Zdenka Becker: Zwischen Ost und West, zwischen Wahrheit und Fiktion. Ingrid Reichel

 
Zdenka Becker
© Deuticke Verlag, 2012, Foto: Alexandra Eizinger
 

Zdenka Becker
Zwischen Ost und West, zwischen Wahrheit und Fiktion

Im Februar 2013 erschien Zdenka Beckers neuester Roman „Der größte Fall meines Vaters“ im Deuticke Verlag. Ingrid Reichel sprach mit der Autorin am 08.01.13 in St. Pölten. (Zur Rezension)

In Deinen Romanen stehen Menschen und ihre Beziehungen im Vordergrund. Nach „Die Töchter der Róza Bukovská“ und „Taubenflug“ geht es auch in Deinem letzten Werk um familiäre Verhältnisse.

“Der größte Fall meines Vaters” ist mein siebentes Buch, aber mein vierter Roman.

Es geht nicht nur um Beziehungen und um Privates, vielmehr sind starke Gesellschaftskritiken verborgen. Auch in diesem Buch geht es um die Tschechoslowakei und den Sozialismus der 60er Jahre. Da ist ein korrupter Polizist, der stiehlt, faul ist, nichts zu tun hat und das für völlig normal hält. Auch diese Vater-Tochter-Beziehung ist im herkömmlichen Sinn keine klassische.

In „Die Töchter der Róza Bukovská“ ist es um eine Mutter-Tochter-Beziehung gegangen…

Ja, vor dem Hintergrund der Emigration. Da geht es um Konfliktlösung in einer Familie, die zerfällt, die einzelnen Familienmitglieder leben in verschiedenen Ländern und treffen sich nur alle paar Jahre. Die Konservierung der Probleme und deren Verarbeitung, wenn man sich nach so vielen Jahren sieht, spielen dabei eine große Rolle. Nach der ersten Wiedersehensfreude brechen meist die alten Muster wieder auf, dann beginnt das Schmerzvolle, das nie verarbeitet worden ist. Darum geht es in den Töchtern.

Mich interessieren in erster Linie die Menschen. Und weil ich ein Familienmensch bin, kommen in meinen Büchern auch immer wieder Familien vor. Ich habe noch nie einen Helden gehabt, der z.B. ein Junggeselle ist, weil ich auch diese Situation weniger kenne.

Im „Der größte Fall meines Vaters“ scheint das Thema der Emigration in den Hintergrund zu treten. Kann es sein, dass Dir das Thema nicht mehr so wichtig ist?

Es ist vielleicht nicht mehr so brennend. Das Thema ist mir aber nach wie vor wichtig. Ich lebe seit 38 Jahren in Österreich. Und die Emigration ist ein Teil meiner Geschichte. Sie ist ständig vorhanden, aber überwachsen mit etwas anderem.

Kann der Grund darin liegen, dass Tschechien und die Slowakei nun europäische Mitgliedstaaten sind?

Ja, wenn ich in die Slowakei fahre, brauche ich keinen Reisepass und kein Visum mehr. Das spielt mit Sicherheit eine Rolle. Dennoch, ich musste irgendwie meine Erlebnisse verarbeiten, um sie abzuhaken. Auch war es mir wichtig gewisse Dinge Österreichern zu vermitteln.

Die Handlung Deines neuesten Romans spielt in der Slowakei. Die Tochter fährt jeden Samstag zwei Stunden zu ihrem Vater, um ihn zu besuchen. Man weiß nicht, woher sie angereist kommt. Man hat aber das Gefühl, alles bewegt sich in einer westlich orientierten Welt. Dieser Geruch des Ostblocks, wenn ich so sagen darf, scheint sich völlig verflüchtigt zu haben.

Ja, der ist auch weg. Ich pflege nach wie vor Freundschaften in der Slowakei und habe Freundinnen mit denen ich die ganzen Jahre in Kontakt geblieben bin. Solange die Grenze geschlossen war, hat es Jahre gegeben, wo wir wenig Kontakt hatten. Ehrlich gesagt, es gab Jahre, in denen wir uns auch nichts zu sagen hatten, denn sie hatten ganz andere Probleme wie ich. Wir haben gleichzeitig Kinder bekommen und ich habe mich oft gewundert, was sie mit ihren Kindern unternehmen. Es sind nur unbedeutende Divergenzen wie z.B. im Berufsleben oder in den Urlauben, diese kleinen privaten Dinge waren anders, als ich sie erlebte. Seit die Grenzen offen sind, sehen wir uns wieder und sind uns inhaltlich näher gekommen. Wir verstehen uns viel besser als früher.

