30/ 1. Preis LitArena 3: Der Whiskyflaschenbaum, Katharina Bendixen
etcetera 30/LitArena 3/November 07
1. Platz des LitArena-Literaturwettbewerbes 2007
DER WHISKYFLASCHENBAUM
Katharina Bendixen
Mit den Jahren ist der Baum sehr gut gewachsen, Sommer und Winter konnten ihm niemals etwas anhaben. Es gab Zeiten, in denen der Baum besser wuchs, und es gab schlechtere Zeiten. Es gab Sommer, in denen ich den Baum nicht gießen durfte. Die Mutter sagte, ich solle den Baum nicht gießen. Gieß den Baum nicht, sagte die Mutter. Ich goss den Baum. Gieß den Baum nicht, sagte die Mutter zweimal, dreimal, sie sagte es zweimal, dreimal am Tag, jeden Tag, jede Stunde sagte sie es und schaute aus dem Fenster auf den Baum. Sie wusch die Gläser und die Teller und trug dabei die lilafarbene Kittelschürze, die der Vater verabscheute. Ich verabscheue deine Kittelschürze, sagte der Vater in diesen Zeiten häufig zu der Mutter. Ich goss den Baum, ich goss ihn zweimal, dreimal am Tag, jeden Tag, jede Stunde goss ich ihn. Ich düngte und pflegte den Baum, ich goss ihn mit der grünen Gießkanne, mit der roten, mit allen Gießkannen goss ich ihn; ich goss und ich pinkelte gegen den Baum, weil das auch helfen sollte, hatte ich gehört; ich trank in der Küche, so viel ich konnte, und dann lief ich schnell nach draußen und sah nicht auf die gläsernen Zweige und pinkelte gegen den Baum. Aus meinem Zimmer trug ich die Erde, auf der die Pflanzen nicht wuchsen, zurück in den Garten und verteilte sie um den Baum, damit der Baum besser wuchs. Und der Baum wuchs, der Baum wuchs sehr gut.
Und niemals spielte ich unter dem Baum auf der verdorrten Wiese. Nur einmal rollte der Ball versehentlich unter den Baum. Er rollte und prallte ab vom gläsernen Stamm des Baumes und rollte ein Stück zurück und blieb liegen. Direkt unter den gläsernen Zweigen lag er, ein undichter Deckel ließ einen Tropfen auf ihn fallen. In diesem Moment rief die Mutter zum Abendessen. Der Ball lag blau auf der Wiese. Es war ein blauer Ball. Ich aß im Haus ein Brot mit Salami und lief zurück in den Garten. Der Baum hatte während des Essens den blauen Ball verschluckt. Durch das Glas schimmerte die blaue Plastik, der Baum verdaute zerfetzend den Ball. Die Mutter schenkte mir keinen neuen, weil ich den Baum gegossen hatte. Sie hatte gesagt, ich soll den Baum nicht gießen, gieß den Baum nicht, hatte sie gesagt, aber ich hatte gegossen. Der Vater schenkte mir keinen neuen. Es gab keinen neuen Ball.
Es waren fünf oder sechs Sommer, in denen ich den Baum nicht gießen durfte und ihn goss. Es waren lange Sommer; und auch lange Winter waren es, in denen ich den Baum nicht gießen durfte und ihn goss; und das Wasser gefror über der kargen Erde um den Baum; und ich lief mit dem Ranzen auf dem Rücken zur Schule und rutschte auf dem gefrorenen Wasser des Gehsteigs aus; und in der Schule dachte ich an den Baum, der wachsen musste; und die Farblehre im Zeichenunterricht verpasste ich wegen dem Baum und der gefrorenen Erde; und ich verpasste sie auch, weil ich müde war vom Gießen. Der Baum musste wachsen. Und er wuchs gut, immer gut wuchs der Baum.
Es gab auch Zeiten, in denen ich den Baum gießen musste. Gieß den Baum, sagte die Mutter, und ich goss ihn. Gieß den Baum mehr, sagte die Mutter, und ich goss ihn mehr. Die Mutter stand in der rosafarbenen Kittelschürze im Garten und schickte mich Gießkanne um Gießkanne von der Regentonne zum Baum und zurück zur Regentonne; ich schleppte das Wasser in der grünen Gießkanne, in der roten Gießkanne, gleichzeitig in beiden Gießkannen schleppte ich das Wasser; gieß den Baum, rief die Mutter und lief aufgeregt auf der Wiese hin und her, und ich goss den Baum. Mit rosafarbenen Bewegungen dirigierte die Mutter das Gießen und schaute zum Vater, der im Sonnenstuhl unter dem schattigen Baum saß und blaue Plastikstücke ausspuckte. Im Schatten gefiel ihm die Kittelschürze der Mutter; deine Kittelschürze gefällt mir, sagte der Vater und spuckte ein blaues Dreieck aus. Ich sammelte die blauen Plastikstücke ein, die der Vater über die verdorrte Erde hinaus spuckte. In meinem Zimmer sammelte ich die Stücke in einem Pappkarton und formte mit den Jahren einen neuen Ball daraus. Bis zum Ende reichten sie nicht für einen ganzen Ball, die blauen Stücke; noch heute liegen sie dort und sind in eine zerklüftete Halbkugel geformt.
