62/Angst, Furcht und Schrecken/Prosa: Eva Schörkhuber. Habe ich Ihre letzte Frage nun beantwortet?
Eva Schörkhuber
Habe ich Ihre letzte Frage nun beantwortet?
schleim schleichende sabbernde sehnsucht
verführt folternden knecht deiner selbst
lechze lüstern…
Faust a.d.D.
Nein, wann genau es begonnen hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Auch beim besten Willen kann ich Ihnen nicht den genauen, den exakten Zeitpunkt nennen, an dem die Dinge sich aufgemacht haben, um den Lauf zu nehmen, den Sie jetzt ja schon kennen. Nein, von einem eindeutigen Anfang kann wirklich keine Rede sein. Sie müssen sich das eher vorstellen als einen… einen schleichenden Prozess – jawohl, das scheint mir der richtige Ausdruck zu sein, ein schleichender Prozess… Irgendwann hat es begonnen, völlig unbemerkt hat es eingesetzt und als ich endlich bemerkt habe, dass etwas bei mir oder vielmehr mit mir vorgeht, ist es schon viel zu spät gewesen. Im Übrigen habe ich nichts gegen diese Existenzweise einzuwenden: Sie bekommt mir ausgezeichnet. Und auch wenn Sie jetzt leicht angewidert das Gesicht verziehen – ich sage Ihnen: Es hätte Sie viel viel schlimmer treffen können. Ich kann Ihnen versichern, dass es kurz und relativ schmerzlos von statten gehen wird. Wobei die Schmerzgrenzen von Person zu Person natürlich variieren, einmal sind sie höher-, einmal niederschwelliger, das liegt in der Natur der… – Aber das wollten Sie ja alles gar nicht wissen, verzeihen Sie. Sie haben mich gefragt, wann genau es begonnen habe und ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Leider. Mir ist das ausgesprochen unangenehm, das müssen Sie mir glauben. Das Recht auf eine letzte Frage und auf eine ehrliche Antwort, bevor – nun, ich halte große Stücke auf dieses Recht. Dass ich gerade Ihre letzte Frage nicht einwandfrei beantworten kann, das kränkt mich und ich werde mich bemühen, Ihnen zumindest ein Bild zu geben von der Unabwägbarkeit Ihrer Frage. Es ist, wie gesagt, ein schleichender Prozess gewesen, der zu einem mir unbekannten Zeitpunkt eingesetzt hat und dessen Konsequenzen mir erst Monate, vielleicht sogar Jahre später aufgefallen sind. Es könnte zum Beispiel zu jener Zeit begonnen haben, als ich das erste Mal in diese Gegend gefahren bin. Sie wissen schon, diese Hügellandschaften, die so sanft geschwungen sind wie die Rücken ruhender Kamele. Und die Farben dieser Landschaften – oh, sie machen durstig, diese Farben, sie spielen Ihnen Sandlieder in die Augen und wirbeln Staub in Ihrer Kehle auf. Auch das Grün sprießt dort nicht aufdringlich und vorlaut, es stimmt sich ab mit den Ocker-, den Beige-, und Brauntönen. Eine Symphonie der Kargheit, eine Oase der Unstillbarkeit mitten in Europa. Vielleicht sind sie es gewesen, die den Prozess in Gang gesetzt haben, vielleicht haben mich diese Farben, diese Töne – nun, soweit gebracht, dass ich jetzt versuche, Ihre letzte Frage zu beantworten. Wenn ich an diese Gegend denke, an ihre Rundungen, ihre sanften Wölbungen, an ihre beigen Augenlider – eine sehnsuchtsvolle Wolllust überkommt mich dann, die ich nicht stillen kann, die ich ebenso wenig stillen kann wie den Durst nach… Nun, über dieser Sehnsucht, dieser Wolllust, vergesse ich immer, dass der ockerbeigebraune Teint dieser Landschaften an vielen Stellen zerfressen ist von Brandmalen, von Brandwunden. Schwarze Brachflächen klaffen zwischen den dunklen Grün-, den Kupfer-, Sandund Erdtönen und wenn ich an diesen Frevel denke, an die Feuerzungen, die regelmäßig an meinen Landschaften lecken und ihnen den Busch-, den Grasflaum vom Leibe fressen, dann ist mir, als hätte ich Blut geleckt, als könnte ich aus der Haut