50/Wozu Literatur?/Essay: Werte Werte ... Hahnrei Wolf Käfer
Hahnrei Wolf Käfer
Wert Werte,
macht euch frei,
ich hab euch zu untersuchen.
Kunst ist absolut nutzlos.
Oscar Wilde
Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am oberen Ende der Treppe und alsbald stimmte er an: ‘Introibo ad altare dei’. Damit ist schon alles gesagt und deshalb müssen wir fortfahren: Introibimus. Um die Bäuche voll zu kriegen, erzählen seit Urzeiten Menschen ironiefreie Märchen von Göttern. Bald nannten die Erzähler sich Priester und waren so überzeugend, dass sie sich, ohne dafür nennenswerte Arbeit leisten zu müssen, an den den Göttern darzubringenden Opfern fettfressen durften. Je obskurer die Göttergeschichten wurden und je mehr sie sich in Widersprüche verstrickten, desto nötiger wurden die Vermittler, die behaupteten, sich auszukennen. Bald gründete man Universitäten und richtete die Fakultäten Theologie und Germanistik ein. Nun waren es nicht mehr nur die Göttergeschichtenerzähler, sondern auch noch die Göttergeschichtenforscher, die ohne nennenswerte Produktivarbeit am Allgemeingut zehrten und zehren. Der materielle Wert der Religionen ist somit berechenbar, der immaterielle unhinterfragbar, weil die Frage danach klarerweise nur von Menschen gestellt und behandelt werden kann, die sich auskennen. Also von Fachleuten, von Göttergeschichtenerzählern und Göttergeschichtenherausgebern, aber besser noch von Göttergeschichtenexegeten und Göttergeschichtenbewertern und Göttergeschichtenforschern. Was wird da schon viel herauskommen? Nur ganz selten müssen die Nutznießer dieses Zirkels aus Selbsterklärungen drohend fragen, wie trostlos wohl eine Welt ohne Göttergeschichten wäre. Die Menschen hätten keinen Halt und keine Unterhaltung.
Jeder Priester hat eine Gemeinde. Coelo oder Handke haben große Gemeinden und streifen viel Opfergeld ein. Die Marke James Joyce (günstiges Doppelkonsonantenmongramm wie auch der Dauerbrenner Hermann Hesse) geht recht gut. Eine Liturgiefeier von Austrias Mobbert Menasse kriegt man schon gar nicht gratis. Aber auch der Wert der Kleidung wird weder durch Prada noch durch Nike oder Adidas noch durch No-Name-Produkte bestimmt. Die bewirken nur die Streubreite der Werte. Die überwiegende Mehrzahl der Priester liest ihre mehr oder minder weihevollen Messen gratis. Viele verlegen ihre Werke unter Einsatz des eigenen Kapitals, Religion hat mit Sendungsbewusstsein zu tun. Und wie berechnen wir das nun? Was ist das wert?
Alles in einen Topf und Durchschnittspreis des Wortes?
Ja, am Anfang war das Wort? Das Wort war also schon vor Gott und dann erst war es bei Gott und nun ist es das Gottseibeiuns. Ist das nicht ein Auftrag? Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, gehet hin und tuet desgleichen wie jene vier Dichter mit der weltweit höchsten Auflage (Johannes, Lukas, Markus und Matthäus). Es besteht selbstverständlich auch auf diesem weihevollen Gebiet Konkurrenz. Nicht ganz so wild, dass wieder Halbmondzüge und Kreuzzüge (historisch übrigens in dieser Reihenfolge) entstünden, es treten nur Verlage gegeneinander an. Die lassen etwa im Turnier auf dem Nebenschauplatz Klagenfurt ihre Reckinnen und Recken antreten und einander ausstechen, das ähnelt aber mehr einer Modeschau als einem Kampf. Wilder geht es auf dem Kriegsschauplatz Frankfurt zu. Lektoren beschneiden Autoren vor der Darstellung im Tempel, Kritiker kreuzigen Autoren, Verlage verhelfen toten Autoren zur Auferstehung, in manchen Verlagsverträgen ist angeblich schon die gegenseitige Verpflichtung zur Himmelfahrt inkludiert. Amen.
