Helmuth A. Niederle: Politisches und Unpolitisches in der Literatur. Eva Riebler

Helmuth A. Niederle
Politisches und Unpolitisches in der Literatur

 
Helmuth A. Niederle  

Eva Riebler interviewte im Oktober 2012 den Obmann des Writers in Prison Komitees und Präsidenten des Internationalen P.E.N., nachdem er von seiner Reise aus Korea zurückgekehrt war.

Die Texte Deiner afrikanischen Autoren und Schützlinge sind naturgemäß viel politischer als oftmals Texte österreichischer AutorInnen. Da Du Dich ihrer annimmst, ihre Texte herausgibst, transportierst Du den Sinn der Literatur. Inwieweit wirkt die Sinngebung auf die Autoren zurück?

Diese Frage besteht eigentlich aus zweien:
1. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass alle afrikanischen Autorinnen und Autoren stets politischer sind als ihre europäischen Kolleginnen und Kollegen. In allen Literaturen der Welt wird „Unpolitisches“ geschrieben, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Trennlinie zwischen politisch und unpolitisch eine nicht einfach zu ziehende ist. Wenn beispielsweise in einem Gedicht der Kummer eines Kindes thematisiert wird, weil es seinen Vater verloren hat, ist das an sich „unpolitisch“, weil weltweit Kinder ihre Väter verlieren. Doch lässt sich das Gedicht unpolitisch lesen, wenn der Leser erfährt, der Vater starb, weil er in einem schlecht ausgerüsteten Krankenhaus verreckte? Wenn man darüber hinaus weiß, dass die armseligen Spitäler von der Mehrheit der Bevölkerung aufgesucht werden müssen, weil sie sich nichts anderes leisten kann, und die auf der Höhe der Zeit stehende Medizin nur in den für die Eliten leistbaren Krankenhäuser zu finden ist, dann wird so ein Gedicht zu einem Feuerwerk der Kritik an bestehenden Verhältnissen.

2. Nun zur zweiten Frage: Leider wird vieles an literarischen Werken, die außerhalb von Europa geschrieben werden, am „europäischen“ Geschmack gemessen. Das bedeutet: Häufig wird gestutzt und geputzt, damit der Europäer „die Freude am Lesen“ nicht verliert. Außerdem wird zumeist nicht das Werk einer Autorin oder eines Autors kontinuierlich in Übersetzungen veröffentlicht, sondern nur das eine oder andere. Wer neben Romanen auch Gedichte, Essays oder Kurzgeschichten schreibt, ist recht schlecht dran. Die Bandbreite des Schaffens ist nicht nachvollziehbar. Ich versuche mit Autorinnen und Autoren langfristig zu arbeiten, sodass die Vielfalt des Werkes auch in unseren Breiten erkennbar wird. Kulturelle Besonderheiten, historische Ereignisse werden so weit wie möglich angemerkt. Häufig bin ich auf Informationen des Autors angewiesen, die sie mir bisher mit größter Geduld und Einfühlungsvermögen – dabei nicht müde werdend – gegeben haben! Schwierig wird es besonders dann, wenn die oder der Schreibende über Eigenheiten berichtet, die nur in einem sehr engen soziokulturellen Kontext anzutreffen sind. Häufig entsteht aus diesen Kontakten eine Freundschaft und manchmal spüre ich, dass wir beide als Gesprächspartner zu neuen Erkenntnissen kommen, die uns gemeinsam beglücken. Manchmal entdeckt die Autorin oder der Autor etwas anderes – vielleicht von mir Geschautes – in ihrem bzw. seinem Text. Das ist für uns als Gesprächspartner eine Glückserfahrung. Ein Beispiel auszuleuchten sprengte den Rahmen der Beantwortung von Fragen. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit und ich schreibe einen Essay über einen erwähnenswerten Fall.

Wie kamst Du auf die Idee, über und mit fremdsprachiger Literatur zu arbeiten?

In meiner Kindheit hatte ich viel Kontakt zu US-afro-amerikanischen Menschen und deren Kinder. Für mich war daher, das „Fremde“ (das es ja so nicht gibt) etwas ganz Alltägliches. Wobei dem „Fremden“ eine Besonderheit eigen war: Fast alle Menschen, auf die ich traf, hatten eine Herzlichkeit, die bei meinen „Landsleuten“ in dieser Form nicht gegeben war. Später habe ich im Hauptfach Kultur- und Sozialanthropologie studiert und festgestellt, dass selbst meine Studienkolleginnen und Studienkollegen häufig die „versteckten“ oder „verborgenen“ Botschaften nicht sehen konnten. Sie ahnten sie nicht einmal. Wegen eines mich in meinem Inneren berührenden Textes, den ich in „meiner“ Sprache lesen wollte, mit meinen Worten zum „Erklingen“ bringen wollte, habe ich begonnen zu übersetzen. Später erkannte ich, wenn man Kulturen tief verstehenwill, muss die, wie Ernst Schönwiese sagte, „Einverwandlungskraft“ entwickelt werden. Der Einfachheit und der Kürze wegen zitiere ich einen Satz von ihm, in dem alles gesagt ist: „Die Aufgabe der Dichtung besteht nicht darin, uns rational irgendwelche moralischen Grundsätze zu predigen, sondern uns in andere einzuverwandeln, wachzuerhalten. Dadurch erzieht sie uns auch ethisch und zwar unmittelbar durch das Erleben selbst.“

Was wünscht Du Dir vom Publikum, von der Öffentlichkeit oder von Deinem Writers in Prison Komitee?