fahren und alles um mich herum verschlingen. Auch an die Grabsteine denke ich nicht, wenn ich mich dieser wolllüstigen Sehnsucht überlasse, an diese schiefen, weißen Grabsteine, die aussehen wie ein sehr unordentliches Gebiss, mit dem – bei Gott – nichts mehr anzufangen ist. Vielleicht ist es auch dieser immer wieder aufkeimende, dieser manchmal sogar auflodernde Ärger über die Brandflächen und die Grabsteine gewesen, der den schleichenden Prozess in Gang gesetzt hat. Ach, Sie merken schon, der Zeitpunkt, an dem es begonnen hat, er lässt sich einfach nicht genau bestimmen. Es könnte auch sein, dass es gar nichts mit dieser Gegend, mit diesen Landschaften zu tun gehabt hat. Dass es vielmehr von innen heraus passiert ist, dass in meinen Venen etwas begonnen hat, zu zirkulieren, das meine Gesamtkonstitution verändert hat – sie nachhaltig verändert hat. Ich kann mich zum Beispiel an jene Zeit erinnern, als mein Blut begonnen hat, zu köcheln, zu schäumen. Es ist die Zeit meiner ersten Hitzen gewesen. Vor dieser Zeit habe ich den Körpern anderer Menschen tatsächlich nichts abgewinnen können. Sie sind mir immer nur im Weg gewesen, im Weg gestanden, gesessen oder gelegen. In dieser Zeit aber habe ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas von dieser viel besungenen, viel bebilderten Anziehungskraft gespürt, die zwischen menschlichen Körpern auftreten kann. Ein mir bis dahin unbekanntes Verlangen nach Haut, nach feuchter Wärme und pulsierendem Atem hat begonnen, mich heimzusuchen. Und so bin ich tage-, bin ich nächtelang herumgestreunt auf der Suche nach Körpern, die mich anziehen, denen ich mich nähern, die ich umkreisen, umgarnen, berühren kann. Gesucht und auch gefunden habe ich sie, diese Körper, die ich erkundet habe, in die ich eingedrungen bin, die Körper, die ich aufgenommen habe. Oh! Wie kindisch, wie wählerisch ich doch gewesen bin am Anfang. Wie viel Zeit ich doch verloren habe mit sinnlosen Streifzügen, auf denen mir niemand angemessen erschienen ist. Im Laufe der folgenden Jahre habe ich dann begonnen zu begreifen, dass es sich nicht lohnt, wählerisch zu sein, dass diese Art der Anziehungskraft zwischen allen Körpern hergestellt werden kann, dass sich jedem Körper zumindest ein paar Lusttropfen abpressen lassen. So habe ich mit der Zeit immer mehr Körper aufgenommen, immer mehr Körper besessen – bis, ja bis ich schließlich alle gefickt habe. – Schauen Sie nicht so. Nicht so konsterniert. Sie habe ich ja auch… Sie möchten mir doch jetzt nicht weiß machen, dass Sie es nicht genossen, dass Sie es nicht geil gefunden haben, wie ich in Ihnen diese Lust nach mehr, nach immer mehr stimuliert, wie ich aus Ihnen diese Gier herausgepresst habe, die Sie alles, alles und jeden um sich herum hat vergessen lassen. Kommen Sie mir nicht damit! – Aber lassen wir das. Es geht jetzt nur noch um Ihre letzte Frage, die ich versuche, zu beantworten. Allerdings kann ich wiederum nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob es diese, ob es meine deregulierte Libido gewesen ist, die diesen schleichenden Prozess in Gang gesetzt hat. Vielleicht hat sie ihn auch nur verstärkt, befördert. Sie wissen ja, wie schwierig es ist, die Wechselwirkungen zwischen endogenen und exogenen Faktoren zu bestimmen. Wenn wir zum Beispiel an unsere Situation hier denken, an diese Situation zwischen uns beiden … – Aber ach, verzeihen Sie! Ich lenke schon wieder ab. Schließlich geht es um Ihre letzte Frage, die zu beantworten ich mir wirklich alle Mühe gebe, das müssen Sie zugeben. Ich kann, wie gesagt, den genauen Zeitpunkt, wann das alles begonnen hat, nicht bestimmen. Mir ist das auch wirklich