Herbert Rosendorfer
Birgit Unterholzner (studierte Germanistik, Zeitgeschichte und Medienkunde in Innsbruck; freie Schriftstellerin, zuletzt Roman Flora Beriot, Innsbruck 2010, Rezension etcetera Heft 43, S. 71; heimisch in Bozen) traf im Jänner 2011 Prof. Herbert Rosendorfer in Bozen, um über sein vielfältiges, künstlerisches Schaffen zwischen da und dort zu sprechen.
Schriftsteller, Richter, Maler, Komponist, … wer ist Herbert Rosendorfer?
Immer wieder ein anderer.
Im letzten Jahr überreichte Ihnen der bayrische Ministerpräsident den Corine-Preis, einen internationalen Buchpreis, für Ihr Lebenswerk. Von Dieter Hildebrand stammt die Aussage „Dieser Mann ist ein Genie.“ Ist Herbert Rosendorfer im Leben dort angekommen, wohin er wollte?
Im gewissen Sinn ja, weil mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist nach Südtirol heimzukehren. Ansonsten nein. Ich habe immer wieder neue Ziele, etwas zu machen, was ich bisher noch nicht gemacht habe. Ehrungen habe ich genug bekommen, päpstlicher Sylvester-Ritter brauche ich nicht mehr zu werden.
Ein Kritiker sagte einmal, Rosendorfer schreibt, „… als hätte er Angst, von seinen Lesern eingeholt zu werden.“ Über 90 Werke. Darüber hinaus Libretti, Kompositionen und Gemälde. Was treibt Sie zu dieser schier atemlosen Produktion?
Vielleicht schreibe ich zuviel. Vielschreiber sind mir verdächtig, obwohl ich selber einer bin. Man sollte wenige, aber gewichtige Werke schreiben. Es beruhigt mich aber, sagen zu können: Ich schreibe nicht mehr, als mir einfällt.
Woher beziehen Sie Ihre Kraft? Was sind Ihre Energieräume, Ihre ganz persönlichen Quellen?
Aus den Gedanken, aus dem Versuch, die Welt zu verstehen, aus der Beobachtung derselben und der Menschen – und aus meinen Träumen. Und ganz banal: Ich habe immer einen gesunden, tiefen Schlaf gehabt.
Und vermutlich auch durch Ihre Transdisziplinarität. Sie können gut die Sphären wechseln, oder?
Das stimmt schon. Manchmal erhole ich mich beim einen vom anderen.
Was bedeutet Ihnen das Schreiben?
Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich wundere mich, dass nicht alle schreiben. Es ist so einfach. Zum Glück wissen das nicht alle. Es bedeutet mir Erholung, Befriedigung, wenn mir etwas gelungen ist. Befriedigung wie bei einer mathematischen Gleichung, wenn sie aufgeht.
Sie sind 76 Jahre alt, haben sehr viel erreicht. Gibt es für Sie noch eine literarische Herausforderung?
Ja. Ich möchte „Krieg und Frieden“ des 2.Weltkrieges schreiben. Ein Ziel, das ich leider wahrscheinlich nicht erreichen werde. Es ist zu hoch gesteckt.
Sie erzählen über Ballmanns Leiden und Konkursrecht, von Zwergenschlössern, chinesischer Vergangenheit und bayrischer Götterdämmerung, von Richard Wagner und dem SommerWinter, Autobiografisches in Eichkatzelried, Vatikanische Idyllen, Vorstadtminiaturen, über Salzburg, Trakl, von der Kellnerin Anni, Henkersmahlzeiten und und. Woher nehmen Sie Ihre Einfälle? Was inspiriert Sie?
Ich beobachte die großen und die kleinen Dinge. Ich interessiere mich für den Urknall, das Weltall und die Relativitätstheorie genauso wie für die Reaktion des Käfers, der über den Balkon kriecht. Es ist Stoff fürs Erzählen in allen Dingen. Ich bin ein Sammler und Märchenerzähler.
Gibt es ein Thema, über das Sie nicht schreiben können? Weil es Ihnen zu nahe kommt?
Ich könnte keine Erzählung, keinen Roman, kein Theaterstück usw. schreiben, in dem Kinder leiden oder gar sterben.
