Gudrun Breyer: Jasminblüten und Bittermelonen

Gudrun Breyer
Jasminblüten und Bittermelonen

Li-Ming! Die Stimme der Nachbarin weckt sie. Sie richtet sich auf, ist mit einem Bein bereits aus dem Bett. Tastet nach der Zahnbürste, öffnet gleichzeitig das Fenster und nimmt den Reistopf vom Fensterbrett. Risse laufen aus den Fensterecken die Mauer Richtung Fußboden. Graues Lanolin, das nach nassem Hund riecht, wenn sie aufwäscht, was sie nicht tut. Der Weg zum Brunnen ist tückisch, das Stiegenhaus uneben, schmal und unbeleuchtet. Die Stromleitungen hängen wie mächtige Spinnweben von der Decke, verästeln sich, verschwinden in Mauern, enden ziellos: Fühler, die nach Lasten tasten, die auf Schultern hin und her getragen werden. Planen, leere Kartons, schwere Körbe und Köpfe. Sie nimmt die Emailleschüssel vom Regal, einem morschen Holzbrett mit fasrigem Rand. Es war einmal Teil einer roten Truhe mit goldener Zierbordüre. Lack und Verzierung sind fast verschwunden, geblieben ist eine Ahnung der früheren Gestalt. Ein Prachtgegenstand. Bettwäsche darin oder Kleidungsstücke, Seidenstoffe, Festtagsgeschirr. Über Generation vererbt, von Haus zu Haus und Wohnung zu Wohnung getragen. Zurechtgerückt in sonnigen Ecken, poliert, abgestaubt. Vollgepackt, fortgeschleppt, die Bodenbretter vom Gewicht verformt. Von luftigen Dachböden in Räume delogiert, die die Armut größer erscheinen ließ, als sie waren. Zugestellt mit Kräutern in Tontöpfen und der Hoffnung, damit den Geruch des Mangels zu übertünchen. Ein letztes Mal weggebracht, diesmal mit Resignation. In einem Keller, auf Mäusekot gestellt, Wurmfraß und Wasser überlassen. Mit den Bewohnern vor die Türe gesetzt. Sie stellt die Wasserschüssel vorsichtig auf dem Klapptisch ab. Das Wasser schwappt träge. Sie zündet ein Windlicht an, wäscht sich das Gesicht, schiebt gleichzeitig mit dem Knie die Kiste mit den Lebensmitteln unter das Bett, notiert sich gedanklich, was nach der Arbeit zu besorgen ist. Fischsauce. Zitronengras und Koriander, wenn noch etwas davon in einem der Beete um den Bahnhof wächst. Die Frühlingszwiebel neben dem Hallenbad waren eines Tages durch weißen Jasmin ersetzt worden. Jasmin braucht sie nicht, aber einen neuen Sonnenhut. Das Loch in ihrem alten lässt sich nicht stopfen. Bei jedem Stich franst der Stoff weiter aus. Die Bürste fällt in die Waschschüssel. Sie trocknet sie an der Bettdecke ab, während sie das Kissen aufschüttelt, isst ihren Reis und kleidet sich dabei an. Li-Ming, alles gut? Das Klopfen der Nachbarin an die Wand, kurz darauf Frau Wangs winkende Hand am offenen Fenster. Irgendwann wirdsie noch hinabstürzen. Ihr schmächtiger Körper aufgespannt im Gewirr der Stromleitungen. Kreuz und quer laufen sie zwischen den Häuserfronten, viele von ihnen nutzlos und deshalb ungefährlich für die Nachbarin. Wie sie da liegen würde, die kleine Frau Wang. Wie die intakten Leitungen zu knistern begännen und kurz aufleuchteten. Wie die Weihnachtsbeleuchtung in den Einkaufsstraßen. Ob so das Himmelsnetz1 aussieht, an dem die Regierung webt? Eng gespannt von Bürger zu Bürger. Sie schiebt das Windlicht näher an den leeren Reistopf und bückt sich, bis sie ihr Gesicht darin vage ausmacht. Es reicht für einen Lidstrich, zwei Tupfer Rouge und eine gewagte Umrahmung des Mundes. Li-Ming, die Hauptstraße ist gesperrt, ruft die Nachbarin. Noch immer keine Brandursache bekannt, sagt der Nachbar aus dem oberen Stockwerk. Sie wäscht den Topf in der Waschschüssel aus und stellt ihn zum Trocknen auf die Blechkiste, die ihr als Sessel dient. Ob in den Töpfen vor dem Museum der Pak choy schon auswächst? Mehrere Produktionsstätten in dem Gebäudekomplex, sagt die Nachbarin. Schuhe. Handys. Kinderspielzeug. Die armen Leute. Mausetot. Ob das Licht wieder funktioniert, fragt der Nachbar. Nicht in diesem Stockwerk, sagt die Nachbarin. Bei ihm auch nicht. Dann auch nicht die Videokameras am Hauseingang? Die dann wohl auch nicht. Ob sie wieder ein Rad hat?, will die Nachbarin wissen. Denn wenn nicht, kann sie ihr eines besorgen. Mit ihren Ausweisen geht das ja nicht mehr, oder hat sich an ihrem Punktestand etwas geändert? Pst!, sagt Li-Ming, aber der Nachbar redet ebenso laut weiter wie die Nachbarin. Sie soll endlich Jasminblütenpunkte2 sammeln. Und nicht mehr bei Rot über die Straße gehen. Soll sie sich nun um ein