44/ LitArena: Ausgesetzt. Elisabeth Klar

Ausgesetzt
Elisabeth Klar

Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn usw. usf.

«Ich hab nichts mehr zum Zudecken.», sagt sie.
Sie hat doch einmal wieder die Wohnung verlassen, und nun sitzt sie bei Markus, einem Freund.
«Für die Nacht.», sagt sie.
Markus sieht auf den Bildschirm, er ist nicht bei der Sache, sondern mit etwas anderem beschäftigt, einem Text.
«Alles ist in der Wäsche.», sagt sie, aber das ist nicht der eigentliche Grund.
Sie lehnt auf seinem Sofa und blickt hinaus. Heute wird sie Hannah treffen, deshalb ist sie vorher zu Markus geflüchtet, aber auch hier sitzt sie wie ausgesetzt auf dem Sofa. Hannah, denkt sie, die kommt und mich in die Arme nimmt und mich auf die Wange küsst. Sie werden ein Café suchen, weil man nicht lange draußen bleiben kann, ohne zu frieren. Es ist eigenartig, ganz unzugedeckt zu schlafen. Man rollt sich ein, aber man ist trotzdem nur Angriffsfläche. Man legt sich die Hände auf die Arme. Man fragt sich, ob es anders denn leichter wäre.

«Ich habe etwas geträumt.», sagt sie. Markus antwortet nicht, aber sie möchte es trotzdem erzählen.
«Es war ein seltsamer Traum», sagt sie. «Was soll ich davon halten? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er nicht wichtig.“
Niemand anderer hat die Schallplatte aufgelegt, also hat sie sie selbst aufgelegt. Irgendein fremdes Land, sagt sie und spricht weiter, wir waren dort, du und ich und Martin. Es gibt diesen Moment der Flucht – wir laufen vor etwas davon. Irgendwie trennen wir uns. Es sind noch andere bei mir und bei euch, die ich kenne, aber nicht wirklich, nur im Traum kenne ich sie. Martin ist voran gegangen. Ja, so war das. Warum, weiß ich nicht mehr. Er geht voran. Wir wollten uns in einem Dorf wieder treffen. Ich sehe ihn, wie er dort ankommt. In der Mitte des Dorfes ein Körperhaufen, die Leute rundherum wenden und drehen die Leichen wie beim Ausverkauf in der Wühlkiste. Martin kramt wie die anderen und dreht und wendet die Leichen wie beim Ausverkauf in der Wühlkiste. Er findet mich darunter. Mein Gesicht ist zerstört, wie ausgestrichen, nicht mehr erkennbar. Aber er weiß, dass ich es bin. Dann kommt ihr, du und noch andere. Der Körperhaufen ist weg, aber dort sind Gräber. Ihr findet mich, also meinen Grabstein, auch wenn Martin natürlich gar keine Zeit gehabt haben kann, einen Grabstein aufzurichten – aber da steht er und mein Name ist grob hineingeschlagen. Dann komme ich. Über mein Gesicht geht quer eine Schnittwunde, als hätte jemand es durchstreichen wollen. Ich weiß, dass ich krank bin, das weiß ich. Es schwindelt mich. Ich komme an den Gräbern vorbei. Zu dem Zeitpunkt seid ihr nicht mehr da. Ihr seid weiter gezogen. Auch ich sehe meinen Namen.

Wir gehen weiter und weiter. Ich habe das Gefühl, von etwas oder jemand verfolgt zu werden. Es ist, als wollte mich jemand wieder zurück in das Dorf ziehen. Meine Schultern dort fest in die Erde drücken. Es geht kaum voran, ich kann kaum laufen und es schwindelt mich. Als ich ankomme, bin ich schon allein, die anderen sind fort. Da ist so ein Lager, eine Art Auffanglager, oder wie ich mir das halt vorstelle, wir sind schon ganz nah an der Grenze. Dann liege ich dort in einem Bett und fiebere. Das weiß ich, aber ich bin schon wieder in der Außenperspektive. Ich sehe mich also von außen, ich bin du. Ich, also du entdeckst mich zufällig. Zuerst erkennst du mich nicht, weil mein Gesicht geschwollen ist von der Wunde, die quer darübergeht. Ich habe vom Fieber ganz große Augen, sehe schon gar nicht mehr dich, sondern über dich hinaus. Ich murmle die ganze Zeit und höre mich gleichzeitig murmeln, weil ich du bin. Ich rede davon, dass ich nicht zurück in dieses Dorf will. Aus dem, was ich sonst noch sage, schließt du darauf, wer ich bin. Aber Martin will sich nicht überzeugen lassen. Er sagt zu mir: Aber irgendjemanden habe ich doch begraben, und die, die ich begraben habe, hat dir viel ähnlicher gesehen als du.