Gerne schildern Sie Situationen und Charaktere, die aus der Norm fallen. Außenseiter, Sonderlinge. Gibt es etwas, was Sie mit diesen Figuren verbindet?
Nur, dass ich sie beobachte. Ich war viele Jahre Richter. Ich betrachte meine Figuren sine ira et studio – unparteiisch. Ich verurteile nicht. Das Urteil hat der Leser.
Welche Art von Literatur mögen Sie besonders? Auch fremdsprachige oder aus einer anderen Epoche? Wer sind für Sie die „ganz großen“ Autoren der Weltliteratur?
Mein Lieblingsautor ist immer der, den ich grad lese. So wie mein Lieblingskomponist der ist, dessen Musik ich gerade höre. Aber abgesehen davon habe ich Vorlieben. In der deutschen Literatur sind das Fontane, Joseph Roth, Heinrich Heine, Schnitzler, Nestroy. Ich schätze die russische Literatur: Tschechow und Gogol mehr als Dostojewski. Tolstois „Krieg und Frieden“ halte ich für einen der größten Romane, die je geschrieben wurden. Aber auch vieles andere: Hemingway, Italo Calvino, Garcia Lorca, Gabriel Garcia Marquez, Tanja Blixen, Lawrence Sterne… Ja - und Goethe. Und zwei so unterschiedliche Autoren wie Kafka und Hermanovsky Orlando haben einen Sonderstatus.
Welche sind Ihre wichtigsten literarischen Begegnungen? Ihre wertvollsten Schriftstellerfreundschaften?
Ich hatte wenige Begegnungen mit anderen Schriftstellern, mit großen solchen. Als berufstätiger Jurist gehörte und gehöre ich, habe ich das Gefühl, nicht dazu. Eine enge Freundschaft verband mich mit Manfred Bieler, auch er leider fast schon vergessen, und mit Helmut Schinagl. Thomas Bernhard habe ich in seiner Jugend recht gut gekannt, wertvoll waren mir die Begegnungen mit H.C. Artmann. Mit Norbert Miller, Albert von Schirnding und Horst Pillau bin ich befreundet und im Kontakt. Sehr wichtig war mir der freundschaftliche Umgang mit Friedrich Torberg.
Was lesen Sie zur Zeit?
Ein Buch, das zu denen gehört, von dem viel geredet wird, das aber die wenigsten gelesen haben: Augustinus „Der Gottesstaat“.
Sie schreiben außer phantastischen und skurrilen Büchern auch historische Werke. Deutsche Geschichte. Ein Versuch in mehreren Bänden. Vom Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg. Was hat Sie an dieser Arbeit am meisten interessiert, gefreut oder geärgert?
Geschichte hat mich seit meiner Jugend interessiert, war immer das Lieblingsfach in der Schule, im Studium habe ich mich viel mit Rechtsgeschichte befasst, habe erkannt – durch meinen verehrten Lehrer Wolfgang Kunkel – dass Geschichte vor allem auch Rechtsgeschichte ist. Das wollte ich in meinen sechs Bänden für die deutsche Geschichte darstellen. Was mich immer wieder ärgert ist, dass die Historiker vielfach mit Theorien jonglieren, statt Tatsachen darzustellen.
Keine Schublade passt für Rosendorfer. Literarisch lassen Sie sich kaum einordnen. Haben Sie das Gefühl, Sie bewegen sich außerhalb gängiger Muster und Strömungen?
Das mache ich nicht absichtlich. Ich schrieb, schreibe und werde so schreiben, wie ich es selber gerne lesen würde. Am liebsten wäre es mir, wenn ein anderer so schriebe, dass ich mir die Mühe spare. Aber offenbar kann es kein anderer so. Und ich fahre neben den gängigen Geleisen dahin oder wechsle oft das Geleis.
Immer wieder werden alltägliche Dinge aus der Perspektive des Unwissenden, des Fremden betrachtet. Ein kindliches Staunen über die Dinge der Welt. Ich denke an die „Briefe in die chinesische Vergangenheit“. Welche Möglichkeit gibt Ihnen diese Erzählperspektive?
