50/Wozu Literatur?/Essay: Wozu Literatur? Wolfgang Mayer-König

Wolfgang Mayer-König
Wozu Literatur?

Wäre da nicht das Fragezeichen, stünde auch schon das Bezweifeln allen Nutzens von Literatur im Raum. Sei es nun wegen irgendwelcher bis zur Genüge erlebter Enttäuschungen im Umgang mit Literatur oder aber in Folge diffuser Voreingenommenheit gegenüber dem literarischen Wirken. Trotz dieser scheinbaren Polarisierung des Zweifels am Nutzen der Literatur scheinen sich dennoch die Beurteilungsansätze sowohl der Autoren als auch der Konsumenten von Literatur spürbar anzunähern. Beiden geht es so ganz und gar nicht leicht von der Hand, die Erfahrung und das Urteil in eine Fragestellung umzugießen, um quasi einen letzten Fluchtweg wenigstens ins Ungewisse aufzutun. Die Frage nach dem Nutzen der Literatur scheint jedenfalls abgedroschen zu sein, sie besitzt zumindest einen schalen Nachgeschmack. Trotz alledem steht außer Zweifel, dass politische und historische Geschehnisse, so wie deren wichtige und etwas weniger wichtige Protagonisten der letzten Jahrhunderte der menschlichen Entwicklungsgeschichte weit weniger bis auf den heutigen Tag im Bewusstsein der Leute verankert scheinen, dorthin hinübergerettet werden konnten und selbst dem Interessierten, ja dem Bildungsbürger so präsent sind, wie wesentliche Werke der Literatur und Namen bekannter Autoren. Wer weiß schon, wer aller die letzten einhundertfünfzig Jahre Mitglied einer österreichischen Regierung war? Die Autoren dieser Zeit wie Kafka, Schnitzler, Musil, Rilke, Doderer, Ödön von Horwath, Hoffmannsthal etc. kennt man allemal.

Diese Geltung ließe sich lückenlos ebenso auf die deutsche, französische, russische, englische, amerikanische Literatur, ja auf die Literaturen aller sogenannten Kulturnationen dieser Welt übertragen. Also muss Literatur doch einen Nutzen haben. Dies liegt logisch auf der Hand. Alles fachspezifische Koordinieren des Zusammenlebens der Menschen geht trotz dessen Archivierens, dessen Katalogisierens und dessen Kanonisierens den Weg allen Vergessens, den Weg allen Kehrichts. Niemand braucht und will sich an die Mühen des ständigen Auf und Ab, des seelischen, ökonomischen und rechtlichen Zerriebenwerdens des in seine gesellschaftliche Umwelt hineingeworfenen Menschen mehr erinnern. Über ihn ist, ob gerecht oder ungerecht, juristisch abgesprochen worden. Es bleiben die Beurteilungen nach dem jeweiligen Gutdünken des Zeitgeschmacks als nutzlose, unbedeutende verbale Strukturen über. Die fleischgewordene seelische Qual, die Augenblicke der Todesangst aber auch der Freude und des Glücks sind verflossen, verhallt, haben sich in Nichts aufgelöst. Vielleicht liegt das an der Vergänglichkeit des ewig geglaubten Büros, an der eigentlichen Unverwaltbarkeit menschlicher Bedürfnisse, daran dass die Geschichte nie wirklich für den Menschen selbst eingetreten ist, sondern ihn vielmehr zum sozialen Quotienten degradiert hat. Wenn auch Politik dem Spezialistentum durch sachübergreifendes Herumspringen von einem Gedankengut zum anderen zu entfliehen trachtet, so liegt darin nur einer von vielen Gründen ihres Versagens. Literatur schafft das viel mehr, weil sie laufend nach der ethisch und ästhetisch stimmigen Wirksamkeit jeder Aussage, jeder Schaffensphase, Rückschau halten und überprüfen muss, ob ein Satz gegenüber dem Vorsatz und dem Folgesatz noch stimmig ist oder aber die Verweisungsfunktion verloren hat. Die Vorgänge, die wir täglich erleben, sind zwar nicht in einem literarischen Text eins zu eins unterzubringen, weil wir selbst im wahrsten Sinne des Wortes nicht „hineingehen“. Wie sonst schafft es dann Literatur, die Dramatik der uns tagtäglich vor Augen geführten Ereignisse und ihre sich oft überschneidenden Entwicklungen zu verarbeiten? Literatur ist ja nicht Produkt logischen Denkens, sondern die Äußerung eines Menschen auf der Suche nach dem Sinn oder Witz des Lebens, der die Ereignisse seiner Umwelt in Sprache umsetzt und gestaltet.

