Heinz Nußbaumer: Gegenwelten. Robert Eglhofer

Gegenwelten
Heinz Nußbaumer

 

Am 30. September 2010 hielt der österreichische Journalist und Fernsehmoderator Heinz Nußbaumer im bischöflichen Sommerrefektorium in St. Pölten einen Vortrag zum Thema Berg Athos, bei dem er auch sein Buch vorstellte. Robert Eglhofer erhielt im Anschluss an den Vortrag die Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch. (Zur LitGes-Rezension)

Als Pressesprecher zweier Bundespräsidenten waren Sie sicherlich auch mit Kontroversiellem konfrontiert. Wie sind Sie damit umgegangen? Im Speziellen denke ich an Präsident Waldheims Bitte um Versöhnung, die nach seinem Tod, quasi als politisches Testament, veröffentlicht wurde und bei der Sie ihn beraten haben. Von den Adressaten wurde diese Bitte aber achtlos vom Tisch gewischt. Waren Sie gekränkt?

Ich fürchte, das sind zu viele Fragen auf einmal. Tatsächlich habe ich genug Kontroversielles und Aufregendes in der Hofburg erlebt – unter Waldheim und unter Klestil. In aller Kürze: Was mit Waldheim geschehen ist, halte ich nach wie vor für ein Menschenrechtsproblem. Seine ‚Causa’ war vermutlich wichtig für Österreichs Vergangenheits-Verständnis – aber sie hatte nichts mit Waldheims Leben zu tun. Er war das falsche Zielobjekt. Sicher hat er auch Fehler gemacht und am Beginn manches gesagt, was der Sensibilität des Themas nicht angemessen war. Als UNO-Generalsekretär war er zuvor zehn Jahre lang als Krisenfeuerwehr in der Welt unterwegs und hat den Meinungsbildungsprozess in seiner Heimat zu wenig mitverfolgt. Als er wegging, war Österreichs Staatsdoktrin noch ganz klar: „Österreich war Hitlers erstes Aggressionsopfer“. Als er aus New York heimkehrte, war alles anders – und Österreich blutete (spät genug) aus allen Wunden der Vergangenheit.
Kein anderer Mensch ist jemals so peinlich genau von den Geheimdiensten der Welt nach einer „rauchenden Pistole“ in seiner Biografie abgesucht worden. Niemand hat eine gefunden. Aber so gut wie niemand hat dann gesagt: „Pardon, wir haben uns geirrt!“ Ich habe in meinen Jahren an seiner Seite eine enorme – übrigens weltweite – Verlogenheit im Umgang mit Waldheim miterlebt. Und ich kenne diejenigen, die das alles ausgelöst haben... Sein politisches Testament ist Zeichen seiner Anständigkeit – das soll ihm erst einer nachmachen!

Herr Prof. Nußbaumer, in meiner Rezension ihres Athos-Buches „Der Mönch in mir“ habe ich Sie als den großen, alten Mann des wertkonservativen Journalismus in Österreich bezeichnet. Darf ich das? „Alt“ verstehe ich dabei nicht als biologische Kategorie, sondern als Zeichen von Lebensweisheit.

Man soll ja Interviewern nie widersprechen. Aber: Mit dem „großen“, dem „weisen“ und dem wertkonservativen“ Nußbaumer hätte ich meine Probleme - „alt“ trifft da vermutlich noch am besten. Die Haltegriffe, an denen ich mein Leben zu orientieren versuche, schauen vermutlich für jeden, der sich dafür interessiert, anders aus. Gerade in religiösen - sprich kirchlichen – und auch politischen Fragen haben die Konservativen zumeist ziemliche Probleme mit mir...

In Ihrem Vortrag und in Ihrem Buch haben Sie sich als profunden Kenner der Klosterrepublik ausgewiesen. Was hat Sie ursprünglich hingeführt? Wie oft waren sie dort?

Entdeckt habe ich den Athos auf der Flucht vor ständiger Erreichbarkeit. Ich war sehr lange Außenpolitikchef des KURIER und dann noch ein Jahrzehnt Sprecher der Bundespräsidenten Waldheim und Klestil. Ein ziemlich aufreibendes Leben mit vielen gesundheitlichen Niederlagen. Irgendwann hat mir ein Freund gesagt, dass am Athos noch kein Mobiltelephon funktioniert. Da habe ich mir gedacht: ‚Das ist es!’ Da habe ich wenigstens eine Woche im Jahr meinen Frieden. Das ist der lang gesuchte „Ruheplatz am Wasser“, um es biblisch zu sagen. Als dann das Handy auch in den Athosklöstern funktioniert hat, habe ich es verschwiegen. So ist der Heilige Berg der Ostkirchen zu meiner zweiten „Heimat der Seele“ geworden – seit 25 Jahren!

