57/konkrete Poesie/Essay: Gaby Gappmayr: Das Geheimnis des Raumes

Gaby Gappmayr

Das Geheimnis des Raumes - Zur poésie spatiale
von Ilse und Pierre Garnier von Gaby Gappmayr Aug. 2014

Eine gerade horizontale Linie durchquert den Horizont. Sie ist unterbrochen. Darunter steht „das Wort und’“. Dies ist ein Gedicht von Pierre Garnier aus den Poèmes géométriques von 1986. Dieses kleine Wort ‚und’, was bedeutet es? Worauf bezieht es sich? Es erscheint ohne narrativen Kontext. Und doch kennt man seine fundamentale Bedeutung. Es kann zwei Ideen, zwei Gedanken oder zwei Situationen miteinander verbinden. Es agiert wie eine Art konzeptuelle Brücke, es verknüpft etwas Vergangenes mit etwas Neuem. Der Blick dessen, der in dieses Gedicht eintaucht, stößt auf diesen Abgrund, diese Kluft, mitten in der horizontalen Linie. Genau hier öffnet sich der tiefe Raum des Gedichts. Diese Spalte wird zum Kern des Gedichts. Die Leere impliziert den semiotischen Aspekt des Wortes ‚und’. So überwindet man dieses Hindernis, die Bedeutung wird zu einer visuellen Realität. Das Unendliche durchschneidet die Leere und die Transparenz des Raumes. Die Wahrnehmung entspricht dem Vorgang des Lesens, das Weiß in der Mitte der horizontalen Linie hebt die Schönheit und Kraft dieses kleinen sprachlichen Zeichens hervor, das so unscheinbar aussieht, das aber das Gleichgewicht und die Kontinuität des Denkens verkörpert.

Einige Variationen über das Thema der Insel bei Ilse Garnier: das Wort île schwebt auf der Fläche, der Accent circonflexe steigt in die Lüfte. Es ist ein rein visuelles Zeichen, da es nicht ausgesprochen wird. Das kleine Dreieck des Akzents spiegelt sich im Wasser, es vervielfältigt sich im Raum, folgt weit entfernten Wegen, verliert sich im Unendlichen und umrahmt das Wort île. Eine Landschaft aus einem einzigen Wort, ein verlorenes Paradies ohne Worte, seine Geographie liest sich in seiner Bezeichnung. Der Leser verliert sich im Schimmern des Akzents, der auch exotische Vögel evoziert, vielleicht denkt man auch an märchenhafte Landschaften, an Gegenden, gemalt in der Imagination. Die Schrift ist hier zugleich der unendliche Raum eines Universums, das nur durch sie und die konkrete und visuelle Materie unseres Denkens existiert.

Das Weiß ist Teil des Gedichts. Das Wort erschafft den Raum. Der Raum wird zu einer Konstellation von Zeichen, von sprachlichen Zeichen aber auch von geometrischen oder mathematischen Zeichen. Pierre Garnier: „Ich will die Sprache bis zu ihrem faszinierendsten Kern führen: der geschriebenen Stille (Notiz vom 6. Mai 1978).“ Bei Pierre Garnier gibt es diesen Raum des Nicht-Gesagten, jene Spannung zwischen der Sprache und den geometrischen Zeichen. Ilse Garnier beschreibt die Poèmes géométriques ihres Mannes so: „In diesen poetischen Werken sprechen die Wörter nicht über die Dinge; sie dehnen sich auf dem Weiß der Seite nicht gemäß ihrer graphischen Form oder der Evokation eines Klanges aus, alles was zum Bereich des Empfindens gehört – die Wörter und Zeichen verweisen nur auf den Begriff, dessen Inkarnation sie sind und nicht auf die Welt.“

Die Sprache konstituiert den Raum. Der sprachliche Raum ist ein dynamisches Universum voller Perspektiven, Zeichen und Bilder. In den Fensterbildern von Ilse Garnier, einer Serie von Bildgedichten in deutscher Sprache, werden die Konstellationen in einem Raum entworfen, der von weißen rechteckigen Rahmen begrenzt ist. Als ob der Blick wie zufällig auf eine bestimmte Konstellation von Zeichen fallen würde: die Buchstaben des Wortes „Vögel“ schweben im Raum, ein Kreis öffnet und schließt sich um das „i“ des Wortes „Licht“, zwei Pfeile ziehen einen Vokal mit sich, ihr Klang scheint die Stille der leeren Räume zu durchbrechen. Der Bezug zu den berühmten Stundenbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts verweist auf den meditativen Charakter dieser Gedichte. Das Fenster ist das Echo zwischen Innen und Außen, die Schwelle des Raumes, wo sich Ferne und Nähe begegnen. Die Poesie ist wie eine Momentaufnahme im Ablauf von Zeit und Raum, sie lässt
die Schönheit und das Geheimnis des kosmischen Raumes erkennen.