Der tiefste Wunsch aller, die im Writers in Prison Komitee arbeiten, ist ein Traum: Wir machen eine Pressekonferenz und teilen der Öffentlichkeit mit, dass wir uns aufgelöst haben. Die Freiheit des Wortes ist weltweit durchgesetzt, alle aus politischen Gründen inhaftierte Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten, Übersetzerinnen und Übersetzer, Verleger und Verlegerinnen sind frei. Es gibt keine verbotenen Bücher mehr und jede bzw. jeder sagt, was sie bzw. er sich denkt, ohne fürchten zu müssen, dass ihr bzw. ihm daraus Schaden erwachsen könnte. Der Wunschtraum wird ein Wunschtraum bleiben, so erhoffe ich mir, dass sich in Österreich eine Erkenntnis durchsetzt: Während der Zeit des Nationalsozialismus konnten viele unserer Autorinnen und Autoren im Exil überleben und arbeiten, sodass wir heute ihre Werke lesen können. Unsere Literatur hat überlebt, weil sie die Chance dazu bekommen hat. Daraus erwächst eine historische Bringschuld, die Österreich bei weitem nicht erfüllt. Warum eines der reichsten Länder der Welt, nicht in jedem Bundesland mehreren Autorinnen und Autoren angemessene Wohnungen und Stipendien langfristig und großzügig zur Verfügung stellt, ist mir ein Rätsel. Dass Unternehmungen, die große Gewinne machen, nicht ihrerseits solch ein Solidaritätsprogramm gestartet oder den Österreichischen P.E.N.-Club gefragt haben, ob sie nicht helfen könnten, zeigt mir, wie weit entfernt wir von einer durchgehenden Humanisierung der Gesellschaft sind. Lieber kaufen solche Unternehmungen den Platz einer Arschbacke eines Fußballers, um zu werben.

Wichtig wäre aber auch, dass Autorinnen und Autoren, die überstürzt aus einem ihrer Länder fliehen mussten, nach einer Zeit wählen können, in welchem Land der Welt sie temporär oder – wenn erforderlich – für immer Aufenthalt nehmen wollen. Es gibt Fälle, die flüchtende Schreibende in Länder führt, deren Sprache sie nicht können, doch in das Land, dessen Sprache sie fließend beherrschen, nicht dürfen, weil sie bereits in einem sicheren Drittland angekommen sind. Dieser Unsinn gehört dringend abgeschafft. Und vom Publikum wünschte ich mir, dass solche Themen in die Öffentlichkeit getragen werden und die Politiker zum Handeln aufgefordert würden. Wir dürfen sicher sein, in einer Demokratie wagt es kein Politiker, der sein Amt weiter ausüben will, sich einem Wunsch zu verschließen, der letzten Endes so billig ist. Wenn ich höre, was so manches Geburtstagsfest eines Politikers, so manche Pressekonferenz gekostet hat und wie groß so manche Provision war, kann es keine Frage des Geldes sein, nachhaltig zu helfen. Zumal diese ins Exil getriebenen Menschen meistens gerne wieder in jenen Lebensraum zurückkehren, aus dem sie stammen und in dem sie zuhause sind. Es handelt sich fast ausnahmslos um Menschen, die den Dialog suchen und die Versöhnung sowie die Überwindung sozialer Ungerechtigkeit wollen, die häufig vom Stamm der Wa Benzi (der Name der nationalen Profiteure ist von einer bekannten Automarke abgeleitet), verursacht werden.

Diese Menschen sind die besten Gegenspieler der Fundamentalisten unterschiedlicher Richtungen. Warum Europa die nicht fördert, ist mir unverständlich, fordert es doch gleichzeitig – hin und wieder, nicht sehr laut, aber doch – Good Governance. Die Flüchtlinge im Regelfall fast immer! Warum man diese Menschen bei uns nicht als Partner sieht, ist mir rätselhaft.

Zusammenfassend gesagt: Ich wünschte mir offene Ohren, die zuhören, offene Herzen, die bereit sind, zu helfen, und viel mehr an Zivilcourage, um den Populisten laut zu widersprechen, wenn sie wieder einmal gegen die Fremden hetzen, und schließlich und endlich Politikerinnen und Politiker in Österreich, die das Gespräch mit dem Writers in Prison Komitee ernsthaft suchen.

Danke lieber Helmuth!

Helmuth A. Niederle
Geb. 1949 in Wien. Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte, Volkskunde und Soziologie, lebt in Wien und Dallein/NÖ, stellvertretender Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Beauftragter des Writers-in-Prison-Komitees Österreich. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Tageszeitungen, Magazinen und im ORF, mehrere Jahre Herausgeber der Reihe „scriptor mundi“, die in der „edition Kappa“ (München) erschien, seit 2006 Herausgeber der Reihe „edition milo im Verlag Lehner“ (Wien). Zuletzt erschien „Das Leben ist eine gefallene Braut“. Kubinesken von Alfred Rossi begleitet von literarischen Assoziationen (Perchtoldsdorf: Plattform Johannes Martinek Verlag, 2012).

LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012