Hier hört es auf, hier nimmt sie die Nadel von der Platte, weil sie husten muss. Sie hebt die Faust vor den Mund. Sie hat den Rauch zu schnell eingeatment, jetzt juckt das Reden, also lässt sie es bleiben. Aber es ist ohnehin einfach, sich den Rest dazuzudenken. Sie werden bald fortgebracht. Sie überlebt, oder so, und kommt zurück nach Hause. Die Familie und alle anderen sind aber längst über ihren Tod benachrichtigt gewesen. Ihr Zimmer ist schon leergeräumt.

Die Menschen wenden sich zu ihr, du siehst so verändert aus, sagen sie, man erkennt dich kaum wieder.
Seitdem ist ihr Gesicht magerer. Die Narbe bleibt. Sie nimmt Nadines Leben wieder an und klammert sich an alte Gewohnheiten als das Einzige, was sie noch hat. Sie trägt die Besitztümer Nadines, die in Kisten gepackt worden sind, aus dem Keller in die Wohnung, und stellt sie nach bestem Wissen und Gewissen in ihrem ausgeleerten Zimmer auf, bewegt sich dazwischen und bemüht sich, nichts mehr zu verrücken. So versucht sie sich daran zu gewöhnen, diese fremde Frau zu sein. Sie imitiert sich selbst so gut sie kann, sehr gut kann sie es nicht. Sie ist nicht einmal eine Puppe, die wäre zumindest mit etwas gefüllt, sondern hat nur eine Maske aufgesetzt und was ist darunter? Es nimmt die Rolle Nadines an, weil Nadine nicht mehr da ist und trotzdem gebraucht wird.

Hilft es ihr, davon zu reden? Hilft es ihr, diese auf dem Plattenspieler kreisende Satzfolge in Gang zu bringen und dann sich selbst schweigend zuzuhören? Die Details entfallen ihr. Sie kann sich nicht mehr entsinnen, ob Nadine geraucht hat oder ob erst sie damit angefangen hat. Immer wieder stolpert sie und fällt und schlägt an ihren eigenen Tod an, vielleicht wie ein Apfel, der vom Baum abfällt und an den Grabstein anprallt, der unter ihm gestanden ist. Es ist anstrengend, dieses Bemühen, die Welt immer wieder daran zu erinnern, dass...

Sie steht auf und geht von Markus fort, ohne sich zu verabschieden. Markus wendet sich auch nicht zu ihr um. Sie schlüpft in Nadines Jacke, draußen regnet es, und sie raucht weiter. Von Glut zu Glut weniger Geschmack. Was soll ich davon halten? Ja, so war das. Ein Moment der Flucht. Das weiß ich. Ein Auffanglager, oder wie ich mir das halt vorstelle.

Ich, also du entdeckst mich zufällig. Zuerst erkennst du mich nicht. Aber ich bin schon wieder in der Außenperspektive. Die Schallplatte lässt sich oft abspielen, jedes Mal aufs Neue dreht sie sich sprechend um sich selbst, aber gleichzeitig kann sie ganz leicht Sprünge bekommen, in Stücke fallen. Von Satz zu Satz weniger Geschmack. Wen kann sie schon täuschen. Die Menschen können sehr gut unterscheiden, das ist es ja. Und ihr Gesicht ist ja durchgestrichen, ganz eindeutig. Allein Hannah hat es noch nicht verstanden.

Das Café liegt am Fluss, und aus dem Fenster kann man auf ihn sehen. Sie setzt sich hin, und weiß, dass der Kellner nicht auf sie aufmerksam werden wird. Trotz ihrer Entstellung wird sie kaum angestarrt. Die Menschen verstehen, dass ein Kreuz über sie gemacht worden ist: Das da ist gar nicht da. Jetzt wird sie eine Mélange trinken und in einem Notizbuch kritzeln, weil Nadine das gemacht hat. Eine tägliche Einübung, als würde es durch die Wiederholung wirklich werden. Aber stattdessen verliert sie ihre Gewohnheiten eine nach der anderen. Oder streift sie ab. Wie Decken.