Sie stellen den Athos dar als eine Art Gegenwelt zu unserem gewohnten Alltag. Hat Ihre Erfahrung mit der Mönchsrepublik Ihr persönliches Leben beeinflusst?

Beeinflusst ja, sicherlich. Denn aus der ursprünglichen Dankbarkeit für den „Fluchtort“ ist ja zunächst eine enorme Bewunderung gewachsen: für die Schönheit der Landschaft, die grandiose Architektur der Klöster und die uralte Ordnung der Mönchsgemeinschaften. Dann haben mich die Mystik der Orthodoxie, ihrer Kirchen und Gottesdienste fasziniert. Und schließlich ist noch eine starke Verbundenheit und Freundschaft mit vielen Mönchen dazu gekommen, denen ich so vieles verdanke. Trotzdem: Der „Mönch in mir“ ist noch sehr klein. Ich genieße es, in mein Kloster kommen zu können, wann immer ich Zeit habe – aber auch immer wieder heimkehren zu können: in mein Leben, zu meiner Familie und meinen beruflichen Aufgaben. Es sind diese Grenzgänge, für die ich so dankbar bin: zwischen Kloster und Alltag, aber auch zwischen Ost- und Westkirche.

Sie haben nur positive und erhebende Erfahrungen mit dem Heiligen Berg geschildert. Gilt nicht auch dort – wie in so manchem unserer heimischen Klöster (Stichwort Kindesmissbrauch) – der Satz „Diabolus non dormit?“ Bei meinem Besuch des Athos im Jahre 1987 – auf dem Schiff von Ouranopolis nach Dafni – zeigte ein Grieche stolz einen Stapel Pornohefte und behauptete, er würde bei den Mönchen damit gute Geschäfte machen. Denkbar?

Am Athos „menschelt“ es sicher genauso wie überall sonst. Pornohefte habe ich in den vergangenen 25 Jahren nirgends gesehen, aber Enthaltsamkeit ist vermutlich innerhalb von Klostermauern nicht einfacher als außerhalb. Trotzdem: Wer den großen, lebens-entscheidenden Schritt aus unserer Welt in ein Kloster tut – gar in die Abgeschiedenheit des Athos -, der hat zunächst „Heiligung“ im Sinn und will seinem Gott in Gebet und Arbeit näher kommen. Ob er damit lebenslang zurechtkommt, ist eine zweite Frage. Die Mönche, die ich besser kenne, verdienen jede Bewunderung – für ihr Leben und ihr Mühen.

Bei meinem Besuch im Kloster Esfigmenu wurde ich der Kirche verwiesen, weil ich Katholik bin. Die Idee der ökumenischen Toleranz scheint bei den Orthodoxen nicht so ausgeprägt zu sein wie bei uns. Würden Sie dem zustimmen?

So plakativ lässt sich das kaum beantworten. Tatsächlich sieht sich die Orthodoxie als die ältere, ursprüngliche Kirche des Christentums, von der sich immer wieder Kirchen abgespalten haben. Der Machtanspruch des Papstes als „Vertreter Christi“ mit Durchgriffsrecht auf alle Christen war und ist für Orthodoxe unannehmbar. Der Berg Athos hat zudem eine furchtbare Geschichte ungezählter Überfälle von Räubern, Piraten, Strauchdieben, die sich immer als Vertreter des lateinischen Papstes in Rom ausgegeben haben – um die „bösen Herätiker“ aus dem Osten zu bestrafen. Und tatsächlich gibt es auch heute noch Klöster am Athos, die Katholiken die Teilnahme an der Messe oder am gemeinsamen Mahl verweigern. Auch ich bin schon hinausgedrängt worden. Aber nichts gilt überall. In „meinem“ Kloster bin ich auf eine Weise liebevoll aufgenommen worden, wie es nicht schöner, ökumenischer, liebevoller sein könnte.

Den Athos dürfen nur Männer betreten, nicht einmal größere weibliche Tiere werden dort geduldet. Passt das noch ins 21. Jahrhundert?

