Marjana Gaponenko: Über die Vorstellungskraft. Eva Riebler
Über die Vorstellungskraft
Marjana Gaponenko
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Anlässlich der Präsentation des Debütromans Annuschka Blume im Residenz Verlag besuchte die 1981 in der Ukraine geborene Autorin Marjana Gaponenko im Sept. 2010 St. Pölten, Paudorf und Wien. Eva Riebler führte mit ihr folgendes Gespräch. (Zur LitGes-Rezension)
Ist Drüben, im Sinne dieses Ihres Werkes, das Irreale, das Erdachte - oder sind die Briefe tatsächlich zwischen den beiden Protagonisten Ihres Romans gesandt worden? Die Vorstellungskraft der Heldin ist so groß, dass sie nur erdacht sein können.
Drüben ist für mich genauso „hier“ und genauso real wie das Sichtbare und Greifbare unmittelbar um mich herum. Meinen beiden Helden im Buch geht es nicht anders. Annuschka und Piotr scheint es nur im Kontext meiner Geschichte zu geben, doch, so unwahrscheinlich wie es klingt, sind sie für mich inzwischen lebendiger als ich selbst in meiner eigenen Wahrnehmung. Wer von uns ist erdacht? Im Sinne von Annuschka gibt es drüben, solange man daran glaubt. Der Leser soll schließlich entscheiden, ob es die beiden wirklich gegeben hat oder nur Annuschka oder nur Piotr und wer von den beiden Briefe geschrieben hat. Mein Versuch bestand hauptsächlich darin, alle möglichen und unmöglichen Grenzen zu verwischen, ganz leise an den eingebrannten Denkkategorien zu rütteln.
Der Stil des Werkes erinnert mich an pädagogisch wertvolle Märchenerzählungen. Es ist sehr viel Lebensweisheit in die Briefe verpackt. Die Gedanken sind dermaßen philosophisch durchsetzt, dass sich die Frage aufdrängt, ob Sie Philosophie studiert haben oder großes Interesse dafür zeigen.
Ich glaube nicht, dass man sich für Philosophie interessieren kann. Sie ist eine Daseinsform und keine Aktivität. Das Schöne ist, dass sehr viele bis zum Schluss gar nicht merken, dass sie durch und durch Philosophen sind. An den großen Fragen der Menschheit kommt man unmöglich vorbei. Kaum hat man als Kind ein Märchen gehört, hat man seine Seele der Philosophie verschrieben.
Ja, der denkende, reflektierende Mensch kann nicht auf sein Ziel einfach lossteuern, er muss wie die Hauptfiguren kontemplatorisch versuchen, den Sinn des Lebens zu ergründen. Wie nahe kommen die beiden diesem Sinn?
Der Sinn des Lebens? Ich fürchte, ihn zu finden, war nie wirklich in ihrem Vorhaben. Ihre Suche war ein erschöpfender, befreiender, delirischer und glasklarer Tanz um diesen Sinn. Dabei war er ihnen näher als ihre Beine oder Arme. Ich möchte Annuschka zitieren: Das hätten Sie sehen müssen! Wie das Boot den Flussvorhang hob, ohne ihn zu lüften, eine Umarmung, die nichts wollte, die perfekt war in ihrem Nichtwollen. So könnte es dem durstigen Suchenden eines Tages gelingen, in das Mysterium einzudringen. Plötzlich wird er den Vorhang lüften, ohne ihn zu heben, und da sein, wo er schon immer war. Die Ferne fällt raschelnd ab, und der wahre Glaube blitzt auf, heller als alles, war er zuvor gesehen hat.
Beim Lesen Ihres Romans denke ich stets an Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck oder Joseph von Eichendorff. Der Sprachduktus sowie das Einflechten von Gesängen und Liedern oder der Geschichte vom zahnlosen Schmied oder der vom Pilz Pawlo wirken so sehr der Romantik verhaftet. Die Erzählkunst des 19. Jahrhunderts weht mich an.
Ich komme aus einem Kulturkreis, in dem das Romantische keinen schweren Beigeschmack hat und nicht belächelt wird. Es wird weder mit dem Pathos noch mit dem Drama noch mit etwas Altmodischem, Unnatürlichem oder Infantilem assoziiert. Ich glaube, wenn das Romantische geschieht, wird es kaum wahrgenommen, so sehr ist es mit dem Leben verknüpft. In meinem Roman habe ich versucht diese Romantik des 19. Jahrhunderts mit Humor und einer Portion Philosophie zu verfeinern.
Und ich hoffe, es ist mir dadurch ein bisschen gelungen den westeuropäischen Klischees vom osteuropäischen Pathos und von süßlicher Romantik ihren Schwung und vielleicht auch die Grundlage zu nehmen.
Sind Sie wirklich der Meinung, wie Sie es S. 235 am Ende Ihres Werkes ausdrücken, die Welt braucht keine gütigen Märchen, sondern alberne mit albernen Helden? Haben wir nicht alberne Helden vor allem in Film, TV und den Serien, die sich unsere Kinder ansehen, und im realen Leben genug?
Da ich keinen Fernseher besitze, bin ich vom TV zum Glück verschont gelieben. Aber ich nehme an, es läuft viel Quatsch im Fernsehen. Ob dieser Quatsch anspruchsvoll genug, albern genug ist, kann ich deswegen nicht beurteilen. Und ja, ich glaube es wirklich: die Zukunft gehört einem Donald Duck. Mit albernen Schritten voraus, um es albern auszudrücken. Denn der Mensch ist an sich gut und gütig. S. 235 unterschreibe ich doppelt und dreifach.
Ich finde es schade, dass die albernen Helden bleiben und die Märchen vergehen, verschwinden... Generationen fehlt die Mystik des erzählten Märchens.
Das Alberne schließt das Mystische nicht aus.
Auch wenn unsere Jugendlichen die Verwischung und Vermischung von Realität in ihren Computerspielen und TV-Sendungen erleben, ist es nicht diese fein und tiefsinnige, melancholisch geprägte Welt wie in Ihrem Roman.
Solange sie ihre Fantasien vor dem Computer oder Fernseher ausleben, und nicht draußen rumballern, ist alles halb so schlimm. Früher oder später werden unsere Jugendlichen zu Erwachsenen und fangen an Bücher zu lesen. (z.B. „Annuschka“)
Haben Sie bei der Vermischung von Traum und Wirklichkeit, die Ihr Werk von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht (das erste Wort ist „Nacht. Ich sitze im Haus und stelle mir vor, ich wäre ...“, die letzten sind „Das Zimmer schwimmt, und Fische wirbeln wie im Traum umher; im Traum, im Traum, im Traum!“) je an das Schweben der Figuren Kafkas zwischen Traum und Realität gedacht?
Nein, ich habe nur an meine beiden Helden gedacht, es ging gar nicht anders.
Danke für das Interview und viel Erfolg bei der Frankfurter Buchmesse!
Marjana Gaponenko
Geb.1981 in Odessa (Ukraine), studierte dort Germanistik und lebt heute nach Aufenthalten in Krakau und Dublin in Mainz. Sie schreibt seit 1996 auf Deutsch. Zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2009 wurde sie mit dem Frau-Ava-Literaturpreis ausgezeichnet. „Annuschka Blume“, 2010, Roman, Residenz Verlag.
etcetera 44/ drüben/ Juni 2011