Sie hält sie in den Händen wie zerbrochenes Spielzeug. Sie kann nichts mehr damit anfangen und wirft sie weg, eine nach der anderen. Selbst der Name ist ihr schon fremd geworden und sie betrachtet ihn skeptisch. Wenn man sie ruft, antwortet sie oft nicht, das passiert ihr. Was bleibt da noch übrig? Immerhin Zuschauen. Sie beobachtet, wie die Menschen Kaffee trinken, einander trinken. Sie heben sich gegenseitig an die Lippen wie dünne Porzellantassen. Sie nehmen den oberen Rand dieser Porzellantassen zwischen die Zähne. Sie selbst wird getrunken wie Kaffee-Ersatz. Der Geschmack ähnelt fast – zu verwechseln ist es aber nicht.
Es hilft, dass sie ohnehin nie bei der Sache sind. Wenn man genau hinsieht, sind ihre Körper verrenkt. Es ist als ständen sie um etwas herum und dabei wenden sie sich ab.

Hannah kommt herein, schwingt die Türe auf und zu, bringt kalte Luft von Draußen, strahlt auf sie zu. Grüßt sie, umarmt sie, küsst sie auf die Wange. Hannahs Lippen hinterlassen eine Spur wie einen feuchten Stempel auf ihrer Haut. Hannah riecht nach Seife. Hannah bestellt und redet und möchte auch von ihr viel wissen. Was soll sie sagen?
Hannahs Arm ist ausgestreckt, berührt den ihren, streichelt darüber, nebenbei, dabei ganz zärtlich. Dabei beugt Hannah sich vor, schaut ihr ins Gesicht, unterscheidet nicht.
Trinkt sie nicht wie Ersatz, trinkt gar nicht, sondern umfasst sie wie mit Flügeln, wie Vögeln es vielleicht mit ihren Eiern tun. Hannah bricht durch zu ihr, berührt sie am Arm, keine Scheu. Sie kann dem nichts entgegensetzen. Sie ist wehrlos, vergeht vor dem. «Ich hab dich so gern», sagt Hannah und meint es ernst, das ist es ja. Sie selbst streckt ihren Arm ebenfalls aus, legt ihn auf Hannahs Arm, aber fast zum Schutz, fast um sie fernzuhalten. Erdrück mich nicht, sagt sie damit. Erdrücken, das geht so leicht. Und dann kippt Hannahs Blick, vielleicht erinnert sie sich an andersweitige Verpflichtungen. Aber in einem Moment ist Hannahs Blick jedenfalls noch ganz auf sie gerichtet und im nächsten wendet er sich Hannah selbst zu. Hannah steht auf, wendet sich sich selbst zu, und wird in dieser kreisenden Rückkehr wie zu einem Wirbelwind. Hannah dreht sich zu sich und um sich selbst sich drehend geht sie und hat nichts leichter gemacht. Die Tür schwingt auf und zu, bringt kalte Luft von Draußen.
Sie bleibt zurück mit ihrem Kaffee. Die Tränen rinnen beinahe sofort, sie kann gar nichts dagegen tun. Aber niemand dreht sich nach ihr um. Sie könnte schreien und es würde sich niemand nach ihr umdrehen außer Hannah. Sie muss so viel nachholen. Es geht ja immer weiter. Sie hat schon längst den Glauben daran verloren, dass irgendetwas je enden wird. Sie legt die verbrauchte Maske ihres Gesichtes in die Hände. Weiß dort nichts damit anzufangen, legt das Gesicht deshalb für einen Moment auf die Tischplatte. Es rollt gemächlich hin und her, bis es sein Gleichgewicht gefunden hat. In der Ruhe setzt es sich. Die Café-Luft vermischt mit Hannahs Seifenduft streicht über das, was darunter ist und jetzt offen liegt. Wenn sie in diesen Moment einen Spiegel suchen ginge, dann könnte sie vielleicht herausfinden, worum es sich dabei handelt. Hat es denn auch einen Kratzer oder ist es unverletzt geblieben?
Das durchgestrichene Gesicht liegt derweil auf der Steintischplatte und friert.
Sie überlegt. Wenn sie jetzt ginge, würde man sie noch riechen können so wie man Hannah noch riechen kann?
Wenn sie sich in Luft auflösen würde, würde die Luft dann zumindest ihren Geruch annehmen? Hannahs Gesicht, ist es denn anders, als Hannah das Café verlässt? Kann man denn sehen, dass Hannahs Gesicht ihr Gesicht getroffen und berührt hat, so wie man sehen kann, dass etwas ihr eigenes Gesicht getroffen und berührt hat? Haben sich ihre Züge in Hannahs Züge, wenn auch nur vage, vermischt?
Wie schrecklich dieser Gedanke ist – aber sonst gibt nichts Halt. Alles andere flattert bloß lose im Raum. Das Café hat keine Bewohner, weil sich die Menschen hier nur flüchtig austauschen, austrinken. Sie gruppieren sich um ihre Tische und kehren den offenen Fenstern den Rücken. Sie stehen um die Tische herum, und dabei wenden sie sich von den Fenstern ab.Bloß ein Hund, auf dem Boden ausgestreckt, starrt selbst durch die Menschen hindurch hinaus.
Sie zieht in Betracht, die Maske auf dem Tisch nicht wieder aufzunehmen, sie hier zu vergessen, sie einfach liegen zu lassen, sowie sie schon so viele andere Besitztümer Nadines verlegt und verloren hat. Aber der Wind draußen ist ihr zu scharf und zu schneidend. Sie betrachtet ihr Gesicht, während sie den Rauch in sich sammelt. Dann umfasst sie es, hebt es auf und drückt es an den rechten Platz zurück.