Das erste Mal, dass ich in Büchern den Geruch des Ostblocks und seine Verflüchtigung wahrgenommen habe, war in jenen von Milan Kundera*. Diesen Sprung von Ost nach West habe ich von einem Buch zum anderen erlebt: von „Die unerträglichen Leichtigkeit des Seins(1984) zu Die Unsterblichkeit(1990). Kundera war ca. 46 Jahre alt, als er 1975 nach Frankreich zog. Es dauerte 10 Jahre, bis er das Thema der Emigration ablegte. Du selbst bist als junge Frau nach Österreich gekommen. Wir kennen uns schon sehr lange, noch bevor der Eiserne Vorhang gefallen ist, die Grenzen verschwunden sind. Ich habe Dich immer als westlich orientierten Menschen erlebt. Wie siehst Du das?

So empfinde ich mich auch. Aber ich habe keine Ahnung, wie mich andere sehen. Ganz am Anfang war natürlich einiges in mir, das ich mitgenommen habe. Vor allem aber diese Unsicherheit. Ich habe mich zu Beginn wahnsinnig unsicher in Österreich gefühlt. Ich hatte richtige Minderwertigkeitsgefühle. Im Vergleich zu den Österreicherinnen war ich überhaupt nicht selbstbewusst. Ich bin mir weder schön noch locker vorgekommen. Das war ein Erbe der Slowakei. Bei uns hat man immer gesagt: Halt den Mund, damit dir nichts passiert. Sag das nicht. Sei unauffällig. Ich habe mit 16, 17, 18 Jahren graue Kostüme getragen, weil meine Mutter gemeint hat, dazu kannst du alles kombinieren. Ich habe erst später erkannt, dass man sich auch in Rot, Blau oder was auch immer kleiden kann. Nur nicht auffallen!, das war in mir verankert. Es hat seine Zeit gebraucht, das wegzubekommen. Aber all das ist lange vorbei.

Wir kommen zurück zu Deinem neuen Roman. Es geht um eine Tochter, die sich gemeinsam mit ihrem Vater an die Vergangenheit erinnert. Lara, so heißt die Tochter, war damals 13 Jahre alt. Man hat den Eindruck man braucht ein ganzes Erwachsenendasein, um seine Kindheit zu verarbeiten. Stimmst Du dem zu?

Absolut, ja! Erwin Ringel**, den ich sehr verehrt habe, hat einmal den Satz gesagt: Die Kindheit ist wie ein Kübel Brei, den man uns bei der Geburt übergestülpt hat und dieser Brei tröpfelt an uns ein Leben lang hinunter. So ungefähr sehe ich das. Es hängt unheimlich viel davon ab, wie wir unsere Kindheit verbracht haben. Damit haben dann manche Menschen mehr, die anderen weniger zu kämpfen. Menschen, die schreiben oder sich mit der Kunst beschäftigen, sind irgendwie sensibler als die anderen. Sie greifen öfter in dieses Reservoir der Kindheit. Ich bediene mich immer wieder dieses Füllhorns und hole mir Dinge aus der Kindheit, weil ich weiß, das sind die ursprünglichen Gefühle. Das möchte ich in meiner Literatur auf jeden Fall weiter verwenden.

Der Roman trägt autobiografische Züge und beinhaltet einen Mordfall, der tatsächlich stattgefunden hat. Möchtest Du darüber etwas sagen?

Ja, mein Vater war jener am Anfang des Romans beschriebene Polizist. Er war für die Kriminalität bei der Bahn zuständig und nicht besonders ehrgeizig. Außer Einbrüchen in Güterwaggons und Raufereien ist auch nie wirklich etwas Dramatisches passiert, bis man den abgetrennten Kopf einer männlichen Leiche in der Toilette eines Zugs fand. Da der Fundort der Leiche in das Ressort meines Vaters fiel, war er einer der ersten an Ort und Stelle. Er ist damals ein paar Tage nicht nach Hause gekommen, bis er den Fall der Mordkommission übergeben konnte. Das heißt, er war einer der wenigen, die diesen abgetrennten Kopf gesehen haben. Er war auch derjenige, der gemeinsam mit seinen Kollegen diese 248 Passagiere verhört hatte. Der Fall gehört zu den seltsamsten Fällen der slowakischen Kriminalgeschichte und ist, soweit ich es nachkonstruieren konnte, so passiert. Der Rest ist ausgedacht und hat nichts mit meiner Familie oder der des Ermordeten zu tun.

