46/ arbeits-los/ Essay: WorkingClassZero. Hans-Jürgen Hauptmann

Hans-Jürgen Hauptmann
WorkingClassZero

Wie kann man heute einen Artikel über Arbeit beginnen?

„Empört Euch!“, schlägt der Schriftsteller Stéphane Hessel im Titel seiner vor kurzem erschienenen Streitschrift gegen den Finanzkapitalismus vor. Klingt ohne weiteres vernünftig. Auch für dieses Thema. Funktioniert aber leider nicht. Nicht mehr. Im jahrelangen Verharren in der Dauerempörung über alle möglichen Unmöglichkeiten ist mir jeder Sinn von Emphase verloren gegangen. Und der übrig gebliebene Zustand von permanenter Gereiztheit lässt sich bedauerlicherweise nicht zu einer leidenschaftlichen Gefühlsaufwallung zusammensparen. Abgesehen davon hat Empörung immer auch etwas von trotzigem Selbstmitleid, das aus den Tiefenschichten einer schwelenden Ohnmacht emporsteigt.

Was ist Arbeit überhaupt?

Das Tippen dieser Buchstaben? Ist das Beugen des Fingers schon Arbeit? Das Runzeln der Stirn? Arbeit ist das Produkt aus Kraft mal Weg (habe ich in der Schule einst gelernt). Ihre Einheit ist der Energiewert Joule. Sein bekannteres Äquivalent ist der Verbrauchswert Kalorie. Arbeit ist der Verbrauch von Kalorien. Ich lebe, also arbeite ich. Würde unsere Gesellschaftsform Physik heißen, wäre das nicht nur ein guter Beginn, sondern eine erschöpfende Weltanschauung.

Im richtigen Leben sind diese Zeilen aber nichts wert. Sie werden nämlich nicht bezahlt. Alle hier gedruckten Gedanken sind das Produkt einer kostenlosen Anstrengung. Sie werden völlig umsonst gemacht. Und wenn Sie das lesen, werden sie sich im Nachhinein ärgern, weil Sie feststellen werden, dass auch das umsonst gewesen sein wird. Genauso wie das Führen des Haushalts, das Erziehen der Kinder, freiwilliges soziales Engagement – was nicht bezahlt wird, ist keine Arbeit. Das klingt schon vertrauter nach unserer Gesellschaft. So vertraut, dass nur unverbesserlich obskure Geister auf die Idee kommen können, es könnte jemals anders sein. Oder gewesen sein.

Im Juli dieses Jahres inszenierte die Regisseurin Fanny Brunner auf dem Fabriksgelände der Evonik Para-Chemie in Gramatneusiedl/Niederösterreich ein Theaterstück zum Thema Arbeit. Der Ort wurde nicht zufällig gewählt, sondern war schon einmal die Kulisse für ein alarmierendes Stück Arbeits-Realität: 1930 wurde die Textilfabrik Marienthal gewissermaßen von einem Tag auf den anderen geschlossen.

Ein ganzer Ort wurde damit über Nacht arbeitslos. Und das nur etwas mehr als 100 Jahre, nachdem die Industrielle Revolution ihre einschneidenden Umwälzungen zu einem flächendeckenden Fundament für die weitere Geschichte der westlichen Welt ausgebreitet hatte. In Marienthal konnten die Menschen damals durch die ersten größeren Risse dieses neuen Zeit- und Seinsgefüges schauen und was sie zu sehen bekamen war: Leere. Wie existentiell und bedrohlich diese Leere werden konnte, kann man sehr schön im Bericht „Die Arbeitslosen von Marienthal“ nachlesen, einer soziographischen Studie unter der Leitung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat und den Ort Marienthal weltweit bekannt machte. Wie stark sich diese Leere seit damals ausgebreitet hat und noch weiter ausbreiten wird, dürfen wir zurzeit selbst erleben.

Als Dramaturg besagter Produktion hatte ich die Gelegenheit, mich tief in diese Leere zu versenken – ein Manöver, das mit ambivalenten Gefühlen verbunden war, weil ich ahnte, dass irgendwo da unten meine eigenen Ängste auf mich warteten: zwischen all den Menschen ohne Job, mit ihren Enttäuschungen und Hoffnungen, bröckelnden Träumen, Verzagtheiten. Familien, denen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen abhanden kamen. Kinder, die ihre Wünsche nur noch im Konjunktiv Irrealis, also in der Unmöglichkeitsform formulieren konnten. Biographien, die von der Zukunft im Stich gelassen worden waren.