Das kindliche Staunen über die Welt ist oft ein Schlüssel zu dialektischem Verständnis. Das war die Basis meines Romans „Briefe in die chinesische Vergangenheit“, in dem die kindliche Betrachtungsweise des Chinesen aus dem 10. Jahrhundert mit dessen erwachsenen Verstand kombiniert ist.
Sie haben etliche Leser und Fans, veröffentlichen Jahr für Jahr in renommierten Verlagshäusern, auch bei kleineren Verlagen. In einem Interview sagten Sie einmal, von „Großkritikern“ wurden Sie nicht ernst genommen und Sie hätten nicht immer gut damit gelebt. Wie leben Sie heute damit? Welches ist Ihr persönlicher Literaturbegriff?
Ich lebe damit gut, weil ich immer wieder feststelle, dass jene Großkritiker, die mich nicht ernst nehmen, heimlich lieber meine Bücher lesen, als die von … ich nenne keine Namen. Aber es gibt auch Ausnahmen, Elke Heidenreich hat sich sozusagen ausdrücklich zu mir bekannt. Literatur ist für mich, was ich gerne lese.
Ernst und Tiefe anstelle von Leichtigkeit und Humor. So empfinden zahlreiche Leser die deutschsprachige Literatur. Und so wollen viele Schriftsteller sich verstanden wissen. Trotzdem ist Rosendorfer vor allem auch ein humorvoller Erzähler. Was bedeutet für Sie Humor?
Ich unterscheide nicht zwischen humorvoller und - nun ja ernster?, tiefgründiger? engagierter? Literatur. Ich unterscheide nur gute und schlechte Literatur. Humor gehört zum Leben und also zur Literatur wie Tod, Liebe Gerechtigkeit, Mond, Sonne und das große und das kleine Sternenlicht. War Thomas Mann ein „Humorist“? Waren Nestroy, Karl Valentin nur „Humoristen“?
Sehen Sie sich in einer typisch österreichischen oder bayrischen Tradition des Erzählens?
Ja, ganz bewusst.
Hinter lockerem Parlando steckt in Ihren Geschichten oft auch Betroffenheit. Ein negatives Welt- und Menschenbild schimmert unübersehbar in Ihrem Werk durch. Ist Ihr Urteil im Alter milder geworden oder hat es sich verhärtet?
Im Umgang mit Menschen im alltäglichen Leben bin ich, glaube ich, im Alter milder geworden. Im Übrigen ist das Gegenteil der Fall.
Denken Sie an den Tod?
Ja, zwangsläufig im Alter, zumal ich in den letzten Jahren zweimal eine starke „Gesundheitsunterbrechung“ hatte, die mir den Tod deutlich vor Augen geführt hat.
Was macht das Denken an den Tod mit Ihnen?
Ich fürchte den Tod nicht. Ich hoffe nur auf ein einigermaßen würdiges Sterben. Ich fürchte den Tod nicht, weil ich das Gefühl habe, auch wenn noch Pläne offen sind, ein Lebenswerk geleistet zu haben, das ich zurücklasse.
Rosendorfers nüchterne, zum Teil markige Betrachtungen zum Diesseits und Jenseits. Vor kurzem antworteten Sie auf die Frage, ob es Gott gebe, „Ich bin noch nicht fertig mit dem Nachdenken.“ Die Religion als Schreibthema. Früher. Heute. Haben sich Ansichten verschoben? Verändert?
Die Ansichten verschieben sich dauernd. Das Schreiben über Religion, Kirche, die Kritik daran, die ich manchmal von mir gebe, sind Teil dieses sehr ernsten Nachdenkens. Ich wünschte mir einen Dialog mit einem gescheiten, weltoffenen Priester, aber so einer ist schwer zu finden. Sie haben meistens keine Zeit… (lacht)
… ja, Priester haben viel zu tun, wenn sie Gotteshäuser füllen möchten … Herr Rosendorfer, Sie leben und arbeiten zwischen Südtirol, Österreich und Deutschland. Was verbindet Sie mit da und dort?