Jeder vernünftige Mensch würde zunächst sagen: ‚Das passt natürlich nicht mehr’. Aber mit Vernunft allein kommen wir nicht immer weiter. Sogar das Europäische Parlament hat sich bei der Aufnahme Griechenlands in die EU schließlich der großen, mehr als tausendjährigen Tradition gebeugt. Wo 2.500 Mönche auf engem Raum ihre Gelübde – Armut, Gehorsam und Keuschheit – ernst nehmen wollen, ist Weiblichkeit immer eine Herausforderung. Außerdem hat der Athos das Frauenverbot spirituell verankert: Er ist der „Garten der Muttergottes“ – sie soll die einzige Frau am hl. Berg sein. Und tatsächlich wird die „Theotokos“ in ungezählten Ikonen auf eine berührende Weise von den Mönchen verehrt. Schließlich – und ohne die Athos-Tradition zu verteidigen: Wie viele Clubs, Vereine und vor allem Klöster gibt es, in denen ganz selbstverständlich nur Männer oder nur Frauen erwünscht sind? Was ich mit Sicherheit sagen kann: Frauenverachtung herrscht am Athos sicherlich nicht.

Ihr Buch suggeriert, es gäbe so etwas wie Mönchtum auf Zeit. Ist es nicht zu einfach zu sagen: „Jetzt gehe ich ein, zwei Wochen ins Kloster und dann zurück in mein säkulares Leben?

Natürlich verändert eine Woche im Kloster im Regelfall unser Leben nicht – auch wenn ich Ausnahmen kenne. Aber es muss einen Grund haben, warum sich zwar unsere Kirchen leeren, aber auf den Pilgerwegen und in den Klöstern ein Andrang ist, wie seit dem Mittelalter nicht mehr. Millionen Menschen sind Jahr für Jahr bereit, aus ihrem Alltag auszusteigen – aus einer spirituellen Sehnsucht, die unserem Zeitgeist gänzlich zuwiderläuft. Wieso das so ist? Darauf mag jeder seine eigene Antwort haben. Ich denke da an einen alten, weisen Priester, der zu solchen Phänomenen – mehr als ein Drittel der Pilger sind jünger als 30 Jahre, die in keiner Kirche mehr zu sehen sind – immer den wunderbar- vorsichtigen Satz gesagt hat: „Beim Pilgern geschieht nie nichts – egal, wer da aufbricht und unterwegs ist!!

Herzlichen Dank für Ihr Interview!

Heinz Nußbaumer
Geb. 1943 in Bad Reichenhall. Journalistische Karriere mit Schwerpunkt Außenpolitik: 1971-1990 Außenpolitik-Ressortleiter der Tageszeitung Kurier; Vertrauensperson zur Kontaktherstellung israelischer und arabischer Staatsmänner unter UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim und Bundeskanzler Bruno Kreisky; 1990–1999 Pressechef der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei und Sprecher der Bundespräsidenten Kurt Waldheim und Thomas Klestil. Seit 2001 ist Nußbaumer Gastgeber des „philosophicum“ und Leiter von Religionsdiskussionen wie in der Sendung „kreuz und quer“ ORF 2. Seit 2002 Vorstandsvorsitzender des SOS-Kinderdorfs NÖ. Seit 2003 Herausgeber der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“. Intensive interreligiöse und –kulturelle Vortragstätigkeiten und Diskussionsleitungen bei internationalen Konferenzen in Österreich zum Thema Islam. Zahlreiche Auszeichnungen und mehrere Buchpublikationen.

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Heinz Nußbaumer: Gegenwelten. Robert Eglhofer

Marjana Gaponenko: Über die Vorstellungskraft. Eva Riebler

Über die Vorstellungskraft
Marjana Gaponenko

 

Anlässlich der Präsentation des Debütromans Annuschka Blume im Residenz Verlag besuchte die 1981 in der Ukraine geborene Autorin Marjana Gaponenko im Sept. 2010 St. Pölten, Paudorf und Wien. Eva Riebler führte mit ihr folgendes Gespräch. (Zur LitGes-Rezension)

Ist Drüben, im Sinne dieses Ihres Werkes, das Irreale, das Erdachte - oder sind die Briefe tatsächlich zwischen den beiden Protagonisten Ihres Romans gesandt worden? Die Vorstellungskraft der Heldin ist so groß, dass sie nur erdacht sein können.

Drüben ist für mich genauso „hier“ und genauso real wie das Sichtbare und Greifbare unmittelbar um mich herum. Meinen beiden Helden im Buch geht es nicht anders. Annuschka und Piotr scheint es nur im Kontext meiner Geschichte zu geben, doch, so unwahrscheinlich wie es klingt, sind sie für mich inzwischen lebendiger als ich selbst in meiner eigenen Wahrnehmung. Wer von uns ist erdacht? Im Sinne von Annuschka gibt es drüben, solange man daran glaubt. Der Leser soll schließlich entscheiden, ob es die beiden wirklich gegeben hat oder nur Annuschka oder nur Piotr und wer von den beiden Briefe geschrieben hat. Mein Versuch bestand hauptsächlich darin, alle möglichen und unmöglichen Grenzen zu verwischen, ganz leise an den eingebrannten Denkkategorien zu rütteln.

