Barbara Frischmuth - Ich hab immer versucht, meinen eigenen Weg zu gehen

Cornelia Stahl traf am 20.8.2019 in Altaussee die österreichische Autorin Barbara Frischmuth zu einem Gespräch. Im Interview erzählt sie über ihren Bezug zu Niederösterreich, den Einfluss des Erhalts von Literaturpreisen auf ihr Schreiben und die Bedeutung von Literatur im digitalen Zeitalter.

Die Zeitschrift etcetera ist seit vielen Jahren fixer Bestandteil der Literaturszene Niederösterreichs. Was verbinden Sie persönlich mit dem Land Niederösterreich?
Ich habe viele Jahre in Niederösterreich, in Oberweiden, in einem Gestüt mit vierzig Pferden und mit meinem ersten Mann, der Trabrennfahrer war, gelebt. Es war eine wichtige Zeit für mich, da ich mich aus Wien herausbewegt habe und meinen eigenen Weg gegangen bin und nicht den, den man halt damals ging. Österreich ist ein kleines Land und man kennt einander. Zuvor bin ich im Ambiente des Forums Stadtpark in Graz aufgewachsen, dann bin ich nach Wien gekommen. Die Mitglieder der Wiener Gruppe habe ich schon gekannt von Graz. Das war natürlich Avantgarde, und auch ideologisch von der Literatur her gesehen. Vorgegeben wurde, wie Literatur auszusehen hat. Für mich war es sehr wichtig, mich nicht in vorgegebenen Räumen zu bewegen. Da war der Rückzug in dieses Gestüt sehr passend, da es vollkommen anders war. Ich bin dann meinen eigenen Weg gegangen.

Und wie sah dieser eigene Weg aus?
Ich habe zunächst mit Sprachspielen experimentiert. Dennoch war es mir zu wenig, was ich vorgefunden habe, weil ich einsehen musste, dass die lange Prosa das Medium für mich war. Für die avantgardistischen Tugenden war das zu eng. Natürlich versuchte ich das zu machen, was vor mir noch Niemand gewagt hatte. Ich habe mich dann zu einer breiteren Sicht der Dinge weiterentwickelt.

Gab es Autoren/Autorinnen, mit denen Sie sich verbunden gefühlt haben?
Es gab Autoren, die ich sehr geschätzt habe. Das reichte von Arno Schmidt, H.C. Artmann bis George Saiko, aber ich wollte nie ein Vorbild haben. Ich wollte wissen, wie sie geschrieben haben. Wir mussten nach dem Krieg erstmal herausfinden, was passiert ist in den letzten zehn bis zwanzig Jahren, vor dem Nationalsozialismus. Wir hatten viel nachzuholen, was den Lesestoff anbetraf. Peter Handke hatte William Faulkner für sich entdeckt und sehr geschätzt. Und wir haben uns immer ausgetauscht in Graz. Alfred Kolleritsch war für Gottfried Benn zuständig - und ich für Else Lasker-Schüler - und Gunter Falk brachte aus Stuttgart immer die neuesten Trends mit.

Sie gelten als Vermittlerin zwischen den Kulturen. Was kann Literatur bewegen bzw. in Bewegung setzen?
Politisch bewegen kann man wahrscheinlich nichts oder nichts mehr, aber es kann den Horizont öffnen, kann Gedanken und Prozesse beeinflussen. Schreiben ist zudem eine uralte Kulturtechnik, die physisch gesehen, Auswirkungen auf das Gehirn hat. Lesen hat das Denken bis zu einem gewissen Grad geprägt, Das begann mit dem Gilgamesch-Epos, mit Homer und es eröffnet Möglichkeiten, sich mit anderen zu verständigen. Es ist Literatur, die international ist. Auch in der Türkei weiß jeder Student, wer Homer war. Das sind einfach die wichtigsten Werke, mit denen sich Menschen immer auseinandergesetzt haben. Wenn Literatur zu etwas gut ist, dann ist es diese Auseinandersetzung. Der andere Blickwinkel, der plötzlich in einem ist.

Der andere Aspekt ist jener der Sprache: Was Sprache kann. Das war für mich ein wichtiger Aspekt, als ich Sprachen (Türkisch, Ungarisch- Anm. d. Verf.) studierte. Es geht um den Vergleich unterschiedlicher Grammatiken und um die Ambiguität der Sprache. In Religionskriegen ist dem vorausgegangen, was in der Literatur, bei Gott oder als Engel durchaus auch in anderer Form existiert als wir glauben. Ambiguität verändert Kodizes, verändert die eigene Meinung, verändert die eigene Wahrnehmung und verändert die Wahrheit.