Es ist steif, sie stoßt sich daran an. Schwerer ist es auch geworden. Einen Moment findet sie sich nicht zurecht, sie hat sogar Angst, es würde nicht mehr halten, und ein wenig verwundert stellt sie schließlich fest, dass es zu Stein geworden ist. So ist es eben, denkt sie. Fast ist es ihr Recht, die Maske schwer und hart und fremd auf ihr liegen zu spüren.
Mit der Maske am rechten Platz fordert niemand sie zum Gehen auf und auch der Hund hat keine Eile. Jetzt, wo es Abend wird, sieht sie draußen hin und wieder Fledermäuse die Luft durchzucken, und jedes Mal ist es ihr, als würde ein Sprung durch die Tasse gehen. Sie schreien, als erschräken sie vor sich selbst und vor ihren eigenen Erinnerungen, wie auch sie selbst vor Nadines Erinnerungen erschrickt.

Wenn sie versucht, diese Erinnerungen zu ordnen, zerfallen sie in Bruchstücke und zu Boden. Wenn sie sich bückt und die Bruchstücke aufhebt, ist es ihr, als würde sie selbst in Stücke zerbrechen. Den Traum nennt sie nur deshalb so, weil sie ihn schon so oft neu zusammen setzen und zusammenkleben hat müssen. Was sie davon auffangen und halten sollte, kann man kaum mehr ausmachen. Vielleicht ist sie so nah an der Grenze gewesen, in diesem Traum, dass sie sie nicht mehr hat sehen können und einfach darüber gestiegen und weitergegangen ist, wie aus Versehen. Vielleicht ist sie darüber hinweg gestiegen wie über eine sehr niedrige Schwelle, und hat davon gar nichts mitbekommen.
Nur ihre Augen sind größer geworden, sind zu Tieraugen geworden.

Elisabeth Klar
Geb. 1986 in Wien, studiert derzeit Komparatistik, Romanistik und Translationswissenschaften in Wien. Erster Preis der International Poetry Competition 2001. Hauptpreis der Jugendliteraturwerkstatt Graz 2003. Erster Preis der Jugendliteraturwerkstatt Graz 2004. Seit 2004 Leitung der Jugendliteraturwerkstatt Wien.
mehr...

42 / Editorial: Aufgetischt: Franz & Ingrid Reichel

Franz & Ingrid Reichel
Aufgetischt!