Der Stil des Werkes erinnert mich an pädagogisch wertvolle Märchenerzählungen. Es ist sehr viel Lebensweisheit in die Briefe verpackt. Die Gedanken sind dermaßen philosophisch durchsetzt, dass sich die Frage aufdrängt, ob Sie Philosophie studiert haben oder großes Interesse dafür zeigen.

Ich glaube nicht, dass man sich für Philosophie interessieren kann. Sie ist eine Daseinsform und keine Aktivität. Das Schöne ist, dass sehr viele bis zum Schluss gar nicht merken, dass sie durch und durch Philosophen sind. An den großen Fragen der Menschheit kommt man unmöglich vorbei. Kaum hat man als Kind ein Märchen gehört, hat man seine Seele der Philosophie verschrieben.

Ja, der denkende, reflektierende Mensch kann nicht auf sein Ziel einfach lossteuern, er muss wie die Hauptfiguren kontemplatorisch versuchen, den Sinn des Lebens zu ergründen. Wie nahe kommen die beiden diesem Sinn?

Der Sinn des Lebens? Ich fürchte, ihn zu finden, war nie wirklich in ihrem Vorhaben. Ihre Suche war ein erschöpfender, befreiender, delirischer und glasklarer Tanz um diesen Sinn. Dabei war er ihnen näher als ihre Beine oder Arme. Ich möchte Annuschka zitieren: Das hätten Sie sehen müssen! Wie das Boot den Flussvorhang hob, ohne ihn zu lüften, eine Umarmung, die nichts wollte, die perfekt war in ihrem Nichtwollen. So könnte es dem durstigen Suchenden eines Tages gelingen, in das Mysterium einzudringen. Plötzlich wird er den Vorhang lüften, ohne ihn zu heben, und da sein, wo er schon immer war. Die Ferne fällt raschelnd ab, und der wahre Glaube blitzt auf, heller als alles, war er zuvor gesehen hat.

Beim Lesen Ihres Romans denke ich stets an Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck oder Joseph von Eichendorff. Der Sprachduktus sowie das Einflechten von Gesängen und Liedern oder der Geschichte vom zahnlosen Schmied oder der vom Pilz Pawlo wirken so sehr der Romantik verhaftet. Die Erzählkunst des 19. Jahrhunderts weht mich an.

Ich komme aus einem Kulturkreis, in dem das Romantische keinen schweren Beigeschmack hat und nicht belächelt wird. Es wird weder mit dem Pathos noch mit dem Drama noch mit etwas Altmodischem, Unnatürlichem oder Infantilem assoziiert. Ich glaube, wenn das Romantische geschieht, wird es kaum wahrgenommen, so sehr ist es mit dem Leben verknüpft. In meinem Roman habe ich versucht diese Romantik des 19. Jahrhunderts mit Humor und einer Portion Philosophie zu verfeinern.

Und ich hoffe, es ist mir dadurch ein bisschen gelungen den westeuropäischen Klischees vom osteuropäischen Pathos und von süßlicher Romantik ihren Schwung und vielleicht auch die Grundlage zu nehmen.

Sind Sie wirklich der Meinung, wie Sie es S. 235 am Ende Ihres Werkes ausdrücken, die Welt braucht keine gütigen Märchen, sondern alberne mit albernen Helden? Haben wir nicht alberne Helden vor allem in Film, TV und den Serien, die sich unsere Kinder ansehen, und im realen Leben genug?

Da ich keinen Fernseher besitze, bin ich vom TV zum Glück verschont gelieben. Aber ich nehme an, es läuft viel Quatsch im Fernsehen. Ob dieser Quatsch anspruchsvoll genug, albern genug ist, kann ich deswegen nicht beurteilen. Und ja, ich glaube es wirklich: die Zukunft gehört einem Donald Duck. Mit albernen Schritten voraus, um es albern auszudrücken. Denn der Mensch ist an sich gut und gütig. S. 235 unterschreibe ich doppelt und dreifach.

Ich finde es schade, dass die albernen Helden bleiben und die Märchen vergehen, verschwinden... Generationen fehlt die Mystik des erzählten Märchens.

Das Alberne schließt das Mystische nicht aus.

