
74/Körper.Teile: Zum Geleit
„Zwar werde ich meine Gedanken zu Papier bringen, aber das ist ein unzulängliches Medium für die Mitteilung von Gefühlen.“
„Nothing is so painful to the human mind as a great and sudden change.“
(Mary Wollstonecraft Shelley)
Vor 200 Jahren erblickte das Werk „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ das fahle Licht der Buchläden. Zwei Jahre davor verbrachte eine Gruppe (mehr oder weniger) junger Briten eine sturmumtoste Nacht am Genfer See. Darunter befanden sich der jeglicher Dekadenz nicht gerade abholde Lord Byron, dessen Leibarzt John Polidori und die 18jährige Mary Shelley. Byron kam auf die Idee, dortselbst unheimliche Geschichten zu schreiben. Er und Polidori schwelgten daraufhin im Vampirismus und legten den Grundstein zu Bram Stokers beinahe 100 Jahre später erscheinendem Erfolgsvampir Dracula; Mary Shelley hingegen erfand in dieser Nacht ein Ungeheuer, das uns ebenfalls in der Literatur, im Film, in Games oder einfach nur in unseren Träumen heimsucht: das Monster von Frankenstein. Erschaffen aus den Körperteilen Verstorbener unterschiedlichster Herkunft und Gesinnung, führt es seit damals ein untotes, aber nachhaltiges Leben.
Anlässlich dieses Jubiläums erscheint auch jene Ausgabe von ETCETERA, die nun vor Ihnen liegt: unterschiedliche Texte, Teile unterschiedlicher Textkörper – ebenfalls ein Monster, wenn Sie wollen. Essay neben Lyrik, Trash neben Genre neben Metaebene (Kochrezepte nicht zu vergessen!), komplette Monster neben Körperteilen neben der Darstellung innerer Werte, letztere mitunter nach außen gekehrt. Ergänzt wird die Textauswahl um eine aktuelle Bibliografie zum medienübergreifenden Nachleben von Frankenstein und seinem Wesen.
Dazu ein Heftkünstler, der nicht nur ein hervorragender und international anerkannter Fotograf und Autor, sondern auch ein Kenner der nicht unblutigen Materie ist. Seine nobel-ruhigen Bildbeiträge zum Mythos „Frankenstein“ dürfen hier getrost als Haltegriffe in einer mitunter brachial anmutenden Sprachlandschaft gelten.
Wo auch heutzutage die wirklichen Ungeheuer zu Hause sind und ob nicht die Monster mitunter menschlicher sind als die Menschen, darüber darf man ja getrost streiten: „Ich bin ein Monster“, bekannte etwa der von uns sehr
geschätzte britische Horrorschriftsteller, Fotograf, Maler und Regisseur Clive Barker beim Filmfestival in Sitges 2009 auf die Frage, wie sich all seine Geschichten verbinden ließen. „Schauen Sie, ich bin als schwuler Junge aufgewachsen, bin geschlagen, getreten, verspottet worden. „Ich habe mich immer als Monster gefühlt.” Ob sich daran jemals etwas ändern würde? „Nein“, meinte Barker.
In diesem Sinne: Wir begrüßen Sie in der Welt von ETCETERA 74 und reichen Ihnen nun die Hand. Wenn Sie wollen, dürfen Sie diese auch gern behalten.
Ihre Redakteure Fröhlich & Ballhausen