Tragisch berührend und doch grotesk – dass Menschen den Verlust von Bedingungen betrauerten, in die sie noch zu Beginn des Industriezeitalters teils mit bizarren Methoden gezwungen werden mussten: Es gibt Berichte aus Amsterdam, denen zufolge Arbeitsunwillige in Verliese gesperrt wurden, in die Wasser floss und binnen weniger Stunden zum Ertrinken aller Eingeschlossenen geführt hätte – nur über das Bedienen einer mechanischen Apparatur konnte das einströmende Wasser wieder abgepumpt und so das Ertrinken verhindert werden. Damit sollten die notorisch Faulen an Arbeit „gewöhnt“ werden. „Eine ‚Maßnahme‘ würde man das heute nennen. Disziplin muss sein. Noch mal 150 Jahre später lohnt sich das Dressieren richtig: Die Industrielle Revolution beginnt. Man braucht massenhaft Arbeitskräfte. Die ersten Fabrikarbeiter gelten ihren Zeitgenossen als schwachsinnig, tumb. Mit denen kann man alles machen. Und man tut es. Ein paar Jahrzehnte wird es noch dauern. Dann hält man die idiotische Routine für ‚normal‘. Bis heute.“ Schreibt Wolf Lotter in einem bissigen Beitrag zum selben Thema in der brandeins Schwerpunktausgabe über Arbeit 2009.

Ganz offensichtlich hat sich hier innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit der Arbeitsbegriff diametral gewandelt: von Zumutung und Qual zur conditio humana?

Es ist wirklich mehr als erstaunlich, wie ein Wort, dessen sprachliche Wurzeln auf das germanische „arba“ (= Knecht), sowie vermutlich auch auf das ebenfalls germanische verb „arbejo“ mit der Bedeutung „bin verwaistes und daher aus Not zu harter Arbeit gezwungenes Kind“, zurückgehen, von dem weiters „arbejidiz“ (= Mühsal, Not) abgeleitet wird und schließlich zum althochdeutschen „arbeit“ wird, wie also aus einem Begriff, der seit Vorzeiten für Mühsal, Plage, Leid und Erdulden stand, ein positiv besetztes, fundamentales Selbstidentifikationsmerkmal für den modernen Menschen werden konnte. Ich arbeite, also lebe ich.

Das Cover der brandeins Schwerpunktausgabe titelte passend dazu mit präziser Ironie:

Treffen sich zwei Ameisen. Fragt die eine: „Und – was machen Sie so?“ Sagt die andere: „Sie meinen beruflich?“ – Damit wäre alles gesagt. Und doch nichts gewonnen.

Dass der Durchbruch der Universal-Schablone „Arbeit“ zum unbestrittenen Superstar unter den gesellschaftlich anerkannten Integrations-Existentialien zu einer Zeit erfolgte, in der sich das Ablaufdatum schon deutlich abzuzeichnen begann, nimmt sich da nur noch als skurrile Randnotiz aus.

Die Arbeitsgesellschaft laborierte jedenfalls eifrig an ihrer eigenen Ablöse: Hinter der Chiffre Wohlstandsmaximierung rüstete sich eine immer stärker durchrationalisierte Industrie für den Ernstfall dessen, was später unter Neoliberalismus zur totalen Kriegserklärung werden sollte. Wir sind „eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht.“, zieht Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Buch „Vita activa“ Bilanz über einen unaufhaltsamen Trend. Das hatte Marx wohl ein wenig übersehen, als er trotz luzider Analyse der Produktionsbedingungen (was hier synonym mit Übervorteilungsbeschleunigung gesetzt werden kann) den Arbeiter als Hoffnungsträger einer gerechteren Welt beschwor.

1995 schlägt Jeremy Rifkin mit seinem Buch „Das Ende der Arbeit“ nochmals mit großer Wucht in dieselbe Kerbe wie Arendt und unzählige andere Autoren davor; beschreibt die perversen Produktionsmechanismen, die immer höher werdenden Gewinne, den sukzessiven Abbau von Verantwortungszuständigkeiten, die immer stärker in Bedrängnis geratenden Erfüllungsgehilfen mit ihren immer sinnleerer werdenden Aufgaben in ihren verhängnisvollen Abhängigkeiten; und obwohl er genau den Nerv zu treffen scheint – der historisch verflachste Strang lässt sich einfach nicht durchtrennen. Vielleicht hat er deshalb dem Buchtitel zur Sicherheit auch den kleingedruckten Satz zur Seite gestellt: „… und ihre Zukunft“.

Worin diese Zukunft genau besteht, bleibt nach wie vor die große Frage, die umso drängender wird, je weniger man weiß, was darunter überhaupt noch zu verstehen ist. In dieser zunehmenden Unschärfe verschwimmen nämlich allmählich zwei separate Interessensgebiete zu einer einzigen Silhouette: die Entwicklung des Kapitalismus und die Entwicklung des Individuums. Da aber die Entwicklung des Kapitalismus angeblich der Entwicklung des Individuums dienen soll, subsumiert man letztere gerne unter erstere und gibt diesem Taschenspielertrick Namen wie etwa Wohlstandsgesellschaft.