Rad für sie umschauen?, fragt die Nachbarin. Warum sie überhaupt die Sache mit dem Rad riskiert hat, für etwas Gemüse? Warum begnügt sie sich nicht mit den Beeten in den markierten Zonen und den vorgeschlagenen Sorten? Pst!, sagt Li-Ming. Geheimnisse gibt es hier ohnehin keine, ob die Kameras funktionieren oder nicht, sagt der Nachbar. Sie lauscht den Worten, die durch das offene Fenster hereinströmen. Sie werden brüchig und zerfallen in sinnlose Lautfäden, sobald sie auf Widerstand stoßen. Die Blechkiste, das Bett, ihr Körper: an allem haften die Worte. Wenn sie sie einfärben und sichtbar machen könnte, wäre ihr Zimmer voll bunter Buchstabengirlanden. Das Beet neben dem Bambus im Zentralpark. Dort hat sie schon lange nicht nach dem Rechten gesehen. Choy sum dort und hinter dem kleinen Fischteich Bittermelonen. Übrigens, fährt die Nachbarin fort, hat sie den Schalenkoffer, den sie ihr geborgt hat, verschenkt. Für zwei Punkte. Den wollte sie ohnedies nicht zurück, oder?,  weil eine, der sie kein Fahrrad verkaufen, die hat sowieso keinen Zugang mehr zum öffentlichen Verkehr. Nicht, dass sie sie nicht ausreichend gewarnt hätte. Ja, sagt der Nachbar, er weiß noch, wie stolz sie auf das Fahrrad war, wie sie erzählt hat, wie lange der Vater gebraucht hatte, um all die Teile zusammenzubekommen. Damals hat es angefangen mit seiner schwachen Lunge, erinnert sich die Nachbarin, die den Vater selbst nie kennengelernt hat. Alles nur damit sie ein Fahrrad hatte, und dann hat sie statt Jasminblüten Gemüse im Kopf. An den neuen Arbeitsplatz hat sie nicht gedacht, sagt der Nachbar. Dass das Umstände machen könnte, dass sie nun zu denen gehört, die gezeichnet sind als solche, die Umstände machen. Die Sache ist die, sagt Li-Ming und denkt an die weiten Terrakottatöpfe vor der Tischtennishalle, ihren Ingwer und Blutmangold zwischen den Ziersträuchern. Das fällt nicht einmal auf. Das lässt sich nicht schönreden, sagen der Nachbar und die Nachbarin gleichzeitig, aber aufhalten wollen sie sie nicht länger, wo sie ohnehin schon spät dran ist und die Wohnungstüre aufsperrt, während sie Krümel unter das Bett fegt. Sie fegt doch Krümel unter das Bett?, so hört es sich jedenfalls an. Sie schließt das Fenster, löscht das Windlicht und sieht ihre Gestalt dunkel im Spiegel. Der Spiegel hängt nun dort, wo früher das Fahrrad war, zwischen den Halterungen der Wäscheleine hängt er. Wenn sie die Kleidung schlecht auswringt, tropft es auf das Bett. Dann liegt sie nachts wach und lauscht dem Plätschern. Sie rückt an die Bettkante und schlägt sich morgens den Kopf am Klapptisch an, wenn Frau Wangs Stimme sie weckt. Die Beule läuft dann rot an, wie die aufgehende Sonne, die sie am Weg zur Arbeit begleitet. Vor dem Firmenareal bleibt sie stehen und sieht der Sonne beim Steigen zu, solange bis in ihrem Blickfeld Dutzende schwarze Kreise tanzen, die sie durch den Tag begleiten, in die stickige Werkshalle und auf ihren Umwegen zurück nach Hause. Durch Parkanlagen, vorbei an Grünstreifen, Pflanzenrabatten vor Museen, Schulen und Kinos. Die Beule macht ihr nichts aus. Auch nicht ein verwüstetes Beet oder ein Topf, aus dem man ihr Gemüse entfernt hat. Sie hat überall in der Stadt Pflanzen angebaut. Sie sind ihr nicht nur Nahrungs-, sondern Lebensmittel und so wird sie weiter den öffentlichen Raum mit alten Sortenunterwandern, und andere dazu aufrufen, es ihr gleichzutun. Die Wege werden weiter, aber das macht nichts. Nichts machen die Blasen an den Füßen. Sie braucht kein Fahrrad, kein Zugticket, keine Jasminblütenpunkte. Sie spinnt ihr eigenes himmlisches Netz.

Gudrun Breyer
Geb. 1975, Studium der Anglistik, Geschichte und Library and Information Science. Lebt in Niederösterreich und arbeitet als Erwachsenenbildnerin in Wien. Etliche Lesungen.  Veröffentlichungen zuletzt in DUM und etcetera.


1 Das Überwachungssystem der chinesischen Regierung.
2 Das Sozialkredit-System basiert auf der Vergabe von Punkten
für wünschenswertes bzw. einen Abzug für negatives soziales oder politisches Verhalten. Ein niedriger Punktestand führt zu Einbußen im Alltag (eingeschränkter Zugang zu sozialen Dienstleistungen, verminderte Reisefreiheit und Kreditwürdigkeit). Kommunen haben eigene Kriterien für ihreSozialkreditsysteme und eigene Namen. So heißt das System in Xiamen „Jasminblüten-Sozialkredit“.