Ich habe gemerkt, dass ich weit mehr heimgekehrt bin, als ich erwartet hatte, nachdem ich 1997 nach Südtirol übersiedelte. Ich weiß, dass das ein ererbtes Heimatgefühl ist, von meiner Mutter, die nach der Aussiedelung 1939 bis zu ihrem frühen Tod stark unter Heimweh gelitten hatte. Auch wenn ich für manchen, das weiß ich, nicht dazu gehöre, bin ich in Südtirol daheim und hoffe es zu bleiben. In Österreich, genauer in Kitzbühel, habe ich entscheidende Lebensjahre verbracht; vom neunten bis zum vierzehnten und dann alle Ferien über bis zum zwanzigsten. So ist Kitzbühel auch eine Heimat, die übrigens in meinen literarischen Arbeiten immer wieder eine Rolle spielt.
Deutschland genauso: München war viele Jahre, Jahrzehnte mein Wohnort, mein Arbeitsplatz, auch Heimat. München ist die Stadt, die ich am besten kenne. In München hatte ich meine Professur an der Universität. Ich weiß, dass ich in München geschätzt und gewürdigt werde. Das ist ein gutes Gefühl, ich bin eitel. In München und dessen Umgebung leben meine drei erwachsenen Kinder, meine Enkel. Das vierte Kind lebt hier bei mir, sie ist Südtirolerin geworden.
Ihr Wunsch für das Jahr 2011?
Dass mein lang geplanter, schon viermal begonnener, dreimal verworfener, zu einem Viertel geschriebener Venedig-Roman fertig wird, sodass er 2012 erscheinen kann.
Wo glauben Sie, liegt der Schlüssel für Ihren Erfolg?
Das weiß ich nicht. Es gibt wahrscheinlich mehrere Schlüssel. Leser ist nicht gleich Leser. Ich weiß nur, worauf mein Erfolg nicht beruht: nicht auf bedeutende Rezensionen der Großkritiker in großen Zeitungen, nicht auf Hymnen im Literarischen Quartett und dergleichen, nicht auf Bestechlichkeiten. „Die Briefe in die chinesische Vergangenheit“ waren nie auf einer Bestsellerliste, sind nie von einem Großkritiker besprochen worden und wurden doch, die Übersetzungen nicht gerechnet, zwei Millionen Mal verkauft und offenbar auch gelesen.
Was bedeutet Ihnen Erfolg? Zufriedenheit, die Möglichkeit, mit vielen Menschen in Kontakt zu sein oder nicht allzu viel?
Ich habe die ersten Arbeiten, die ich heute gelten lasse, mit siebzehn Jahren geschrieben. Der erste eigentliche Erfolg kam mit dem „Ruinenbaumeister“, da war ich fünfunddreißig. Ich habe eineinhalb Jahrzehnte ohne oder fast ohne Erfolg geschrieben. Trotzdem habe ich unverdrossen weitergeschrieben, weil es mir Freude gemacht hat, auch, freilich, weil ich gehofft habe … Ob ich allerdings bis heute weitergeschrieben hätte, wenn der Erfolg nicht gekommen wäre, wage ich nicht zu sagen. Es gibt so Fälle, ich kenne welche. Der Erfolg ist das Echo, ist die Antwort auf das, was ich in meinen Büchern, ja in persönlicher Weise frage. Was frage ich? Die alte Kasperlfrage im Puppentheater: „Seid’s alle da?“ - „Habt’s a Geld a?“ (Ja auch das) - Und am Ende: „Hat’s euch gefallen?“
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Rosendorfer!
Herbert Rosendorfer
Geb. 1934 in Bozen, nach seinem Jurastudium arbeitete er als Staatsanwalt und später als Amtsrichter in München. Dort war er unter anderem als Professor für bayrische Literaturgeschichte an der Universität tätig. In vier Jahrzehnten hat er ein umfangreiches Werk geschaffen, das neben Romanen, Erzählungen, Theaterstücken auch Abhandlungen über Musik und Geschichte enthält. Am bekanntesten wurden die „Briefe in die chinesische Vergangenheit“. Herbert Rosendorfer wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, 1999 mit den Jean-Paul-Preis des Landes Bayern, zuletzt 2010 mit dem CORINE-Preis des bayrischen Ministerpräsidenten. Er lebt mit seiner Familie in Südtirol.
etcetera 44/ drüben/ Juni 2011 mehr...