Der Mord wird in Deinem Roman auch sehr schnell aufgeklärt. Bald steht fest, dass die Lebensgefährtin des Ermordeten die Täterin war. Für mich als Lesende ist jedoch die Pubertät der Protagonistin Lara der tatsächliche Tatort, wenn man die Pubertät als Ort bezeichnen darf.

Ja, ich habe eine Parallele gezogen. Es ist die Angst des Mädchens um ihren Vater. Aber eigentlich ist mir die Idee erst beim Recherchieren nach der Frage: Warum Männer und Frauen morden? gekommen. Die Frauen morden nämlich, um ihre Männer loszuwerden, die Männer, um ihre Frauen zu halten. Deswegen habe ich auch die Idee eines Seitensprungs, kombiniert mit einem Haushaltsunfalls, entwickelt. So konnte ich Laras Pubertät gut ausleben lassen. Das Blut ihrer Menarche vermischt sich albtraumhaft mit dem Blut des Ermordeten. So wird ihre Angst um den Vater konkreter.

Eigentlich ist Lara ein sozialverwahrlostes Kind. Die Mutter ist ständig unterwegs und hat einen Liebhaber, der sechs Jahre ältere Bruder studiert in einer anderen Stadt und der Vater hat einen schweren Fall zu lösen. Das Mädchen ist im Prinzip alleine. Sie hat nur eine Freundin, zu der sie ständig rennt.

„Warum ermorden Frauen ihre Ehemänner, wenn sie sich doch scheiden lassen können?“, diese Frage stellt sich auch die erwachsene Lara. Als Autorin verfolgst Du aber keine Antwort auf diese Frage.

Ich möchte auch keine Antwort darauf geben, denn die meisten Frauen lassen sich scheiden. [lacht.]. Nicht jede Frau löst ihr Eheproblem mit einer Axt. Aber eine Frau, die keinen Ausweg sieht und mordet, muss eine heftige Persönlichkeitsstörung haben. Die Störung der Mörderin Irma Sládeková in meinem Roman liegt auch in ihrer Kindheit. Sie war das jüngste Kind einer achtfachen Mutter, die Väter blieben unbekannt. Im Alter von vier Jahren starb Irmas Mutter, sie kam in ein Waisenhaus und zu Pflegeltern. Als Irma 16 Jahre alt war, schrieb man das Jahr 1939. Hitler errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren. Die erste Slowakische Republik wurde unter Präsident Jozef Tiso*** ausgerufen und zu einem Verbündeten des NS-Regimes. Dafür brauchte man billige Arbeitskräfte. Nicht nur Juden und Zigeuner, auch die als asozial gehaltenen oder aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen wie Irma, schickte man in Arbeitslager.

Lara ist Ich-Erzählerin und Autorin. Ihr Vater möchte, dass sie ein Buch über seinen größten Fall schreibt. Dabei wird die Problematik der Schreiberei gegenüber Menschen, die man kennt, angesprochen. Quasi als handle es sich um ein Eigentor.

Ja, diese Erfahrung habe ich gemacht. Ich habe einst ein Theaterstück mit dem Titel „Der Duft des Weizens“ (1998) über einen bosnischen Dichter geschrieben. Ich habe geglaubt, alles, was er mir erzählt hatte, verwendet zu haben. Aber er hat sich total gewehrt: „Das bin ich nicht!“ Andererseits, schimmert in einer Figur nur ansatzweise eine Person durch, wollen sich manche Menschen in dieser Romanfigur vollkommen wiedererkennen und greifen mich an: „Wie kannst du mich so beschreiben?!“

Wunsch und Ergebnis sind selten ident. Wie wehrst Du Dich als Autorin gegen diese Anschuldigungen?

Ich frage sie, worüber sie sich ärgern. Über die Wahrheit? Nein, über die Wahrheit kann man sich nicht ärgern. Über die Fiktion? Nein, über etwas Erfundenes kann man sich auch nicht ärgern. Dann frage ich nach: Na, worüber ärgerst Du Dich dann? Dann antworten sie: Eigentlich hast Du recht. Carlos Ruiz Zafón sagte es sehr treffend: „Bücher sind wie Spiegel: Du kannst in ihnen nur das sehen, was längst in dir ist.“

Gibt es auch Menschen, die stolz sind, in einem Deiner Bücher vorzukommen?