Dieses Umsetzen geschieht aber in einer anderen Art, zur Sache zu kommen. Jedenfalls nicht in der herkömmlichen Art, Fragen zu beantworten, sondern es wird der Versuch unternommen, sich anhaltend selbst zum Gegenstand der Fragestellung zu machen. So lange, bis das Erlebte greifbar nahe gebracht, fassbar und anfassbar wird, so dass wir davon reden können, es „begriffen“ zu haben. So, dass das Erlebte als Gestalt mit eigener Persönlichkeit am Ende dieses Weges steht. Die Probleme werden nicht verdrängt, sonst käme ja keine Literatur zu Stande. Der Leser kann sich dadurch über den eigenen Standort mehr Klarheit verschaffen, über das Wachstum seines Bewusstmachens, Bewusstwerdens und Bewusstseins, seines eigenen Begreifens, Erfahrens, Fassens und Anfassens. Nur so wird er auch seiner eigenen Urteilskraft gegenüber Zuverlässigkeit empfinden können. In der Literatur geht es darum, sich einem Thema ethisch und ästhetisch seriös zu nähern. Literatur soll nicht überreden, sondern überzeugen. Sie macht es also zur Voraussetzung, dass der Literaturbetrieb und die ihm innewohnende Plumpheit rechtzeitig in den Hintergrund treten (natürlich auch die Literaturwissenschaft), um sich beizeiten selbst immer wieder aufzuzehren. Denn entscheidend muss ja das literarische Werk selbst sein und nicht die Emballage. Literatur besitzt in einer Welt von Spezialistentum und Arbeitsteilung eine Dimension, die keine andere Äußerung mit ihr gemeinsam hat, nämlich die Fähigkeit zur Zusammenschau gänzlich verschiedener Dinge.

Wozu Literatur? Deshalb!

Gute Literatur ist aus Konkretem gemacht, das die verschiedenen Verstehensrichtungen wirksam erhält. Deshalb zählt es auch zum Risiko der Literatur, nicht so zu sein, wie es der Leser von ihr erwartet. Oder auf hoffnungslosem Terrain zu stehen und auf etwas zu warten, was wahrscheinlich niemals kommen wird, sich wahrscheinlich niemals einstellen wird.

Literatur darf sich trotz alledem nicht in ihrer Anpassungsfähigkeit gefallen. Auch hat Literatur das triviale menschliche Risiko, besonders dann, wenn Menschen klar wird, dass sie immer ungelegen kommen oder wenn sie die Hoffnung auf Gerechtigkeit aufgegeben haben. Dass Menschen es verdient haben, verstanden zu werden, muss insbesondere für die Literatur Gültigkeit haben.

Sich um ein immer ernsthafteres Verständnis der Wesen zu bemühen, das ist der Zweck der Literatur. Die Entfremdung gegenüber diesem Zweck schafft sich ihre eigenen Dichter. Die in selbstbiografischer Romantik verstrickten Leider. Sie sind geradezu ungeeignet, Brücken zu schlagen, noch dazu in uferlosem Terrain. Sie schaffen es mühelos, den politischen Schwachsinn zu kritisieren, um sich gleichzeitig von ihm fördern und behüten zu lassen. Es wäre kein Emile Zola gewesen, wenn er sich nicht so für Dreyfuss bis zur Erschöpfung gegen alle Widernisse selbstlos eingesetzt hätte. Daraus geht große Literatur hervor, wie die eines Hugo, Balzac, Zola und Dostojewski. Wie groß sind und waren die Risiken derer, die sich der Herstellung von Verständnis verschrieben haben.