Was die Pepitant glaubt und wertschätzt, ist völlig wurscht, ist Privatreligion, diskussionswürdig ist nur der Kanon ernster Literatur, in dem meist alibihalber ein ‘guter’ Humorist versteckt ist. Wirklichen Wahrheits-Wert (www) hat doch nur das Ernste. Götter haben Herrsch- und Strafsucht, Libido, Eifersucht, Zorn usw., aber sie haben keinen Humor. Angesichts der Wirklichkeit, die sie angerichtet haben, wäre der auch eine Beleidigung des Großteils der Menschheit.
Man stelle sich eine Wandlung vor, dies ist mein Leib, und alle lachen. Oder schmunzeln beim ‘Introibo ad altare dei’, weil sie an den dicken Buck Mulligan denken. Oder man stelle sich eine Diskussion über den Wert der Literatur vor, und alle Zuhörer wacheln mit Geldbündeln wie bei der Schieberei Deutschland gegen Österreich in Gion. Das lässt den sittlichen Ernst vermissen. Eine Umfrage stellte einst fest, dass ein Viertel der katholischen Priesterschaft nicht mehr an die ganze Glaubenslehre (Jungfräulichkeit Mariens, Auferstehung, Himmelfahrt etc.) glaubt. Da gibt es doch, behaupten sich die Literaturwertdiskutierer mit ernster Miene, die Kunst, die Ästhetik, die Aufklärung, das Streben nach Höherem. Und die Zuhörer lachen und wacheln. Das erste Gebot: Es gibt nur einen Gott. Fachbücher trotz Informationsgehalt, aus anderen Sprachen übersetzte Gebrauchsanweisungen trotz kunstvoller Rätselhaftigkeit, juristische Texte (Gesetze) trotz Unterhaltungswert, philosophische Schriften trotz witzigen Mehrdeutigkeiten sind nicht in diesem Sinn gemeint, wenn man von Literatur und ihrem Wert spricht. Standard-Feuilleton vielleicht, Heute-Artikel sicher nicht. Frankfurter (Zeitung, nicht Würstel) bisweilen, Wiener (ebenfalls Zeitung) eher seltener, Österreich nie. Österreich ist nicht literaturwertdiskussionswürdig. Werte Werte, macht euch frei, man will euch untersuchen.
Es ist kein Zufall, dass die Religionsfreiheit und die Freiheit der Kunst in der Verfassung verankert sind, diese aber keinesfalls die Freiheit von Religions- und Kunstanmutungen garantiert. Es ist kein Zufall, dass Kunsterzieher und Religionslehrer vom Staat bezahlt werden. Es ist kein Zufall, dass man von Literaturgöttern und Literaturpäpsten spricht.
Und noch eine Ähnlichkeit ist überraschend: Der Gottgläubige hat kein gottfreies Refugium, er hält sich also immer im Religionsraum auf, in dem es keine Wertfreiheit gibt, sondern höchstens Wertignoranz. Der Literaturgläubige hat ebensowenig ein Refugium, denn er hält sich, wo immer er das Maul aufreißt oder auch nur einen Gedanken fasst, im Sprachraum auf. Selbst das Unsinnigste wird Begriff, selbst Gebrabbel wird mit Bedeutung erfüllt, wo es nur geht, wir können uns da durchaus an die Herkunft des physikalischen Quark erinnern, wobei der Joyce-belesene namengebende Physiker nicht wusste, dass das in Deutschland ein Topfen ist, und was das wieder bedeutet. Spätestens jetzt, wo die Werte nackt zur Musterung und freigemacht wie Massenpostsendungen vor uns stehen, müssen wir aber doch unterscheiden: Die schlechten materiellen Werte ins Kröpfchen (=Fressen und Saufen) die echten immateriellen Werte aber gut verdaut ins Nachttöpfchen. Damit auch das einmal klar ist. Es geht sicher nicht jedem Autor nur ums Knödelreißen, einige wenige gehen sogar einer ehrenhaften Arbeit nach und sind nur auf das, nicht auf den Verdienst aus. Die Mehrzahl freilich darbt und träumt über traurigen Texten vom Bestseller und davon, dass alle Montag Knödeltag wäre, dann wär’ ma lust’ge Leut. Der aus der Sprache erwachsende, über das Inhaltliche hinausgehende Mehrwert (das ist ein um den eigentlichen Wert reduzierter Wert) mache aus Texten Literatur, habe