Wem zum Essen Fressen einfällt, der kippt unwillkürlich von der Völlerei in der Nahrungsaufnahmeverhaltensskala in die entgegen gesetzte Richtung: zum Hunger. Dass die Völlerei tatsächlich als Sündenfall bezeichnet werden kann, sieht man an unseren deformierten, geschundenen Körpern: erhöhte Cholesterin-, Blutzucker- und Blutdruckwerte, verfettetes Herz oder verhärtete Leber, Karies, permanentes Übergewicht u.v.m. Während über die Hälfte der Menschheit dem Hungertod ins Auge sieht, plagen wir uns in unserer BMI-gesteuerten Gesellschaft mit Gesundfasten. Das Essen, das zur ältesten Kultur und Tradition zählt, ist in unserer Maximierungszwanggesellschaft eines der alarmierendsten Indizien für eine seit Jahrzehnten verhaltensgestörte, westliche Zivilisation. Während sich die einen mit binge eating ihren Fressattacken hingeben, Bulimiekranke das Gewonnene wieder in Zerronnenes verwandeln, wächst eine Gruppe, denen der Appetit scheinbar gehörig vergangen ist: die Magersüchtigen, die krankhaften Gesundesser und sportwütigen Kalorienzähler oder nach dem neuesten Trend die Lichthungrigen. Dabei beginnen die Essstörungen bereits im Baby- und Kleinkindalter.
Beängstigende medizinische Diagnosen…
Der Magen, gerne unser erstes Gehirn genannt, hat seine Instinkte verloren. Mit der zunächst evolutionär gewonnenen Freiheit haben wir Kultur aufgebaut, nun zerbröckelt sie wie die Antike vor unseren Augen. Dabei sah alles so vielversprechend aus. Und sinnlich. Ja, die Völlerei ist ein Zeichen von Dekadenz! Genügend Filme haben uns in den letzten 40 Jahren unser rasantes gefährliches Spiel zwischen Nahrungsaufnahme und Sexualität vorgeführt: Das große Fressen – La grande bouffe - von Marco Ferreri; Tampopo – Pusteblume – von J¯z¯ Itami; Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber – The cook the thief his wife & her lover – von Peter Greenaway, nur um ein paar der ganz großen Klassiker zu nennen. Auf geniale Weise zeigen die drei das Wechselspiel zwischen Sexualität, Essen, Dekadenz und Todessehnsucht. Der Autor Bernhard Kathan erinnert uns in seinem neuesten Werk Hungerkünstler, dass vor langer Zeit schon die zwanghaft Fastenden auch einem religiösen Wahn verfallen waren. Sie aßen den Leib Christi und glaubten ihren Körper zu reinigen. Aber wir haben unsere Sinnlichkeit verfressen, unsere Erotik ist diesbezüglich abgestorben. Wie nüchtern doch in einem Haubenlokal mit Messer und Gabel diniert wird. Wie Appetit fördernd ist doch dagegen so ein Hendlhaxn in der Hand. Wenn Terence Hill in My Name is Nobody mit dem letzten Stück Brot das Bohnenreindl ausschmiert, anschließend herzhaft rülpst und Sie keinen Hunger beim Zusehen bekommen, dann ist bei Ihnen Hopfen und Malz verloren, denn Ihre Spiegelneuronen haben sich bereits von Ihnen verabschiedet!

Heute sehen wir entweder Fernsehköche oder Dokufilme auf Kinoleinwand wie We feed the world von Erwin Wagenhofer oder Super size me von Morgan Spurlock, die uns drastisch zeigen, dass wir den Bogen unwiderruflich überspannt haben. Wir haben verlernt unsere Freiheit zu genießen. Vielleicht aber haben wir nie gelernt, mit Freiheit umzugehen. Die kurze Euphorie der Freiheit hat uns trunken gemacht, hat unseren Verstand ausgeschaltet, unser auf Vernunft basierendes Denken blockiert. Der Staat baut strikte Regeln auf und wir gehen weltweit einer prohibitorischen und einer religionsfanatischen Zeit entgegen. Wir wollen hier nichts beschönigen. In dieser Ausgabe finden Sie den Spiegel unserer Gesellschaft.

Mit den Werken des Künstlers Daniel Spoerri fangen wir die verloren gegangenen Momente unserer Sinnlichkeit ein, mit Thomas Northoff und seinen Graffiti-Archivfotos sehen wir die Gegenwart und in den Essfotos der beiden Redakteure erwacht unsere Sehnsucht nach Freiheit. Anhand der Rezensionen können Sie erlesen, wie brisant Autoren, Herausgeber und Verlage diese Sehnsucht mit uns teilen. Unsere Heft-Autoren zeigen Ihnen mit ihren Beiträgen, wie sich das Essen in unserem Hirn eingebrannt und verkrustet hat, wie es uns tagtäglich blockiert und ängstigt, wie es von seiner lebensbejahenden Funktion zu einem mörderischen Fressen und zu einer Völlerei ausgeartet ist.

Im Advent des Festes der Liebe und des weltweiten Friedens bieten wir keine Lösung, keine Schelte, keine Mahnung, auch keine Rezepte, die finden Sie in der Literatur und in den Kochbüchern.
Wir wünschen Ihnen ein schönes, besinnliches Weihnachtsfest und … genießen Sie jedes Vanillekipferl … denn es könnte Ihr letztes sein!
mehr...

