln am mäandrierenden Flüsschen zuhause versuchte ich manchmal, mit dem Stein Hindernisse zu überwinden, unterspülte und dann ins Wasser hineingestürzte Bäume oder gerade entstandene kleine Inseln zum Beispiel. Manchmal gelang das. Manchmal landete der Stein auch wieder auf einer anderen Schotterbank, um erneut auf das Platteln zu warten.
Ich glaube, den Steinen gefällt es, geplattelt zu werden. Selbst wenn sie nach dem Platteln in den Tiefen der Gewässer verschwinden, muss das Gefühl des Geplatteltwerdens schön sein. Für einen Stein gibt es keine andere Möglichkeit, eine Weile auf dem Wasser zu schwimmen, es sei denn, er wäre ganz unfrei an etwas Schwimmendem montiert. Steine sind jedoch ganz freie Wesen. Die wollen nicht fixiert werden. Oft harren sie zwar jahrzehntelang am selben Ort aus, mit viel Geduld ausgestattet, aber ganz so bewegungsunfähig sind sie gar nicht. Besonders, wenn sie geplattelt werden, geraten sie nach dem Absinken in die Tiefe der Gewässer in Strömungen unter der Wasseroberfläche, die sie über die Zeit recht weit bewegen können. Vielleicht gefällt es einem Stein im Wasser weit besser, als am Land zu sein, wo man sie ständig mit Füßen tritt.

Ich weiß nicht, ob das Platteln eine weltweite Selbstverständlichkeit ist, ob es überall gemacht wird, oder sich auf gewisse Kulturkreise beschränkt. Ich weiß aber von den Kindern der Welt, die überall Steine ins Wasser werfen, und das, ohne dass es ihnen vorgezeigt wird. Die Weltreisenden unter meinen Freunden und Bekannten haben mir das erzählt. Ihren Beobachtungen vertraue ich. Meine eigenen Beobachtungen von Steine schmeißenden Kindern beschränken sich auf Europa.
Natürlich muss man den Kindern beibringen, dass sie nicht mit Steinen auf andere Menschen zielen sollten, aber das Werfen von Steinen ins Wasser empfinde ich als wichtige Erfahrung eines Kindes, wenn es die Welt entdeckt. Das sollte ihm nicht genommen werden durch inflationäres Schimpfen.
Durch das Werfen von Steinen ins Wasser entwickelt sich im Kopf eines Kindes die Fantasie einer großen Welt, die schön ist. Als Erwachsener kann man das nicht nachvollziehen.
Das Kind empfindet die Kreise lebendig und erfährt eine Geometrie des Daseins. Als Erwachsener könnte man die Kinder beobachten, wie sie Steine ins Wasser werfen. Man würde viel lernen dabei.

 

Wolfgang Eicher
Wurde am 1975 in eine ländliche Welt hineingeboren. Während seiner Ausbildung zum Landwirt fand er 1991 einen Ausweg im Schreiben. 1998 begann er in Wien die Studien Vermessungswesen und später Raumplanung. Ohne Abschluss landete er immer wieder in seinen Romanen. 2016 wurde im Berliner Verlag duotincta sein Roman „Die Insel“ veröffentlicht. 2017 folgten „Frötsch“ und „freiheitsstatue“.
wollviehoki@hotmail.com