Auch wenn unsere Jugendlichen die Verwischung und Vermischung von Realität in ihren Computerspielen und TV-Sendungen erleben, ist es nicht diese fein und tiefsinnige, melancholisch geprägte Welt wie in Ihrem Roman.

Solange sie ihre Fantasien vor dem Computer oder Fernseher ausleben, und nicht draußen rumballern, ist alles halb so schlimm. Früher oder später werden unsere Jugendlichen zu Erwachsenen und fangen an Bücher zu lesen. (z.B. „Annuschka“)

Haben Sie bei der Vermischung von Traum und Wirklichkeit, die Ihr Werk von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht (das erste Wort ist „Nacht. Ich sitze im Haus und stelle mir vor, ich wäre ...“, die letzten sind „Das Zimmer schwimmt, und Fische wirbeln wie im Traum umher; im Traum, im Traum, im Traum!“) je an das Schweben der Figuren Kafkas zwischen Traum und Realität gedacht?

Nein, ich habe nur an meine beiden Helden gedacht, es ging gar nicht anders.

Danke für das Interview und viel Erfolg bei der Frankfurter Buchmesse!

Marjana Gaponenko
Geb.1981 in Odessa (Ukraine), studierte dort Germanistik und lebt heute nach Aufenthalten in Krakau und Dublin in Mainz. Sie schreibt seit 1996 auf Deutsch. Zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2009 wurde sie mit dem Frau-Ava-Literaturpreis ausgezeichnet. „Annuschka Blume“, 2010, Roman, Residenz Verlag.

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Marjana Gaponenko: Über die Vorstellungskraft. Eva Riebler

Herbert Rosendorfer. Birgit Unterholzner

Herbert Rosendorfer

 

Birgit Unterholzner (studierte Germanistik, Zeitgeschichte und Medienkunde in Innsbruck; freie Schriftstellerin, zuletzt Roman Flora Beriot, Innsbruck 2010, Rezension etcetera Heft 43, S. 71; heimisch in Bozen) traf im Jänner 2011 Prof. Herbert Rosendorfer in Bozen, um über sein vielfältiges, künstlerisches Schaffen zwischen da und dort zu sprechen.

Schriftsteller, Richter, Maler, Komponist, … wer ist Herbert Rosendorfer?

Immer wieder ein anderer.

Im letzten Jahr überreichte Ihnen der bayrische Ministerpräsident den Corine-Preis, einen internationalen Buchpreis, für Ihr Lebenswerk. Von Dieter Hildebrand stammt die Aussage „Dieser Mann ist ein Genie.“ Ist Herbert Rosendorfer im Leben dort angekommen, wohin er wollte?

Im gewissen Sinn ja, weil mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist nach Südtirol heimzukehren. Ansonsten nein. Ich habe immer wieder neue Ziele, etwas zu machen, was ich bisher noch nicht gemacht habe. Ehrungen habe ich genug bekommen, päpstlicher Sylvester-Ritter brauche ich nicht mehr zu werden.

Ein Kritiker sagte einmal, Rosendorfer schreibt, „… als hätte er Angst, von seinen Lesern eingeholt zu werden.“ Über 90 Werke. Darüber hinaus Libretti, Kompositionen und Gemälde. Was treibt Sie zu dieser schier atemlosen Produktion?

Vielleicht schreibe ich zuviel. Vielschreiber sind mir verdächtig, obwohl ich selber einer bin. Man sollte wenige, aber gewichtige Werke schreiben. Es beruhigt mich aber, sagen zu können: Ich schreibe nicht mehr, als mir einfällt.

Woher beziehen Sie Ihre Kraft? Was sind Ihre Energieräume, Ihre ganz persönlichen Quellen?

Aus den Gedanken, aus dem Versuch, die Welt zu verstehen, aus der Beobachtung derselben und der Menschen – und aus meinen Träumen. Und ganz banal: Ich habe immer einen gesunden, tiefen Schlaf gehabt.

Und vermutlich auch durch Ihre Transdisziplinarität. Sie können gut die Sphären wechseln, oder?

Das stimmt schon. Manchmal erhole ich mich beim einen vom anderen.

Was bedeutet Ihnen das Schreiben?

Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich wundere mich, dass nicht alle schreiben. Es ist so einfach. Zum Glück wissen das nicht alle. Es bedeutet mir Erholung, Befriedigung, wenn mir etwas gelungen ist. Befriedigung wie bei einer mathematischen Gleichung, wenn sie aufgeht.

Sie sind 76 Jahre alt, haben sehr viel erreicht. Gibt es für Sie noch eine literarische Herausforderung?