41 / Das Fremde im Text: Zelle 15 - Pius Njawe

Aktionsplatz: Das Fremde im Text
„Das Fremde im Text“ ist ein Aktionsplatz für Texte von Immigranten, die durch das „Writers-in-Prison-Komitee Österreich“ erfasst werden.

Pius Njawe
(Kamerun)
Bereits im Alter von 19 Jahren wurde der 1957 geborene Pius Njawe zum ersten Mal verhaftet, weil er die Nachricht verbreitet hatte, im Kamerun sei Erdöl gefunden worden. Als 22-Jähriger gründete er die Zeitung „Le Messager“ und wurde dadurch zum jüngsten Besitzer einer Zeitung in seinem Land. Seit damals engagierte er sich unermüdlich für die Pressefreiheit in seiner Heimat. Wiederhole Male wurde „Le Messager“ und das zweiwöchentlich erscheinende satirische Magazin „Le Messager Popoli“ verboten und beschlagnahmt. Die Periodika wurden mehrmals zensuriert, die Redaktionen geschlossen, die technische Ausstattung der Journalisten konfisziert und die Redakteure inhaftiert, bestraft und während des Regimes von Präsidenten Paul Biya gefoltert. Präsident Biya war achtundzwanzig Jahre im Amt. Pius Njawe wurde über dreißig Mal ins Gefängnis gesteckt. Immer wieder wurde ihm die medizinische Versorgung, die er als Diabetiker dringend brauchte, verweigert. Am 12. Juli 2010 kam Pius Njawe bei einem Autounfall in den USA ums Leben, er war zum Treffen „Cameroon Diaspora for Change“ unterwegs. Einen Monat vor seinem Tod sagte er: „Ein Wort kann stärker als eine Waffe sein und ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine bessere Welt schaffen und die Menschen glücklicher machen können. Warum sollten wir aufgeben, wenn uns die Verpflichtung ruft? Außer Gott wird mich niemand mich zum Schweigen bringen, solange ich nicht das erreicht habe, was ich als Mission für mein Land, für Afrika – und warum nicht – für die ganze Welt betrachte.“

Pius Njawe
Zelle 15

Die Behandlung im Gefängnis ist im höchsten Maße demütigend. Ziel ist es, meine Moral zu brechen, wenn ich physisch nicht beiseite geschafft werden kann. Die Zelle 15 teile ich mit ungefähr einhundert weiteren Insassen, fast alle von ihnen sind Kriminelle, die Morde, Attentate, Raubüberfälle und ähnliche Delikte begangen haben. Der Kamerad, mit dem ich die Schlafstelle teile, war der Anführer einer Bande, die das Haus meines Nachbarn ausgeräumt hat. Zwar bekomme ich Zeitungen und Bücher, doch das Schreiben ist mir nicht gestattet. So schreibe ich heimlich. Dafür muss ich um drei in der Früh aufstehen und beim Licht einer Taschenlampe meine Gedanken zu Papier bringen. Außerdem muss ich meine Mithäftlinge bezahlen, dass sie mich nicht verraten. So verfasse ich auch diesen Bericht, den ich heimlich an mein Büro senden werde, damit er abgeschrieben wird.
Ich weiß, dass ich nun für meine Unbeugsamkeit im achtzehn Jahre dauernden Kampf für „Le Messager“ und Vereinigungen wieder „Cameroon Organization for Press Freedom“ (Ocalip) und die 2 Central African Union of „Private Press Publishers“ um die demokratische Freiheit in Kamerun und in Afrika zu vergrößern, bezahlen muss. Ich bezahle dafür, dass ich die Zusammenarbeit mit einer politischen Partei verweigert habe. Ich bezahle dafür, dass ich mich geweigert habe, im Schweinetrog unterzutauchen. Ich bezahle dafür, dass ich meine Unabhängigkeit dem faulen Kompromiss vorgezogen habe. Ich bezahle, weil für jede Entscheidung gezahlt werden muss.
Aber ich bin auf meine Wahl stolz und bedauere sie nicht, weil ich davon überzeugt bin, dass sie der richtige Weg ist. Ich bedauere nur, dass wir noch immer viele Kollegen unter uns haben, die der Ansicht sind, der faule Kompromiss mit den Mächtigen führte zu einem Ausweg.

Übertragen aus dem Englischen von Helmuth A. Niederle

Aus:
Von der Gerechtigkeit träumen
Anthologie verfolgter Autorinnen und Autoren
Hrsg. von Helmuth A. Niederle
Wien: Löcker Verlag, 2010.
mehr...