Ich meine hier natürlich nicht nur das existentielle Risiko des Schriftstellers, obwohl dieses im Vergleich zu vielen anderen Berufen von einer nicht zu unterschätzenden Härte ist. Sondern auch das Risiko, anders zu schreiben und schreiben zu müssen, als es erwartet wird. Oder zu schreiben, ohne Hoffnung auf ein interessiertes Gegenüber. Kaum eine Berufsgruppe muss mit einem solchen psychischen Druck existieren. Und gerade deshalb Literatur! Nicht von ungefähr ist dichte und gestaltende Sprache oft dort zu finden, wo die Menschen keinen Reiz und Nutzen verspüren, zu verweilen. Der Mensch hat nun einmal auf Grund seiner mangelnden Bewältigungskraft den Hang zur Idealisierung, zur Abrundung und zum Happy End. Und obschon er sich zeitweilig auch gerne das Fürchten lernen möchte, steht er dann fassungslos vor Entwicklungen, deren er nicht Herr wird. Gleichzeitig hat er auch schon mit dem sinnlosen Ende zu leben gelernt. Er setzt bewusst auf die Wiedergabe seiner Ängste, ohne Aussicht auf irgendwelche trügerischen Hoffnungen. Deshalb Literatur, weil es nichts anderes ist, als Ängste und Hoffnungen der Menschen und nicht, wie viele Glauben, zuvorderst lediglich Fantasie und Theaterdonner. Nein, Literatur, das sind Seelenvorgänge um Verständnis ringender Menschen. So wirklich, wie Ängste, Hoffnungen und Enttäuschungen nur sein können. Deshalb müssen sie ausgesandt werden. Deshalb können das Wort und die Form nicht ersetzt werden durch anderes. Deshalb braucht es die Literatur!

Der Fehlbetrag an Leben kann durch nichts ausgeglichen werden. Es misslänge ohne Literatur auch, etwas oder jemanden zu begreifen. Weil die Wirklichkeiten durch die Analogien ihrer sprachlichen Symbole begründet und die Ähnlichkeiten der Geschichten und ihrer Schreibweisen dadurch genützt werden, dass die Gebärden der handelnden Personen, ihre Ideen und Schicksale nur mit einem ethisch und ästhetisch treffenden Zeichen versehen werden müssen, um ihnen ihre vollkommenere Spiegelung zu ermöglichen.

Wolfgang Mayer König
Geb.1946, lebt als Schriftsteller und Universitätsprofessor in Niederösterreich und Graz. Bisher 33 Buchpublikationen im In-und Ausland. Gründer des Universitätsliteraturforums “Literarische Situation”. Herausgeber der Literaturzeitschrift “LOG”, in welcher bislang 1350 Autoren aus 146 Nationen erstveröffentlicht wurden. Koordinator der Int. humanit. Wiederaufbauhilfe für Vietnam. Verfasser des Zivildienst-Bundesgesetzesentwurfs. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten. Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, Chevalier des Arts et des Lettres de la République Française, Internationaler Friedenspreis, Großes Ehrenzeichen von Steiermark und Kärnten, Goldenes Ehrenzeichen des Landes Wien.

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50/Wozu Literatur?/Essay: Werte Werte ... Hahnrei Wolf Käfer

Hahnrei Wolf Käfer
Wert Werte,
macht euch frei,
ich hab euch zu untersuchen.