unangenehm, aber ich versuche, Ihnen ein paar mögliche Momente zu nennen, an denen es begonnen haben könnte. Zu diesen möglichen Momenten zählt auch jener, an dem sich mir dieser Satz auf die Zunge gelegt hat, dieser Satz von den Masken und den Vorhängen. Ich erinnere mich genau: Am Fenster bin ich gestanden, mit einer Tasse Kaffee in der Hand und habe zugesehen, wie diese Mauer abgerissen worden ist. Alle haben sich damals daran beteiligt. Mit großen oder mit kleinen Werkzeugen haben sich alle an dem Mauerwerk zu schaffen gemacht. Handmeißel, Schraubenzieher und Stemmeisen, aber auch Bagger- und Traktorenschaufeln sind im Einsatz gewesen. Und in mitten dieses empörten Klopfens, dieses pulsierenden Hämmerns ist dieser Satz auf meiner Zunge gelandet. „Die Masken fallen wie Vorhänge“ habe ich laut ins Fensterglas hinein gesagt. Zuerst habe ich, wie Sie sich denken können, wenig mit diesem Satz anzufangen gewusst. Mit der Zeit aber ist er mir immer klarer geworden, durchsichtiger und verständlicher. Masken – Sie verstehen schon – wenn Masken fallen, dann gehen die meisten davon aus, dass sich das, was sich hinter den Masken verborgen hat, nun offenbart. Wenn Masken im Spiel sind, dann wird erwartet, dass es etwas hinter den Masken zu entdecken, freizulegen gibt. Nun, ähnlich ist es im Falle der Vorhänge oder der Jalousien. Hinter ihnen wird stets etwas im Verborgenen gehalten – so zumindest die landläufige Vermutung – und werden sie zur Seite geschoben, dann tritt zu Tage das, was im Dunkel hätte bleiben sollen. Verstehen Sie? Masken wie Vorhänge stimulieren das Vorurteil, es verberge sich hinter ihnen etwas, etwas, das realer, authentischer sei als die Maske oder der Vorhang selbst. Das altbekannte Vorurteil von Sein und Schein, Sie wissen schon. Wenn sich nun, frage ich Sie, wenn sich nun aber nichts, rein gar nichts hinter der Maske oder dem Vorhang verbirgt, was würde dann passieren, wenn sie fielen, die Masken und die Vorhänge? – Richtig, ich sehe, Sie begreifen schnell. Sie hätten wieder nur die Maske und den Vorhang vor sich. Und wenn es nun in meinem Fall genauso wäre, dass es niemals begonnen hätte, dass meine Masken immer schon gefallen wären wie Vorhänge, hinter denen sich nichts verbirgt, nichts als die Maske, nichts als die Fratze, die Sie jetzt vor sich sehen, die nach dem Fall des Vorhanges, ob nun eisern oder nicht, auf der Bühne steht, mit Ihnen gemeinsam, die ihre Zähne in diese Landschaften schlägt, die sie aussaugt, die sie auslaugt die sanften Wölbungen und Rundungen dieser Landschaften, die so durstig machen und in denen sich die Oasen der Unstillbarkeit befinden? Unstillbar also das Verlangen nach Mehr, Mehr, Mehr, denn geil ist die Gier und heiß ist der Preis, und nur für den Schein gibt’s das Sein, das Etwas- Sein, und die Wirtschaft ist groß, soviel Blut überall, das Blut von meinen Lippen leckt die Zunge, es bläht dein Blut blubbernde Blasen, in meinem Magen Säure ätzt, mein Bauch spannt in fetter Fülle und wenn die Blase voll ist schütt‘ ich dich wieder aus.
Habe ich Ihre letzte Frage nun beantwortet?
Eva Schörkhuber Lebt und arbeitet in Wien und Bratislava (als Autorin, Lehrbeauftragte, Lektorin und Redakteurin). Ausgezeichnet mit dem exil- Literaturpreis 2012 und dem Theodor-Körner-Preis 2013. Literarische Veröffentlichungen in der Edition Atelier, der edition exil, im Globus Verlag, bei Sonderzahl und in Literaturzeitschriften (Anstalten, hochroth, Lichtungen, Podium, Triëdere). Neueste Veröffentlichungen: ... und herzte es (hochroth 9/2015), Aus allen Richtungen Karlsplatzierungen (Sonderzahl 2015), sowie der Roman Quecksilbertage (Edition Atelier 2014).