Ja. Ich möchte „Krieg und Frieden“ des 2.Weltkrieges schreiben. Ein Ziel, das ich leider wahrscheinlich nicht erreichen werde. Es ist zu hoch gesteckt.

Sie erzählen über Ballmanns Leiden und Konkursrecht, von Zwergenschlössern, chinesischer Vergangenheit und bayrischer Götterdämmerung, von Richard Wagner und dem SommerWinter, Autobiografisches in Eichkatzelried, Vatikanische Idyllen, Vorstadtminiaturen, über Salzburg, Trakl, von der Kellnerin Anni, Henkersmahlzeiten und und. Woher nehmen Sie Ihre Einfälle? Was inspiriert Sie?

Ich beobachte die großen und die kleinen Dinge. Ich interessiere mich für den Urknall, das Weltall und die Relativitätstheorie genauso wie für die Reaktion des Käfers, der über den Balkon kriecht. Es ist Stoff fürs Erzählen in allen Dingen. Ich bin ein Sammler und Märchenerzähler.

Gibt es ein Thema, über das Sie nicht schreiben können? Weil es Ihnen zu nahe kommt?

Ich könnte keine Erzählung, keinen Roman, kein Theaterstück usw. schreiben, in dem Kinder leiden oder gar sterben.

Gerne schildern Sie Situationen und Charaktere, die aus der Norm fallen. Außenseiter, Sonderlinge. Gibt es etwas, was Sie mit diesen Figuren verbindet?

Nur, dass ich sie beobachte. Ich war viele Jahre Richter. Ich betrachte meine Figuren sine ira et studio – unparteiisch. Ich verurteile nicht. Das Urteil hat der Leser.

Welche Art von Literatur mögen Sie besonders? Auch fremdsprachige oder aus einer anderen Epoche? Wer sind für Sie die „ganz großen“ Autoren der Weltliteratur?

Mein Lieblingsautor ist immer der, den ich grad lese. So wie mein Lieblingskomponist der ist, dessen Musik ich gerade höre. Aber abgesehen davon habe ich Vorlieben. In der deutschen Literatur sind das Fontane, Joseph Roth, Heinrich Heine, Schnitzler, Nestroy. Ich schätze die russische Literatur: Tschechow und Gogol mehr als Dostojewski. Tolstois „Krieg und Frieden“ halte ich für einen der größten Romane, die je geschrieben wurden. Aber auch vieles andere: Hemingway, Italo Calvino, Garcia Lorca, Gabriel Garcia Marquez, Tanja Blixen, Lawrence Sterne… Ja - und Goethe. Und zwei so unterschiedliche Autoren wie Kafka und Hermanovsky Orlando haben einen Sonderstatus.

Welche sind Ihre wichtigsten literarischen Begegnungen? Ihre wertvollsten Schriftstellerfreundschaften?

Ich hatte wenige Begegnungen mit anderen Schriftstellern, mit großen solchen. Als berufstätiger Jurist gehörte und gehöre ich, habe ich das Gefühl, nicht dazu. Eine enge Freundschaft verband mich mit Manfred Bieler, auch er leider fast schon vergessen, und mit Helmut Schinagl. Thomas Bernhard habe ich in seiner Jugend recht gut gekannt, wertvoll waren mir die Begegnungen mit H.C. Artmann. Mit Norbert Miller, Albert von Schirnding und Horst Pillau bin ich befreundet und im Kontakt. Sehr wichtig war mir der freundschaftliche Umgang mit Friedrich Torberg.

Was lesen Sie zur Zeit?

Ein Buch, das zu denen gehört, von dem viel geredet wird, das aber die wenigsten gelesen haben: Augustinus „Der Gottesstaat“.

Sie schreiben außer phantastischen und skurrilen Büchern auch historische Werke. Deutsche Geschichte. Ein Versuch in mehreren Bänden. Vom Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg. Was hat Sie an dieser Arbeit am meisten interessiert, gefreut oder geärgert?

Geschichte hat mich seit meiner Jugend interessiert, war immer das Lieblingsfach in der Schule, im Studium habe ich mich viel mit Rechtsgeschichte befasst, habe erkannt – durch meinen verehrten Lehrer Wolfgang Kunkel – dass Geschichte vor allem auch Rechtsgeschichte ist. Das wollte ich in meinen sechs Bänden für die deutsche Geschichte darstellen. Was mich immer wieder ärgert ist, dass die Historiker vielfach mit Theorien jonglieren, statt Tatsachen darzustellen.

Keine Schublade passt für Rosendorfer. Literarisch lassen Sie sich kaum einordnen. Haben Sie das Gefühl, Sie bewegen sich außerhalb gängiger Muster und Strömungen?