Kunst ist absolut nutzlos.
Oscar Wilde

Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am oberen Ende der Treppe und alsbald stimmte er an: ‘Introibo ad altare dei’. Damit ist schon alles gesagt und deshalb müssen wir fortfahren: Introibimus. Um die Bäuche voll zu kriegen, erzählen seit Urzeiten Menschen ironiefreie Märchen von Göttern. Bald nannten die Erzähler sich Priester und waren so überzeugend, dass sie sich, ohne dafür nennenswerte Arbeit leisten zu müssen, an den den Göttern darzubringenden Opfern fettfressen durften. Je obskurer die Göttergeschichten wurden und je mehr sie sich in Widersprüche verstrickten, desto nötiger wurden die Vermittler, die behaupteten, sich auszukennen. Bald gründete man Universitäten und richtete die Fakultäten Theologie und Germanistik ein. Nun waren es nicht mehr nur die Göttergeschichtenerzähler, sondern auch noch die Göttergeschichtenforscher, die ohne nennenswerte Produktivarbeit am Allgemeingut zehrten und zehren. Der materielle Wert der Religionen ist somit berechenbar, der immaterielle unhinterfragbar, weil die Frage danach klarerweise nur von Menschen gestellt und behandelt werden kann, die sich auskennen. Also von Fachleuten, von Göttergeschichtenerzählern und Göttergeschichtenherausgebern, aber besser noch von Göttergeschichtenexegeten und Göttergeschichtenbewertern und Göttergeschichtenforschern. Was wird da schon viel herauskommen? Nur ganz selten müssen die Nutznießer dieses Zirkels aus Selbsterklärungen drohend fragen, wie trostlos wohl eine Welt ohne Göttergeschichten wäre. Die Menschen hätten keinen Halt und keine Unterhaltung.

Jeder Priester hat eine Gemeinde. Coelo oder Handke haben große Gemeinden und streifen viel Opfergeld ein. Die Marke James Joyce (günstiges Doppelkonsonantenmongramm wie auch der Dauerbrenner Hermann Hesse) geht recht gut. Eine Liturgiefeier von Austrias Mobbert Menasse kriegt man schon gar nicht gratis. Aber auch der Wert der Kleidung wird weder durch Prada noch durch Nike oder Adidas noch durch No-Name-Produkte bestimmt. Die bewirken nur die Streubreite der Werte. Die überwiegende Mehrzahl der Priester liest ihre mehr oder minder weihevollen Messen gratis. Viele verlegen ihre Werke unter Einsatz des eigenen Kapitals, Religion hat mit Sendungsbewusstsein zu tun. Und wie berechnen wir das nun? Was ist das wert?

Alles in einen Topf und Durchschnittspreis des Wortes?

Ja, am Anfang war das Wort? Das Wort war also schon vor Gott und dann erst war es bei Gott und nun ist es das Gottseibeiuns. Ist das nicht ein Auftrag? Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, gehet hin und tuet desgleichen wie jene vier Dichter mit der weltweit höchsten Auflage (Johannes, Lukas, Markus und Matthäus). Es besteht selbstverständlich auch auf diesem weihevollen Gebiet Konkurrenz. Nicht ganz so wild, dass wieder Halbmondzüge und Kreuzzüge (historisch übrigens in dieser Reihenfolge) entstünden, es treten nur Verlage gegeneinander an. Die lassen etwa im Turnier auf dem Nebenschauplatz Klagenfurt ihre Reckinnen und Recken antreten und einander ausstechen, das ähnelt aber mehr einer Modeschau als einem Kampf. Wilder geht es auf dem Kriegsschauplatz Frankfurt zu. Lektoren beschneiden Autoren vor der Darstellung im Tempel, Kritiker kreuzigen Autoren, Verlage verhelfen toten Autoren zur Auferstehung, in manchen Verlagsverträgen ist angeblich schon die gegenseitige Verpflichtung zur Himmelfahrt inkludiert. Amen.

Was die Pepitant glaubt und wertschätzt, ist völlig wurscht, ist Privatreligion, diskussionswürdig ist nur der Kanon ernster Literatur, in dem meist alibihalber ein ‘guter’ Humorist versteckt ist. Wirklichen Wahrheits-Wert (www) hat doch nur das Ernste. Götter haben Herrsch- und Strafsucht, Libido, Eifersucht, Zorn usw., aber sie haben keinen Humor. Angesichts der Wirklichkeit, die sie angerichtet haben, wäre der auch eine Beleidigung des Großteils der Menschheit.