Ja, die gibt es auch. Aber es geht eigentlich darum, dass ich gerne Menschen und Dinge beschreibe, die ich kenne. Wenn ich unterwegs bin, mache ich immer Fotografien, die mir später beim Schreiben helfen, mich an Details, aber vor allem an Gefühle, zu erinnern.

Experimentierst Du beim Schreiben? Empfindest Du einen spürbaren Wandel?

Auf jeden Fall. Ich denke, ich werde immer besser [lacht]. Das Schreiben ist ein Handwerk. Dass sich der Stil ändert, davon spüre ich nichts. Ich weiß nur, dass der Inhalt die Form mitbestimmt.

Ich möchte nochmals auf die Ich-Erzählerin Lara zu sprechen kommen, der Du keine Chance auf eigene Persönlichkeit gibst.

Die Ich-Erzählerin ist völlig präsent durch die Art, wie sie erzählt. Ganz nach dem Sprichwort: „Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter, denn über Paul.“ Ich bewundere an den großen Romanen der amerikanischen Literatur diese Erzählperspektive wie bei „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald oder bei „Sophies Entscheidung“ von William Styron, dass der Ich-Erzähler zu Beginn nur kurz in die Handlung kommt und anschließend erzählt er eine Geschichte, die nichts oder nur wenig mit ihm zu tun hat. In meinem Roman ist die Ich-Erzählerin jedoch noch immer Hauptfigur und in der Handlung involviert.

In diesem Werk geht es nicht nur um Pubertät sondern auch um das Altwerden. Einerseits ist da die erwachsene Tochter, die ihre Pubertät verarbeitet, andererseits ist da der Vater, der sich mit seiner zunehmenden Hilfsbedürftigkeit auseinandersetzen muss.

Das wichtigste Motiv für diesen Roman ist die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Obwohl sie kleine Querelen haben, schätzen sie sich gegenseitig und lieben sich. Es ist eine lebensbejahende Geschichte. Und einer der wichtigsten Botschaften, die ich da aussende, ist, dass die Würde eines Menschen nicht mit Alter, Krankheit oder Gebrechlichkeit endet. Freude und Ziele hören nicht in einem Rollstuhl auf.

Gibt es zum Abschluss noch einen Hinweis auf Dein nächstes Buch?

Über ungelegte Eier spricht man nicht. Aber ich schreibe schon wieder, bin vielleicht schon über der Mitte und es wird nichts mit Emigration zu tun haben. Mehr sage ich nicht.

Ich danke Dir für das Gespräch.

*Milan Kundera (geb. 1929): tschechisch-französischer Schriftsteller
**Erwin Ringel (1921-1994): österr. Arzt und Tiefenpsychologe
***Jozef Tiso (1887-1947): katholischer Priester, tschechoslowakischer Politiker, Staatspräsident der 1. Slowakischen Republik (1939-45) und Verbündeter Hitlers

Zdenka Becker
Geb. 1951 in Cheb (Eger)/Tschechien. Aufgewachsen in Bratislava/Slowakei. Nach ihrem Studiumabschluss der Ökonomie an der Wirtschaftsuniversität Bratislava übersiedelte sie 1974 der Liebe wegen nach Wien. Seit 1983 lebt sie mit ihrer Familie in St. Pölten-Radlberg. 1986 begann sie auch auf Deutsch zu schreiben. 1988-90 Besuch des Dolmetsch-Instituts in Wien. Sie übersetzt aus dem Slowakischen, Tschechischen und Russischen ins Deutsche und aus dem Deutschen ins Slowakische. Ihr erster Roman „Berg“ (1994) wurde verfilmt (Koproduktion STV/ORF 1995). Publikation zahlreicher Bücher, zuletzt „Good-Bye, Galina“ (2001); „Die Töchter der Róza Bukovská“ (2006); „Taubenflug“ (2009) und Theaterstücke, zuletzt „Hinter der Dunkelheit“ New York, SL, 2009. Zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt: Ehrenzeichen der Stadt St. Pölten 2011 und Staatsstipendium für Literatur 2012/13. www.zdenkabecker.at

LitGes, etcetera 51/viel-leicht/ März 2013