Das mache ich nicht absichtlich. Ich schrieb, schreibe und werde so schreiben, wie ich es selber gerne lesen würde. Am liebsten wäre es mir, wenn ein anderer so schriebe, dass ich mir die Mühe spare. Aber offenbar kann es kein anderer so. Und ich fahre neben den gängigen Geleisen dahin oder wechsle oft das Geleis.

Immer wieder werden alltägliche Dinge aus der Perspektive des Unwissenden, des Fremden betrachtet. Ein kindliches Staunen über die Dinge der Welt. Ich denke an die „Briefe in die chinesische Vergangenheit“. Welche Möglichkeit gibt Ihnen diese Erzählperspektive?

Das kindliche Staunen über die Welt ist oft ein Schlüssel zu dialektischem Verständnis. Das war die Basis meines Romans „Briefe in die chinesische Vergangenheit“, in dem die kindliche Betrachtungsweise des Chinesen aus dem 10. Jahrhundert mit dessen erwachsenen Verstand kombiniert ist.

Sie haben etliche Leser und Fans, veröffentlichen Jahr für Jahr in renommierten Verlagshäusern, auch bei kleineren Verlagen. In einem Interview sagten Sie einmal, von „Großkritikern“ wurden Sie nicht ernst genommen und Sie hätten nicht immer gut damit gelebt. Wie leben Sie heute damit? Welches ist Ihr persönlicher Literaturbegriff?

Ich lebe damit gut, weil ich immer wieder feststelle, dass jene Großkritiker, die mich nicht ernst nehmen, heimlich lieber meine Bücher lesen, als die von … ich nenne keine Namen. Aber es gibt auch Ausnahmen, Elke Heidenreich hat sich sozusagen ausdrücklich zu mir bekannt. Literatur ist für mich, was ich gerne lese.

Ernst und Tiefe anstelle von Leichtigkeit und Humor. So empfinden zahlreiche Leser die deutschsprachige Literatur. Und so wollen viele Schriftsteller sich verstanden wissen. Trotzdem ist Rosendorfer vor allem auch ein humorvoller Erzähler. Was bedeutet für Sie Humor?

Ich unterscheide nicht zwischen humorvoller und - nun ja ernster?, tiefgründiger? engagierter? Literatur. Ich unterscheide nur gute und schlechte Literatur. Humor gehört zum Leben und also zur Literatur wie Tod, Liebe Gerechtigkeit, Mond, Sonne und das große und das kleine Sternenlicht. War Thomas Mann ein „Humorist“? Waren Nestroy, Karl Valentin nur „Humoristen“?

Sehen Sie sich in einer typisch österreichischen oder bayrischen Tradition des Erzählens?

Ja, ganz bewusst.

Hinter lockerem Parlando steckt in Ihren Geschichten oft auch Betroffenheit. Ein negatives Welt- und Menschenbild schimmert unübersehbar in Ihrem Werk durch. Ist Ihr Urteil im Alter milder geworden oder hat es sich verhärtet?

Im Umgang mit Menschen im alltäglichen Leben bin ich, glaube ich, im Alter milder geworden. Im Übrigen ist das Gegenteil der Fall.

Denken Sie an den Tod?

Ja, zwangsläufig im Alter, zumal ich in den letzten Jahren zweimal eine starke „Gesundheitsunterbrechung“ hatte, die mir den Tod deutlich vor Augen geführt hat.

Was macht das Denken an den Tod mit Ihnen?

Ich fürchte den Tod nicht. Ich hoffe nur auf ein einigermaßen würdiges Sterben. Ich fürchte den Tod nicht, weil ich das Gefühl habe, auch wenn noch Pläne offen sind, ein Lebenswerk geleistet zu haben, das ich zurücklasse.

Rosendorfers nüchterne, zum Teil markige Betrachtungen zum Diesseits und Jenseits. Vor kurzem antworteten Sie auf die Frage, ob es Gott gebe, „Ich bin noch nicht fertig mit dem Nachdenken.“ Die Religion als Schreibthema. Früher. Heute. Haben sich Ansichten verschoben? Verändert?

Die Ansichten verschieben sich dauernd. Das Schreiben über Religion, Kirche, die Kritik daran, die ich manchmal von mir gebe, sind Teil dieses sehr ernsten Nachdenkens. Ich wünschte mir einen Dialog mit einem gescheiten, weltoffenen Priester, aber so einer ist schwer zu finden. Sie haben meistens keine Zeit… (lacht)

… ja, Priester haben viel zu tun, wenn sie Gotteshäuser füllen möchten … Herr Rosendorfer, Sie leben und arbeiten zwischen Südtirol, Österreich und Deutschland. Was verbindet Sie mit da und dort?