ich einmal irgendwo gelesen. Selbstverständlich sind neben frischen Zutaten (Aktualität) auch die Würzkenntnisse des Kochs von Bedeutung. Aber wenn man mir vom ästhetischen Wert des McDonalds-Menus redet, werd ich kribbelig. Der Leibroman des Volkes ist das Liebesschnitzel und als Nachtisch ein im Bett zu genießendes Krimidegout, je grauslicher, desto besser. Nach der Wertschätzung durchs Publikum muss das Schnitzel dünn und möglichst großflächig sein, der Roman dafür dick. Und manche rühmen sich noch, fürs ganze Kunsthistorische Museum nur zwei Stunden gebraucht zu haben. Das zur Alltagsästhetik. Die Feiertagsästhetik, die hohen immateriellen Wert der Literatur postuliert, wird nicht von Lesern, sondern von After-Literaten, Exegeten, Rezensenten, Germanisten gepflegt, also von allem, was sich dort sattfrisst, wo (laut Hannes Wader) ‘unsereins geschissen hat’. Man nehme also nicht an, dass diese Berufsgruppe aus dem ideellen Werten der Literatur keine materiellen bezieht und dabei, je höher sie den ideellen Wert veran-, desto höheren materiellen herausschlägt, sondern begreife auch in diesem Kontext die Bedeutung des Wortes Mehrwert (s.o.).
Ein Seitenblick auf die Wirksamkeit ist da auch vonnöten.
Wert sollte doch irgendwie zur Wirkung kommen?
Neben den unleugbar immensen Verdiensten von L&R (Literatur&Religion) bei der Verhinderung von Kriegen, nie haben sie sich in den Dienst von Kriegstreibern gestellt, sind auch ihre Anregungen zum Selbstmord indirekter Art (Märtyrer) sowie direkter Art (Werther) zu beachten. Auch erzwungenen Frohndienst, ob nun für kirchliche oder weltliche Hoheiten und Ideologien in der Vergangenheit oder für bankliche und börsliche Hoheiten in der Gegenwart, haben L&R immer verhindert. Und was die Aufklärung betrifft, die so gern als immaterieller Wert von Literatur ins Spiel gebracht wird, ähneln sich L&R mehr, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Mikrofragmente von Aufklärung sind in beiden auffindbar, wenngleich es mit der Anwendbarkeit der Elemente etwas hapert, es sei den man fasst die Sache diffiziler auf und lernt, ein willkürliches Beispiel herausgenommen, dass nicht nur das Fressen zuerst kommt, sondern - der Praxis des Verkünders nach - auch Maßseidenhemd und Frauenausbeutung und Luxus, und dass das die nachfolgende Moral aus der Geschichte ist. Dem steht, was uns Päpste an Unmoral, Verbrechen und Verbohrtheit vorgelebt haben und vorleben, um nichts nach. Sicher gibt es nirgends so große Aufklärungsquoten wie im Kriminalroman, allerdings wäre ich zufrieden, wenn sich die selbsternannten Aufklärer beim Rühmen des Aufklärungsfaktors der Literatur auch darauf beschränken würden.
Ulysses, der Roman mit dem frommen Anfang, unterläuft fortwährend oder zerstört manchmal sogar gezielt die hohen Spielchen der Aufklärungsanmaßung. So kann die Sache nicht auf den bekannten liturgischen Sendungsauftrag ‘Ita missa est’ hinauslaufen. Der Roman greift als Art Konklusion aufs Urgewaltige, aufs Sexuelle zurück, um mit einem ‘ich will ja’ auszuklingen, das in der deutschen Übersetzung fast nach einer Rücknahme der vielen Ja Molly Blooms klingt, nach einem, und damit soll dieser Artikel auch enden, unausgesprochenen ‘aber’...
Hahnrei Wolf Käfer
Geb. 1948. Literarischer Beginn über die Präpositionsschwäche von Peter Rosei und dergleichen, später sprachfreundliche und autorenskeptische Essays über Haslinger, Gail, Menasse, Streeruwitz etc. im morgen. Im Buchhandel u.a. erhältlich: kultur nach gärtnerinnenart (Lyrikzyklus), täuschungen (Lyrikzyklus über das programmatische Pseudonym “Hahnrei”), ICH GING (Roman).
LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012