Das Wort und der Raum, dies sind die wesentlichen Begriffe der poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier. In seinem ersten Manifeste pour une poésie nouvelle visuelle et phonique von 1963 betont Pierre Garnier die Bedeutung des Wortes : « Das Wort ist ein Element. das Wort ist Materie. das Wort ist ein Objekt. [...] das Wort ist der sichtbare Teil der Idee, wie der Stamm und das Blattwerk die sichtbaren Teile des Baumes sind. Die Wurzeln, die Begriffe leben darunter.“ In seinen Gedichten visualisiert Pierre Garnier die Spannung zwischen einem Wort und einer geometrischen Form, wie dem Kreis, dem Quadrat oder dem Rechteck. In den Fenêtres von Pierre Garnier aus dem Jahr 2000 gibt es eine Serie von Fensterrahmen, die auf den ersten Blick identisch zu sein scheinen. Aber die sprachlichen Bezeichnungen wechseln: In der Mitte des Flusses, Notturno, Melancolia, so die suggestiven Indikatoren. Der Außenraum ist leer, ohne Objekte und ohne Landschaften. Die Leere wird durch die Wörter belebt. Der Raum spiegelt sich im Blick des Lesers. Der Fensterrahmen, der Raum und die Semantik der Wörter sind Konstituenten der Stille. Die Immaterialität und das Metaphysische entsprechen dem assoziationsreichen Raum. Die Welt als Darstellung ist auch eine Reflexion über sich selbst, der Blick projiziert unsere Seelenzustände. Bei Pierre Garnier enthüllt der Raum den enigmatischen Charakter der Welt und bewahrt dennoch seine Einfachheit und Reinheit.

Die Architektur der Wörter, ihre Position auf der Seite und die fast musikalische Partitur der semantischen Konstellationen schaffen ein spatiales Universum. Der Leser ist Zeuge der rhythmischen Bewegungen der poetischen Sprache, er ist es, der das Tempo und den Rhythmus der Wahrnehmung bestimmt. Der Fluss der Buchstaben, die Verdichtung und Ausdehnung der Wörter, das Weiß, die Konzentration und Zerstreuung im Raum, all dies löst die Dynamik der spatialen Lesart aus. Andererseits misstrauen die beiden Dichter einer zu engen Beziehung zwischen dem Wort und den nicht sprachlichen Zeichen. Aus diesem Grund manifestiert sich der Raum oft in der graphischen und semantischen Spannung zwischen Bild und sprachlichem Ausdruck. „ [...] Das visuelle Gedicht bestand darin, auf einer Seite, eine Gruppe von Wörtern unter Spannung zu setzen, drei, vier, fünf Wörter, die in Wechselspielen zueinander stehen. D.h., es war zugleich ein sprachliches Objekt, denn dieser Wörter standen untereinander in Beziehung, aber es war auch eine Spatialisation in dem Sinne, dass die einzelnen Wortzellen in Spannung gebracht wurde.“ (Ausschnitt aus einem Interview für die Ausstellung Poésure et Peintrie in Marseille, 1993).

Die Verräumlichung der sprachlichen Zeichen, die Poetisierung der Wahrnehmung und des Raumes und der Lyrismus der ausgewählten Sujets, dies ist der Leitfaden der poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier. Die languematière kann sich in einen kosmischen Raum verwandeln, wie in dem Gedicht Soleil von Pierre Garnier von 1963. Der Vokal „o“ des Wortes soleil setzt sich von der linearen Struktur des Wortes ab, er vervielfältigt sich, nimmt unterschiedliche Formen und Größen an, das „I“ ist irgendwo in der Mitte, der Vokal gleicht einer Sternenkonstellation. In der Anthologie Spatialisme et poésie concrète (Gallimard Paris 1968), schafft Pierre Garnier eine Analogie zwischen dem Wort Sonne und der Ausdehnung auf der Seite: „Dies also das Wort, das zerbirst...alles schimmert, es geht vom
Wort Sonne ein ausschließlich sprachliches Strahlen aus.“ In seinen spatialistischen Gedichten lädt er uns ein, mit ihm die Abstraktion des Sichtbaren zu teilen. Die untergehende Sonne, das ist ein Kreis über einer Linie, die Felder, das sind gerade Linien und die Bäume sind Vertikalen. Die Geometrie ist die ideale Landschaft, die Konstruktion verändert die Sprache und umgekehrt. Die Bedeutung verändert die Semantik der geometrischen Formen. So wird aus der statischen Form des Rechtecks für ein Feld im Winter ein dynamischeres Rhomboid für den Sommer. Der Wechsel der Jahreszeiten entspricht einer minimalen Modifikation der geometrischen Konstruktion.