Ich habe gemerkt, dass ich weit mehr heimgekehrt bin, als ich erwartet hatte, nachdem ich 1997 nach Südtirol übersiedelte. Ich weiß, dass das ein ererbtes Heimatgefühl ist, von meiner Mutter, die nach der Aussiedelung 1939 bis zu ihrem frühen Tod stark unter Heimweh gelitten hatte. Auch wenn ich für manchen, das weiß ich, nicht dazu gehöre, bin ich in Südtirol daheim und hoffe es zu bleiben. In Österreich, genauer in Kitzbühel, habe ich entscheidende Lebensjahre verbracht; vom neunten bis zum vierzehnten und dann alle Ferien über bis zum zwanzigsten. So ist Kitzbühel auch eine Heimat, die übrigens in meinen literarischen Arbeiten immer wieder eine Rolle spielt.
Deutschland genauso: München war viele Jahre, Jahrzehnte mein Wohnort, mein Arbeitsplatz, auch Heimat. München ist die Stadt, die ich am besten kenne. In München hatte ich meine Professur an der Universität. Ich weiß, dass ich in München geschätzt und gewürdigt werde. Das ist ein gutes Gefühl, ich bin eitel. In München und dessen Umgebung leben meine drei erwachsenen Kinder, meine Enkel. Das vierte Kind lebt hier bei mir, sie ist Südtirolerin geworden.

Ihr Wunsch für das Jahr 2011?

Dass mein lang geplanter, schon viermal begonnener, dreimal verworfener, zu einem Viertel geschriebener Venedig-Roman fertig wird, sodass er 2012 erscheinen kann.

Wo glauben Sie, liegt der Schlüssel für Ihren Erfolg?

Das weiß ich nicht. Es gibt wahrscheinlich mehrere Schlüssel. Leser ist nicht gleich Leser. Ich weiß nur, worauf mein Erfolg nicht beruht: nicht auf bedeutende Rezensionen der Großkritiker in großen Zeitungen, nicht auf Hymnen im Literarischen Quartett und dergleichen, nicht auf Bestechlichkeiten. „Die Briefe in die chinesische Vergangenheit“ waren nie auf einer Bestsellerliste, sind nie von einem Großkritiker besprochen worden und wurden doch, die Übersetzungen nicht gerechnet, zwei Millionen Mal verkauft und offenbar auch gelesen.

Was bedeutet Ihnen Erfolg? Zufriedenheit, die Möglichkeit, mit vielen Menschen in Kontakt zu sein oder nicht allzu viel?

Ich habe die ersten Arbeiten, die ich heute gelten lasse, mit siebzehn Jahren geschrieben. Der erste eigentliche Erfolg kam mit dem „Ruinenbaumeister“, da war ich fünfunddreißig. Ich habe eineinhalb Jahrzehnte ohne oder fast ohne Erfolg geschrieben. Trotzdem habe ich unverdrossen weitergeschrieben, weil es mir Freude gemacht hat, auch, freilich, weil ich gehofft habe … Ob ich allerdings bis heute weitergeschrieben hätte, wenn der Erfolg nicht gekommen wäre, wage ich nicht zu sagen. Es gibt so Fälle, ich kenne welche. Der Erfolg ist das Echo, ist die Antwort auf das, was ich in meinen Büchern, ja in persönlicher Weise frage. Was frage ich? Die alte Kasperlfrage im Puppentheater: „Seid’s alle da?“ - „Habt’s a Geld a?“ (Ja auch das) - Und am Ende: „Hat’s euch gefallen?“

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Rosendorfer!

 

Herbert Rosendorfer
Geb. 1934 in Bozen, nach seinem Jurastudium arbeitete er als Staatsanwalt und später als Amtsrichter in München. Dort war er unter anderem als Professor für bayrische Literaturgeschichte an der Universität tätig. In vier Jahrzehnten hat er ein umfangreiches Werk geschaffen, das neben Romanen, Erzählungen, Theaterstücken auch Abhandlungen über Musik und Geschichte enthält. Am bekanntesten wurden die „Briefe in die chinesische Vergangenheit“. Herbert Rosendorfer wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, 1999 mit den Jean-Paul-Preis des Landes Bayern, zuletzt 2010 mit dem CORINE-Preis des bayrischen Ministerpräsidenten. Er lebt mit seiner Familie in Südtirol.

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Herbert Rosendorfer. Birgit Unterholzner