Man stelle sich eine Wandlung vor, dies ist mein Leib, und alle lachen. Oder schmunzeln beim ‘Introibo ad altare dei’, weil sie an den dicken Buck Mulligan denken. Oder man stelle sich eine Diskussion über den Wert der Literatur vor, und alle Zuhörer wacheln mit Geldbündeln wie bei der Schieberei Deutschland gegen Österreich in Gion. Das lässt den sittlichen Ernst vermissen. Eine Umfrage stellte einst fest, dass ein Viertel der katholischen Priesterschaft nicht mehr an die ganze Glaubenslehre (Jungfräulichkeit Mariens, Auferstehung, Himmelfahrt etc.) glaubt. Da gibt es doch, behaupten sich die Literaturwertdiskutierer mit ernster Miene, die Kunst, die Ästhetik, die Aufklärung, das Streben nach Höherem. Und die Zuhörer lachen und wacheln. Das erste Gebot: Es gibt nur einen Gott. Fachbücher trotz Informationsgehalt, aus anderen Sprachen übersetzte Gebrauchsanweisungen trotz kunstvoller Rätselhaftigkeit, juristische Texte (Gesetze) trotz Unterhaltungswert, philosophische Schriften trotz witzigen Mehrdeutigkeiten sind nicht in diesem Sinn gemeint, wenn man von Literatur und ihrem Wert spricht. Standard-Feuilleton vielleicht, Heute-Artikel sicher nicht. Frankfurter (Zeitung, nicht Würstel) bisweilen, Wiener (ebenfalls Zeitung) eher seltener, Österreich nie. Österreich ist nicht literaturwertdiskussionswürdig. Werte Werte, macht euch frei, man will euch untersuchen.

Es ist kein Zufall, dass die Religionsfreiheit und die Freiheit der Kunst in der Verfassung verankert sind, diese aber keinesfalls die Freiheit von Religions- und Kunstanmutungen garantiert. Es ist kein Zufall, dass Kunsterzieher und Religionslehrer vom Staat bezahlt werden. Es ist kein Zufall, dass man von Literaturgöttern und Literaturpäpsten spricht.

Und noch eine Ähnlichkeit ist überraschend: Der Gottgläubige hat kein gottfreies Refugium, er hält sich also immer im Religionsraum auf, in dem es keine Wertfreiheit gibt, sondern höchstens Wertignoranz. Der Literaturgläubige hat ebensowenig ein Refugium, denn er hält sich, wo immer er das Maul aufreißt oder auch nur einen Gedanken fasst, im Sprachraum auf. Selbst das Unsinnigste wird Begriff, selbst Gebrabbel wird mit Bedeutung erfüllt, wo es nur geht, wir können uns da durchaus an die Herkunft des physikalischen Quark erinnern, wobei der Joyce-belesene namengebende Physiker nicht wusste, dass das in Deutschland ein Topfen ist, und was das wieder bedeutet. Spätestens jetzt, wo die Werte nackt zur Musterung und freigemacht wie Massenpostsendungen vor uns stehen, müssen wir aber doch unterscheiden: Die schlechten materiellen Werte ins Kröpfchen (=Fressen und Saufen) die echten immateriellen Werte aber gut verdaut ins Nachttöpfchen. Damit auch das einmal klar ist. Es geht sicher nicht jedem Autor nur ums Knödelreißen, einige wenige gehen sogar einer ehrenhaften Arbeit nach und sind nur auf das, nicht auf den Verdienst aus. Die Mehrzahl freilich darbt und träumt über traurigen Texten vom Bestseller und davon, dass alle Montag Knödeltag wäre, dann wär’ ma lust’ge Leut. Der aus der Sprache erwachsende, über das Inhaltliche hinausgehende Mehrwert (das ist ein um den eigentlichen Wert reduzierter Wert) mache aus Texten Literatur, habe ich einmal irgendwo gelesen. Selbstverständlich sind neben frischen Zutaten (Aktualität) auch die Würzkenntnisse des Kochs von Bedeutung. Aber wenn man mir vom ästhetischen Wert des McDonalds-Menus redet, werd ich kribbelig. Der Leibroman des Volkes ist das Liebesschnitzel und als Nachtisch ein im Bett zu genießendes Krimidegout, je grauslicher, desto besser. Nach der Wertschätzung durchs Publikum muss das Schnitzel dünn und möglichst großflächig sein, der Roman dafür dick. Und manche rühmen sich noch, fürs ganze Kunsthistorische Museum nur zwei Stunden gebraucht zu haben. Das zur Alltagsästhetik. Die Feiertagsästhetik, die hohen immateriellen Wert der Literatur postuliert, wird nicht von Lesern, sondern von After-Literaten, Exegeten, Rezensenten, Germanisten gepflegt, also von allem, was sich dort sattfrisst, wo (laut Hannes Wader) ‘unsereins geschissen hat’. Man nehme also nicht an, dass diese Berufsgruppe aus dem ideellen Werten der Literatur keine materiellen bezieht und dabei, je höher sie den ideellen Wert veran-, desto höheren materiellen herausschlägt, sondern begreife auch in diesem Kontext die Bedeutung des Wortes Mehrwert (s.o.).