Lange haben die Leute daran geglaubt (und eine Zeit lang haben angeblich sogar welche darin gelebt). Und sie würden es wohl heute noch, wenn nicht eine sich rapid öffnende Schere diese Verschmelzungsillusion soweit auseinanderspreizen würde, dass sie durch alle Verklärung hindurch plötzlich wieder in ihren zwei Bestandteilen gegenüberstehend erkennbar wird: Wohlstand oder Gesellschaft. (Je nachdem, von welcher Seite man auf die jeweils andere blickt.) Wie weit sich die beiden noch entfremden werden, bleibt abzuwarten. Durch die bereits real vollzogene Trennung wird der Arbeitsbegriff allerdings wieder frei für neue Besetzungen und somit auch für neue Fragestellungen. Auf der gesellschaftsrelevanten Seite tauchen plötzlich Konzepte wie Selbstverwirklichung, Zufriedenheit und Glück auf, die auch alternative Orientierungsmaßstäbe für den Wert von Leistung jenseits (oder zumindest abseits) der Bezahlung wichtiger werden lassen. Und wenn sich vor diesem Hintergrund sogar der Begriff Arbeitslosigkeit aus dem paranoid motivierten Pauschalverdacht des Schmarotzens herauszulösen beginnt und dabei empathische Zugänge in die Sinn stiftenden Dimensionen seines funktionalen Gegenteils offenbart, sind wir mitten in einer Neubestimmung dessen, was Arbeit grundlegend für den Menschen bedeutet, vielleicht seit je bedeutet hat und deshalb auch immer bedeuten wird.

Der Wiener Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack schlägt vor, Arbeit generell als jene Tätigkeit zu bezeichnen, die wahrgenommene Mängel oder Unzufriedenheiten mit gegebenen Zuständen zum Verschwinden bringen soll. Es handelt sich demnach um ein aktives Gestalten der eigenen Umwelt. Die Tragweite dieser Definition ist kaum zu überschätzen. Wenn wir ihr gesellschaftliche Kohärenz zubilligen – und es spricht vieles dafür – dann haben wir einen Schlüssel zum wesentlichen Verständnis für die Hartnäckigkeit dieses allen Unkenrufen und wirtschaftlichen Bemühungen zum Trotz unausrottbaren Arbeitsbegriffs. Er ist nämlich nicht nur ein Begleitphänomen der menschlichen Entwicklung, sondern er ist geradezu ihr Vehikel. Mit dem ersten Schritt des Menschen aus der Ausgeliefertheit an eine Umwelt hinaus in eine selbst gestaltete Lebenswelt wird eine Dynamik in Gang gebracht, die man als Anlaufbewegung für einen evolutionären Quantensprung bezeichnen darf. Die immer raffinierter werdende Welterschließung erfordert immer komplexere Organisations- und Kommunikationsformen, die wiederum die geistige Entwicklung radikal vorantreiben, woraus immer höhere Ordnungen entstehen, bis schließlich die Gesamtbewegung als solche in den Fokus der gestaltenden Aneignung zu rücken beginnt. Den Fluchtpunkt dieser anthropologischen Entwicklung kennen wir unter dem Namen Autonomie, und das Programm, welches sich diesem Ziel verschrieben hat, wurde einst Aufklärung genannt.

Womit wir es in der gegenwärtigen Arbeitsdiskussion zu tun haben, scheinen massive Unterströmungen dieser Entwicklung zu sein, die das ganze Projekt in eine abwegige Richtung driften lassen. Die daraus resultierende Schieflage lässt sich mittlerweile nicht einmal mehr von Politikern geradereden. Welchen Handlungsbedarf sie daraus ableiten, wird zumindest Einfluss auf die Entwicklung der sich immer stärker formierenden Protestbewegung haben, aber stoppen wird er sie nicht mehr können. Es ist eine Generation übersehen worden, die reif scheint, das ideelle Vermächtnis der Arbeiterklasse anzutreten. Und sie werden sich dabei nicht damit zufrieden geben, sich in der Bedeutungslosigkeit einzurichten und ihre Ohnmacht mit Empörung zu tapezieren, sondern sie werden für eine gerechtere Verteilung von Arbeit, Geld und Verantwortung auch bereit sein zu kämpfen.

Ich habe an den Anfang meiner Überlegungen die Frage gestellt, wie man einen Artiel über Arbeit heute beginnen könne, und mir sind im Zuge meiner Recherchen für das Theaterstück unzählige Varianten untergekommen und teilweise sogar richtig gute. Aber ich glaube es gibt nur eine Möglichkeit, wie man heute einen Artikel über Arbeit enden lassen kann. Eine schöne Formulierung dafür habe ich bei Robert Menasse gefunden: „Eines Tages werden Steine schweben und Worte kein Gewicht mehr haben.“

Hans-Jürgen Hauptmann
Geb. 1976 in Eisenstadt; Dramaturg und Kellner in Wien; leitet gemeinsam mit der Regisseurin Fanny Brunner das Theaterprojekt dreizehnterjanuar, das im Rahmen des Viertelfestivals Niederösterreich 2011 das Stück „Guter Morgen Marienthal“ zur Uraufführung brachte; derzeit Arbeit an einer Fortsetzung (mögliche Zukunftsszenarien von Arbeit), die im Dezember 2011 in der Garage X, Wien, Premiere haben wird. Infos unter: www.dreizehnterjanuar.com

LitGes, etcetera 46/November 2011/arbeits-los