Wahrheit ist eben nicht, was in Stein gemeißelt ist, sondern etwas Flexibles und sehr Ambivalentes. Und es ist Aufgabe der Literatur, sich mit diesen Ambivalenzen auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel  dem Nazijargon, der noch lange existierte, ohne dass man es bemerkt hat. Vertretern meiner Generation ist es oftmals so ergangen, dass wir Redewendungen unbewusst übernommen haben. Erst später haben wir uns gegenseitig auf die unkritische Verwendung aufmerksam gemacht. Das ist eine ganz wichtige Funktion von Sprachpflege, Sprachuntersuchung, was Sprache anstellt. Und diese Fähigkeit erwirbt man nur beim Lesen von Literatur, auch von älterer Literatur.

In Ihren Büchern geht es um Erinnern und Vergessen. Im Buch „Woher wir kommen“ (2012) vergleichen Sie das Verschwinden mit einem Zurückbleiben in einem Schacht. Ist es möglich, gegen das Verschwinden bzw. gegen die Vergänglichkeit anzuschreiben? Literatur ist immer präsent. Homer ist noch immer allgegenwärtig. Was wir uns am wenigsten vorstellen können, ist das totale Verschwinden. Die ganze Digitalisierung ist ein Sprung in dieses Thema. Auch da versucht man zu speichern, was zu speichern geht. Ebenso in der Fotografie. Die Geschichtsschreibung hat das für alle getan, aber das befriedigt den Einzelnen nicht. Da setzt Literatur an, Einzelschicksale aufzugreifen, individuelle Denkweisen darzustellen, von ihnen zu erzählen und ihr Leben zu verlängern, zumindest literarisch.

Die Landesausstellung Niederösterreich beschäftigt sich 2019 mit dem Thema Bewegung. In Ihrem Buch „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“ (1973) beschreibt die Protagonistin das Gehen als etwas, welches eine bestimmte Art des Nachdenkens hervorrief, das sich zu einem traumähnlichen Zustand steigerte. Welche Erfahrungen haben Sie selbst gemacht? Was wird beim Gehen in Bewegung gesetzt?
Beim Gehen wird ein Gedankenfluss in Bewegung gesetzt: Ein Satz entsteht im Kopf. Ich weiß nicht, woher er kommt. Wenn es so etwas wie Eingebung gibt, scheint es auf dieses Phänomen zuzutreffen. Der erste Satz ist also da. Irgendwann kommt ein zweiter Satz hinzu. Und daraus entwickelt sich allmählich eine Geschichte. Aber Schreiben erfordert Zeit, auch die Nutzung digitaler Medien erfordert meist viel Zeit und digitale Kommunikationskanäle stehlen kostbare Zeit, die scheinbar immer schneller vergeht.  Daher ist es wichtig, eigene Prioritäten zu setzen, was die Nutzung digitaler Medien betrifft.

Jeannie Ebner, längst vergessene Autorin der österreichischen Avantgarde, war nicht nur Literatin. Sie agierte als Mäzenin und Förderin meist noch unbekannter Autorinnen.
Ja, sie war oftmals in Altaussee, in der Wohnung der LiterarMechana und hat dort während des Sommers geschrieben. Begegnet bin ich ihr ab und an, hatte aber ansonsten keine weiteren Berührungspunkte mit ihr.

Sie erhielten zahlreiche Preise und Auszeichnungen, wie den Franz- Nabl-Preis, zuletzt den Ehrenring des Landes Steiermark. Wie beeinflussen diese Ihr Schreiben?
So gut wie gar nicht. Ich nehme sie gern entgegen, aber sie beeinflussen mein Schreiben nicht.

Seit Oktober 2018 gibt es in Österreich erneut Demonstrationen gegen die neue Regierung, an denen Sie teilnahmen und eine Rede hielten. Inwieweit sehen Sie sich als politisch agierende Autorin? 
Die globalisierte Welt gab es schon viele Jahre, bevor der Begriff eingeführt wurde. Wir müssen begreifen, dass wir eine gemeinsame Verantwortung haben für diese eine Welt. Das habe ich versucht auszudrücken in meiner Rede. Und weil ich es wichtig finde, in gesellschaftspolitischen Anliegen öffentlich einzugreifen, um wenigstens den Versuch zu machen, etwas zu bewirken, etwas zu verändern und in Bewegung zu setzen.

Vielen Dank für das Interview!

Barbara Frischmuth
Geb.1941 in Altaussee (Steiermark), studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik. Gründungsmitglied des Forum Stadtpark, Graz.      1967 erschien die Übersetzung des KZ-Tagebuchs der Jüdin Ana Novac, (Rowohlt Verlag), 1968 Die Klosterschule, (Suhrkamp), 1973 „Zurück zum vorläufigen Ausgangspunkt“ (Kurzgeschichten, die vor 1968 entstanden sind. Frischmuth publizierte Romane, Erzählungen, Dramen, Hörspiele sowie Übersetzungen aus dem Ungarischen. Zuletzt: „Verschüttete Milch“, 2019, Rowohlt-Verlag. Sie lebt in Altaussee.