Ilse Garnier liebt Gedichtserien, dies ist etwas Musikalisches, Thema und Variationen, wie in ihrem Buch La Meuse von 1991 im Querformat, 33 Variationen über das Thema Wasser. In der Musik kennen wir z.B. die Goldbergvariationen von Bach oder die berühmten Diabellivariationen von Beethoven. Für ihr Gedicht wählt Ilse Garnier einige Wörter, alle aus dem semantischen Umfeld des Wassers: fließen, rinnen, glatte Wasser, tiefe Wasser, Murmeln, gleiten, spiegeln, ruhige Wasser. Die Kontinuität des fließenden Wassers spiegelt sich in den Wiederholungen der Kaskaden des Verbs fließen. Sie akzentuieren den sprachlichen und visuellen Rhythmus des Flusses und verleihen der Landschaft, die vor dem Auge des Lesers vorbeizieht eine geometrische Struktur. Die Reflexionen im Wasser entsprechen dem Innenleben, die Wörter, die sich von den Bewegungen des Flusses absetzen, evozieren Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und unvergessliche Natureindrücke. Die Veränderungen von Zeit und Raum werden sichtbar. Bei Ilse Garnier wird der topographische Raum zu einem imaginären Raum. Das fließende Wasser erzeugt eine Bewegung im Raum. Es ist ein Gedicht über das Wesen des Wassers durch die Sprache.

Die Wörter, der Rhythmus und die Struktur der Wörter sowie der Blick des Lesers, der den Bewegungen der Wellen folgt, schaffen einen poetischen Raum. Die Typographie vermischt sich mit dem Rhythmus des Wassers. Die Sprache verräumlicht sich.

Ein charakteristisches Element bei Ilse Garnier ist die Konstitution von Raum durch die Strukturierung und Konstruktion der sprachlichen Zeichen. In ihren Jardins de l’Enfance von 1994 visualisiert sie Erinnerungen an einst, die Paradiese und Ängste der Kindheit, ein oft wiederkehrendes Thema bei ihr, wie in ihrer Fibel oder dem Malbuch. Die Landschaft ist nicht nur einer der klassischen Topoi in der Dichtung und Malerei, in der poésie spatiale repräsentiert sie die Idealität der Sprache.

Die Diskrepanz zwischen dem Wort und den graphischen Zeichen, die Konstruktion des Raumes durch die Durchdringung der Zeichen und die Schaffung eines poetischen Universums ausschließlich durch die Konstellation von Buchstaben und Wörtern auf der weißen Seite, die Realität des Raumes in der Konzeption des Lesers, dies charakterisiert Ilse und Pierre Garniers poésie spatiale. Auch die Interpunktion trägt zum Schillern des Raumes bei. Der Punkt, das Ausrufezeichen oder das Fragezeichen haben alle eine Semantik, von der Behauptung zur Begeisterung zum Zweifel. Sie geben die Emotionen des Raumes wider. Ein Fragezeichen stellt in Frage, der Gedankenstrich schafft Nachdenklichkeit, die Klammer öffnet einen Gedanken. Der Punkt ist die Inkarnation des Raumes.

In seinem Maitagebuch, das ihm als Nachwort dient, schreibt er jene eindrucksvollen Worte, die die Poetik und den Lyrismus seiner poésie spatiale evozieren und die nach Pierre Garniers Tod in diesem Jahr besonders bewegen: „Der Punkt – alle Interpunktionszeichen: Tod-Geburt und dazwischen – Nicht Fülle – Verschwinden – Erscheinen. [...] Jeder Punkt ist der Eintritt in die Transparenz. [...] der Punkt ist das Bild des Nichtbildes – der Übergang von der Leere zur Erscheinung – und zurück. Was existiert, existiert nicht, existiert. Die Endpunkte, die den Raum säumen. Außerhalb des Ortes der Ort. Ich finde mit anderen Mitteln die Zone der Dichtung.“

 

Gaby Gappmayr
Geb. 1966 in Innsbruck, Studium der Romanistik, Anglistik und Amerikanistik an der Universität Innsbruck. Lehr- und Übersetzertätigkeit. Veröffentlichungen zur französischen Dichtung und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und zu zeitgenössischen interdisziplinären Entwicklungen in der Literatur, Musik und bildenden Kunst.

 

erschienen im etcetera Nr. 57 / konkrete Poesie / Oktober 2014