Ein Seitenblick auf die Wirksamkeit ist da auch vonnöten.

Wert sollte doch irgendwie zur Wirkung kommen?

Neben den unleugbar immensen Verdiensten von L&R (Literatur&Religion) bei der Verhinderung von Kriegen, nie haben sie sich in den Dienst von Kriegstreibern gestellt, sind auch ihre Anregungen zum Selbstmord indirekter Art (Märtyrer) sowie direkter Art (Werther) zu beachten. Auch erzwungenen Frohndienst, ob nun für kirchliche oder weltliche Hoheiten und Ideologien in der Vergangenheit oder für bankliche und börsliche Hoheiten in der Gegenwart, haben L&R immer verhindert. Und was die Aufklärung betrifft, die so gern als immaterieller Wert von Literatur ins Spiel gebracht wird, ähneln sich L&R mehr, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Mikrofragmente von Aufklärung sind in beiden auffindbar, wenngleich es mit der Anwendbarkeit der Elemente etwas hapert, es sei den man fasst die Sache diffiziler auf und lernt, ein willkürliches Beispiel herausgenommen, dass nicht nur das Fressen zuerst kommt, sondern - der Praxis des Verkünders nach - auch Maßseidenhemd und Frauenausbeutung und Luxus, und dass das die nachfolgende Moral aus der Geschichte ist. Dem steht, was uns Päpste an Unmoral, Verbrechen und Verbohrtheit vorgelebt haben und vorleben, um nichts nach. Sicher gibt es nirgends so große Aufklärungsquoten wie im Kriminalroman, allerdings wäre ich zufrieden, wenn sich die selbsternannten Aufklärer beim Rühmen des Aufklärungsfaktors der Literatur auch darauf beschränken würden.

Ulysses, der Roman mit dem frommen Anfang, unterläuft fortwährend oder zerstört manchmal sogar gezielt die hohen Spielchen der Aufklärungsanmaßung. So kann die Sache nicht auf den bekannten liturgischen Sendungsauftrag ‘Ita missa est’ hinauslaufen. Der Roman greift als Art Konklusion aufs Urgewaltige, aufs Sexuelle zurück, um mit einem ‘ich will ja’ auszuklingen, das in der deutschen Übersetzung fast nach einer Rücknahme der vielen Ja Molly Blooms klingt, nach einem, und damit soll dieser Artikel auch enden, unausgesprochenen ‘aber’...

Hahnrei Wolf Käfer
Geb. 1948. Literarischer Beginn über die Präpositionsschwäche von Peter Rosei und dergleichen, später sprachfreundliche und autorenskeptische Essays über Haslinger, Gail, Menasse, Streeruwitz etc. im morgen. Im Buchhandel u.a. erhältlich: kultur nach gärtnerinnenart (Lyrikzyklus), täuschungen (Lyrikzyklus über das programmatische Pseudonym “Hahnrei”), ICH GING (Roman).