In den Taschen der Kittelschürze hatte die Mutter in den Zeiten, in denen ich den Baum gießen musste, Strohhalme und Korken mit Mustern; in diesen Zeiten schnitzte die Mutter nachts in der Küche und hatte ausgebeulte Kittelschürzentaschen. Sie schenkte dem Vater täglich neue Korken mit Mustern aus Spatzen und Gänseblümchen; und die Innenseiten der Strohhalme verzierte sie monatelang mit Ornamenten. Der Vater verkorkte und schlürfte durch Strohhalme, und die Mutter schrie, dass ich den Baum gießen sollte, und klebte sich Pflaster über kleine Schnitte in den Händen, die sie sich nachts beim Schnitzen zugefügt hatte; und ich düngte und pflegte ihn und schnitt ihm eine neue Krone, die schöner geformt war als die alte und die der Mutter gefiel. Und der Baum wuchs sehr gut, immer gut wuchs der Baum.
In diesem Jahr ist der Whiskyflaschenbaum besonders gut gewachsen. Längst ist er groß genug, aber noch immer gieße ich den Baum. Es ist ein Sommer, in dem die Mutter sagt, dass ich den Baum nicht gießen soll. Gieß den Baum nicht, sagt die Mutter, und ich gieße. Ich gieße, weil der Vater im Schatten unter dem Baum sitzt und fleht. Der Vater fleht und findet mich gleichzeitig lächerlich, weil ich scheue. Scheu doch nicht, sagt der Vater, oder bist du kein Mann, sagt der Vater. Damit der Vater mich nicht lächerlich findet, gieße ich den Baum. Ich gieße ihn mit der grünen und mit der roten Gießkanne, beide haben schon Löcher. Ich renne durch den Garten; von der Regentonne renne ich zum Baum mit den Gießkannen in den Händen, starke Muskeln habe ich, aber wenn die Gießkannen Löcher haben, helfen auch die Muskeln nichts; ich verliere die Hälfte des Wassers schon auf dem Weg, aber ich gieße. Der Vater findet es lächerlich, wie ich gieße. Aber ich gieße. Denn gleichzeitig fleht er. Ich dünge nicht mehr, aber ich gieße. Die Mutter steht in der beigefarbenen Kittelschürze in der Küche und wäscht die Gläser und Tassen und spült die Strohhalme aus. Der Schimmel zwischen den Ornamenten lässt sich nicht entfernen, es gibt keine so schmalen Abwaschbürsten. Ich verabscheue deine Kittelschürze, Mutter, rufe ich aus dem Garten in die Küche. Der Vater unter dem Baum kichert und schlürft durch schimmlige Strohhalme. Die Korken hat es mit den Jahren zersetzt, die Spatzen und Blumen sind abgebrochen; und dieses Jahr hat die Mutter noch keine neuen Korken geschnitzt, denn es ist ein Sommer, in dem die Mutter sagt, dass ich den Baum nicht gießen soll. Ich verabscheue deine Kittelschürze, Mutter, schreie ich durch den Garten in das Haus hinein. Scheu doch nicht, kichert der Vater, während ich schreie, oder bist du kein Mann, kichert der Vater. Die Mutter in der Küche zerdrückt im Abwaschwasser ein Glas mit der bloßen Hand. Blutig schreibt sie Worte gegen die Scheibe des Küchenfensters, die ich von außen nicht lesen kann. Ich gehe in mein Zimmer zu den blauen Plastikstücken, die ein Ball waren. Blau und spiegelverkehrt lege ich Worte auf den Fußboden, die ich nicht lesen kann. Im Garten fleht der Vater, und ich weiß, auch wenn ich den Baum nicht gieße, wird er nicht verdorren. Trotzdem gieße ich rennend mit kaputten Kannen. Der Baum wächst sehr gut. Das einzige, was mit den Jahren immer mehr verdorrt, ist die Wiese um den Baum. Mit blauen Plastikstücken verdorrt die Wiese; da helfen Muskel nicht und kein Gießen.
Biografie: Katharina Bedixen
Geboren 1981 in Leipzig, Kindheit in Laos, Studium der Buchwissenschaft und Hispanistik in Leipzig und Alicante, seit 2007 Promotion an der Uni Leipzig. Seit 2005 freie Literaturrezensentin u.a. für den Kreuzer Leipzig, den Poetenladen, Am Erker und jetzt.de. Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2006.
1993 und 1998 Preisträgerin beim bundesweiten Wettbewerb Schüler schreiben,
September 2005 Debütpreis des Poetenladens,
Endrundenteilnehmerin beim 13. Open Mike 2005,
erostepost-Literaturpreis 2007,
Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto – Stiftung im Herrenhaus Edenkoben 2007, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. Am Erker, entwürfe, Lichtungen, schreibkraft, Macondo.