Wann wird es endlich so, wie es nie war: Joachim Meyerhoff. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Wem die Erinnerung trügt

 

Wann wird es endlich so, wie es nie war
Alle Toten fliegen hoch, Teil 2: Zuhause in der Psychiatrie
Joachim Meyerhoff
Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013. 352 S.
ISBN 978-3-462-04516-1

Ein Kinderspiel: Alles was Flügel hat fliegt… heftiges und rasantes Fingergetrommel auf der Tischkante … Der Rabe fliegt. Die Hände werden in die Höhe gerissen, das Trommeln unterbrochen. Die Taube fliegt. Alle Finger gehen hoch. Alle Toten fliegen hoch! Upps, erwischt … weiter trommeln! Wer wird da nicht an die Kindheit erinnert?

Der 1967 in Homburg geborene und in Schleswig aufgewachsene Schauspieler, Regisseur und Autor Joachim Meyerhoff verwendete für eines seiner Langzeitprojekte den an die Kindheit im generellen assoziierenden Titel „Alle Toten fliegen hoch“ (2007-2009). Das Projekt besteht aus sechs autobiografischen Teilen: Amerika; Zuhause in der Psychiatrie; Die Beine meiner Großmutter; Theorie und Praxis; Heute wärst Du zwölf; Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke und wurde am Wiener Burgtheater und im Wiener Akademietheater als Lesung uraufgeführt. 2011 kam bei Kiepenheuer & Witsch der erste Teil von der Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ als Roman heraus: „Amerika“. 2013 erschien nun im selben Verlag der zweite Teil „Zuhause in der Psychiatrie“, aber unter dem Covertitel „Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war“. Ein Titel, der wahrhaftig in seiner Paradoxie unter die Haut geht und gleichwohl in seiner markanten Länge und in seinem feinen Humor an John Irvings Titel seines Kinderbuches „Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen“ (Diogenes, 2003) erinnert. Kurze Titeln mögen die bessere Wahl sein, bis auf diese zwei Ausnahmen….

Meyerhoffs Titel verspricht nicht zu wenig. Mit dem ersten Satz am Cover kippt der Leser bereits in die Welt einer Familie, die einerseits nicht ungewöhnlicher und andererseits nicht durchschnittlicher sein kann.

Befasste sich Meyerhoff in „Amerika“ ausschließlich mit seinem Aufenthalt in Amerika als Austauschschüler, so geht es in seinem letzten Buch um seine Kindheit und Jugend im Allgemeinen.

Meyerhoff ist im damals erst gerade renovierten und modernisierten Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein aufgewachsen, sein Vater war einst der jüngste Direktor eines Krankenhauses, das Elternhaus selbst befand sich inmitten der Anstalt. Seine Mutter war berufstätig, er und seine zwei älteren Brüder und ein Hund vervollständigen das Bild einer klassischen norddeutschen Familie. Dieses Werk dient jedoch nicht nur zur Erinnerung an vergangene Kindertage, sondern ermöglicht auch einen kritischen sozialgesellschaftliches Blick auf die 70er Jahre in (Nord-)deutschland.

Der Leser durchlebt die widersprüchlichsten Gefühle von Freude und Trauer, von Angst und Zuversicht, von Hoffnung und Verzweiflung und wird erst mit der letzten Seite von ihrem Bann befreit.

Es ist nichts Neues, dass Autoren Erzählungen mit autobiografischen Fakten koppeln, um damit eine Authentizität zu erreichen, die offenbar seit einigen Jahren sehr populär geworden ist. Doch Meyerhoff hat ein unglaublich feines Gespür nicht nur zwischen Realität und Fiktion zu pendeln, sie zu einer Einheit zu verschmelzen, sondern auch Banalitäten des Alltags zu entscheidenden Ereignissen emporzuheben, dafür die wesentlichen Einschnitte eines Lebens nüchtern, ja geradezu emotionslos auf Papier zu bringen. Und darin scheint der Erfolg seiner beiden Werke begründet. Begebenheiten, die von Grund auf gefühlsbeladen sind, werden distanziert beschrieben, in ihrer Emotionalität also reduziert, während jene Erlebnisse der zunächst anmutenden Belanglosigkeit detailfreudig ausgeschmückt werden. Es ist wohl die Mischung dieser beiden Kontrapunkte, die beim Leser eine starke Gemütsbewegung auslösen, ihn jedoch niemals in ein überspanntes Kitschempfinden schlittern lässt.

Geradezu genial beschreibt Meyerhoff im ersten Kapitel „Bis hierhin und nicht weiter“, anhand des Geschehens als er als Erstklässler seinen ersten Toten fand, wie es dazu kommt, dass gerade das Erfinden die Erinnerung fördert, also erst die Fiktion die Realität ans Tageslicht bringt, ja sie direkt heraufbeschwört. In 37 Kapiteln vermittelt der Autor in der Ich-Perspektive aus dem Blickwinkel des jeweils dazugehörenden Alters die Ereignisse, die sein Leben prägten. Dies verleiht Meyerhoffs Erzählungen zusätzliche Lebendigkeit. Dabei kann er es sich leisten die Chronologie nicht konsequent einzuhalten. Meyerhoff scheut sich nicht sensible Intimitäten seiner Familie preiszugeben, ob dies körperliche Merkmale oder charakterliche Schwächen diverser Familienmitglieder, sich mit eingeschlossen, sind. Und hier liegt die tatsächliche hohe Erzählkunst des Autors! Wie schafft er diese Informationen so zu verpacken, dass sie nicht EINMAL zu einer Peinlichkeit ausarten, zu keiner Spur von Schadenfreude, Gehässigkeit, Bösartigkeit oder Zynismus führen? Es muss wohl die absolute Akzeptanz zu seinen Nächsten und sich selbst sein, die es ermöglicht Schwäche in Stärke zu wandeln.

Nach „Amerika“ hat Meyerhoff an Subtilität und erfrischender Detailfreudigkeit gewonnen. Einziger Kritikpunkt, der jedoch neutral zu bewerten ist, es ist kein klassischer Roman, mehr eine Sammlung von Kurzerzählungen, die der Autor jedoch gekonnt ineinander zu verflechten vermochte.

„Wann wird es endlich so, wie es niemals war“ kann auch als Spiel mit der Erinnerung gesehen werden. Wer mogelt sich nicht seine Vergangenheit zurecht? Rückt dies und jenes ins rechte Licht? Glaubt sehnsuchtsvoll, dass es so gewesen sein müsste und kommt letztlich zur Erkenntniss, dass es niemals so war. Und da es nicht um Kapitalverbrechen geht, sondern um den Alltag des Lebens, der sich in aller Ernsthaftigkeit zwischen Geburt und Tod abspielt, wird auch niemand ausgeschlossen und kann sich jeder Leser mit diesem Buch identifizieren.

Ein grandioses kurzweiliges Buch, das wirklich für alle zu empfehlen ist!

LitGes, Juli 2013