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50/Wozu Literatur?/Essay: Literatur – ein menschliches Grundbedürfnis. Jan-Eike Hornauer

Jan-Eike Hornauer
Literatur – ein menschliches Grundbedürfnis

»Wozu Literatur?« Diese Frage stellt ausgerechnet eine Literaturzeitschrift. Stellt sie sich damit selbst infrage? Ein Stück weit schon, doch nicht ernstlich, eigentlich heischt sie nur nach Existenzberechtigungsantworten. Doch kann man ihr das vorwerfen? Schwerlich, denn was hier angestrebt wird, ist das durch alle gesellschaftlichen Bereiche und alle Zeiten Übliche. Dazu kommt: Wo sonst sollte diese Frage ernstlich diskutiert werden, wenn nicht im literarischen Bereich selbst, dort also, wo man eine profunde Kenntnis der Materie sowie ein Mindestmaß an kritischem Reflexionsvermögen voraussetzen kann oder zumindest können sollte? Auch in diesem Punkt wird mithin lediglich der – übrigens durchaus sinnvollen – gesellschaftlichen Norm gefolgt.

Wer die Frage »Wozu Literatur?« also als verzweifelten Aufruf eines überflüssigen Bereiches interpretiert, Propaganda-Schriften zu verfertigen, um dem Sinnlosen den Anschein des Sinnhaften zu geben, geht fehl. Ebenso wie jener, der in ihr nichts weiter sieht als Selbstzweifel und Verunsicherung. Vielmehr ist sie der Ausdruck kritischen Selbstbewusstseins: Diese Literaturzeitschrift weiß um die unbestreitbare Wichtigkeit ihres Arbeitsfeldes, weiß aber auch, dass um die genaue Definition, worin diese nun wiederum besteht, ein permanentes Ringen stattfinden kann und muss. Das Eigentümliche an Literatur ist schließlich: In jedem Volk und in allen Zeiten gab es Literatur, gibt es sie, wird es sie – aller Voraussicht nach – geben. Ihre Existenz ist ganz offenkundig nicht an eine bestimmte kulturelle Ausprägung gebunden, nur ihre genaue Gestalt ist es. Damit scheint bewiesen, dass sie, wie auch die anderen Kunstrichtungen, also bildende Kunst und Musik, dem Menschen eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Die Antwort auf die Frage »Wozu Literatur?« ist also denkbar einfach: Weil sie gebraucht wird.

Eine klare, eindeutige, praktisch unangreifbare Feststellung. Doch ist sie auch befriedigend? Nicht wirklich. Denn viele Fragen sind damit noch offen: Wieso wird sie gebraucht, was ist das Motiv? Und gibt es überhaupt ein einziges? Und wo beginnt und wo endet eigentlich Literatur? Sind Theater und Film ihr noch zuzurechnen oder nicht? Ist nur Anspruchsvolles Literatur oder fällt auch niederster Unterhaltungsmumpitz darunter? Und muss die Wichtigkeit für jeden einzelnen Menschen gegeben sein oder nur für die jeweilige (Teil-)Gesellschaft insgesamt? All das kann und muss diskutiert werden. Hier wird davon ausgegangen, dass alle Erzählung, gleich welcher Form und Qualität, Literatur ist. Was folgerichtig auch bedeutet, dass jeder Mensch, selbst wenn er dies gar nicht anerkennt, von Literatur betroffen ist: Auch wer nicht liest, ist mit Erzähltem und szenisch Dargestelltem, das über seinen eigenen gelebten Alltag hinausweist, zwingend konfrontiert, mittelbar ebenso wie unmittelbar, und das im Grunde permanent, da es nicht nur in der Sekunde des Erzählens wirkt, sondern auch noch im Nachhinein. Die erzählte Welt durchdringt die Alltagswelt – und wird freilich auch zugleich von ihr durchdrungen.

Literatur ist also notwendig und nicht nur in der Makro-, sondern auch in der Mikroperspektive allgegenwärtig. Sie umgibt uns, und sie ist in uns. Es liegt auf der Hand, dass diese Omnipräsenz nicht folgenlos bleiben kann, und zugleich ist eindeutig, dass sie nur einen Nachhall in uns findet und unablässig von uns produziert wird, da sie für uns von Relevanz ist.

Diese Relevanz wiederum kann unterschiedlicher Natur sein: Welterkenntnis, Lebensbewältigung, Ablenkung sowie Aus- und Erleben von Emotionen sind einige der wichtigsten Funktionen von Literatur. Selbstredend werden sie nicht in jedem Stück Literatur gleichberechtigt behandelt, die Gewichtungen sind hochunterschiedlich. Dabei aber kommt es nie zu einer völligen Trennung der Funktionen, sie werden stets alle bedient: Auch die hemmungslose Schnulze spielt, zumindest subversiv rollenprägend und dergleichen, in den Bereich Welterkenntnis mit hinein (wenngleich dies ggf. dazu einlädt, eher von Weltverzerrung zu sprechen – doch sollte man hier vorsichtig sein, denn ist Welterkenntnis nicht im Grunde unmöglich, wenn auch unbedingt anzustreben?), auch ein trauriger Text, der sich mit Problemen auseinandersetzt, die seinen Leser selbst gerade in dessen Leben plagen, dient immer noch ein Stück weit der Ablenkung und Erholung – wer sich auf einen Text konzentriert, konzentriert sich zwangsläufig weniger intensiv auf sich selbst.

Quasi ganz nebenbei beantwortet sich damit auch die Frage der Existenzberechtigung der einzelnen Literaturarten im Sinne von hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur sowie entsprechender Abstufungen: Sie alle nehmen Funktionen von Literatur wahr, sie alle befriedigen damit tiefsitzende menschliche Bedürfnisse. Und die Ausdifferenzierung von Literatur sorgt dabei für die Möglichkeit der gezielten Befriedigung, sowohl auf die aktuelle Bedürfnislage des jeweiligen Menschen bezogen als auch auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen des je Einzelnen innerhalb der Gesamtheit von Menschen. Und damit hat jedwede Literatur ein unabsprechbares Existenzrecht, ist das Sein aller Literaturhöhen unbedingt zu begrüßen. Literatur ist also notwendig, und es ist gut, dass es sie in allen nur vorstellbaren Anspruchsabstufungen und inhaltlichen Richtungen gibt. Doch wozu, könnte man nun noch fragen, immer neue Literatur? Weshalb diese unablässige Produktion? Die Antwort darauf ist ganz einfach: Literatur hat mit Welt zu tun – und Welt verändert sich. Sie verändert sich in sich und durch die Wandlungen in der Perspektive, die wir auf sie einnehmen – wobei diese beiden Kategorien freilich keineswegs als völlig getrennt zu betrachten sind, sondern hochkomplexen Wechselwirkungen unterliegen.

Die Folge ist: Andere Motive faszinieren plötzlich, andere Fragen drängen in den Vordergrund, andere Bedürfnisse dominieren. Und somit braucht es wieder eine neue Literatur, ebenso unablässig wie zwingend.

Wozu also Literatur? Weil sie unabdingbar ist, der Mensch sie zum Leben, zum Menschsein benötigt. Und wieso heute noch neue Literatur? Weil die Welt sich verändert hat – und jede neue Welt auch einer neuen Literatur bedarf, aus menschlicher Perspektive betrachtet.

Jan-Eike Hornauer
Geb. 1979, leidenschaftlicher Textzüchter (freier Lektor, Texter, Autor und Herausgeber), wohnt in München. Erster eigener Band: »Schallende Verse. Vorwiegend komische Gedichte«. Jüngste Herausgabe: »Grotesk! Eine Genre-Anthologie«, von Kultura-Extra als »literarischer Kracher« und »Ausnahmebuch« bezeichnet.

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