Jakob Deibl. Johannes Schmid

Jakob Deibl

 

Im April dieses Jahres interviewte Johannes Schmid einen Kollegen des Stiftsgymnasiums Melk, den Benediktinerpater, Theologen, Philosophen und Musiker Jakob Deibl.

Das Stift Melk bietet nicht nur klösterliche Stille und Abgeschiedenheit, sondern ist sehr weltoffen und äußerst gastfreundlich. Überdies beherbergt und erhält es eines der größten Gymnasien Österreichs. Wäre für Dich auch ein rein kontemplatives Leben als Mönch denkbar oder ist für Dich das „geerdete“ Benediktinertum eine Notwendigkeit?

Die Frage hat sich für mich so nie gestellt. Mir ist es beim Eintritt in das Kloster nicht darum gegangen, einer benediktinischen Gemeinschaft oder einem Orden anzugehören.

Das war nicht das Ideal, das für mich entscheidend war. Ich habe vielmehr als Schüler selbst hier in der Schule ein Kloster erlebt, das uns eine große Offenheit und viele Möglichkeiten geboten hat. Das ist mir wichtig geworden und so bin ich dann ganz bewusst nach Melk gegangen. Ich habe nie zwischen den verschiedenen Formen klösterlichen Lebens zu unterscheiden versucht, sondern habe klösterliches Leben so kennen gelernt, wie es in Melk praktiziert wurde und wird.

Das Motiv der Gastfreundschaft halte ich überhaupt für ein ganz zentrales. Bei all den Unterschieden, die es zwischen den Benediktinerklöstern gibt, bei all den Unterschieden durch die Jahrhunderte hindurch und auch jetzt aktuell in Österreich, meine ich, dass das Motiv der Gastfreundschaft eines der ganz entscheidenden ist.

Du bist auch Wissenschaftler. Du bist Assistent am Institut für Fundamentaltheologie. Welchen Stellenwert nehmen in Deinem Leben Wissenschaft und wissenschaftliche Karriere ein?

Die Frage ist nicht ganz einfach. Ich bin mir da selbst etwas unsicher, besonders auf Grund der Art und Weise, wie sich wissenschaftliche Tätigkeit heute zunehmend darstellt.

Denn eine durchgehende längere Beschäftigung scheint vom System her immer schwerer möglich. Verträge werden nur auf gewisse Zeit vergeben, oft mit wenig Möglichkeit einer Verlängerung, vielmehr wird hier zusehends, wie mir scheint, in Projekten gedacht, die eine gewisse Laufzeit haben, die evaluierbar sein müssen und irgendwie einen bestimmten Nutzen abwerfen müssen. Und ich denke, dass diese äußere Form sich auf die Fragestellungen, die man wissenschaftlich behandeln kann, auswirken wird; sie müssen so gestellt werden, dass sie abbildbar sind in diesem Schema verschiedener, zeitlich begrenzter Projekte. So bin ich mir selbst sehr unsicher, ob es in diesem System auch einen Platz gibt, den ich längerfristig einnehmen kann oder ob ich, wenn mein Vertrag ausläuft, auch meine wissenschaftliche Tätigkeit beenden muss.

Der Wissenschaftler hat keine Möglichkeit, ein Lebenswerk zu schaffen mit seiner Forschung, und er kann auch nicht mitwirken an Projekten, die hundert oder mehr Jahre dauern. Solche Projekte gibt es auch. Dies alles ist passé.

Ich denke, dass zumindest momentan die Entwicklung an den Universitäten stark in diese Richtung geht und sehr von einem naturwissenschaftlichen Verständnis geprägt ist.

Welche Aufgaben kommen Deiner Meinung nach einem Theologen und Philosophen – du bist ja beides - in der heutigen Gesellschaft zu? In welcher Weise kann er wirksam werden oder wo stößt er auf Widerstände?

Beim Theologen, denke ich mir, ist dies in wenigen Worten zu sagen. Die Theologie ist ein Ausdruck der Treue zur Schrift. Es geht hier um eine ganz bestimmte Erzählung, die eine Verbindlichkeit hat und, will man es ganz allgemein formulieren, es geht gerade um eine Treue zu ebendieser Erzählung.

Es geht also um Schriftauslegung.

Aber nicht nur Auslegung im Sinne einer bloßen Exegese, vielleicht sind die Umwege, die heute zu gehen sind, um die Botschaft der Schrift zu hören, oft sehr lange Umwege, Umwege, die über die Beschäftigung mit der Philosophie führen können, über die Beschäftigung mit der Kunst, mit der Literatur, über die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, mit der Gesellschaft. Es gibt hier, glaube ich, verschiedene Wege. Ein unmittelbarer Zugriff auf die Bibel, auf die Schrift, scheint mir heute vielfach nicht möglich. Es bedarf da oft eines langen Hinweges, um überhaupt hören zu können, welche Botschaft uns in diesem Text anspricht. Man könnte sagen, auf der einen Seite haben wir es heute schwieriger als frühere Generationen, weil uns ein viel größerer Abstand, eine viel größere Ferne trennt von jener Botschaft, auf der anderen Seite könnte man sagen, dass diese große Ferne auch wieder eine Möglichkeit eröffnen kann.

Wir können uns nicht mehr einfach unmittelbar in diesen Texten finden, sie bleiben uns zunächst einmal fremd, und das fordert eine ganz andere Form der Auseinandersetzung und braucht mehr Bewegung des eigenen Standpunktes.

Ich denke, in der Philosophie, geht es immer um einen allgemeinen Gedanken, um das Allgemeine. Das scheint uns vielleicht heute genauso schwierig wie der Bezug zur Theologie zu sein.

Wir leben heute vielfach in Beispielen, die wir anführen, aber selten in allgemeinen Kategorien. Was ein allgemeiner Gedanke überhaupt bedeutet, ist oft schwer einzusehen. Ich denke, setzt man den Beginn abendländischer Philosophie bei den Griechen an, so ist die Frage nach dem Sein oder die Frage nach der Arche, die schon die ganz frühen Philosophen, aber auch die großen wie Platon und Aristoteles beschäftigt hat, geradezu eine Frage nach einem allgemeinen Gehalt, der über die bloß wechselnden Erscheinungen hinausgeht. Und es scheint mir, als ob heute die Philosophie nicht unbedeutend wäre, sondern dass gerade entscheidende Würfel in diesem Bereich fallen. Denn gegenüber den Naturwissenschaften muss die Philosophie den Blick auf das Allgemeine behalten.

Welche Schwerpunkte setzt Du in Deinem Religionsunterricht am Gymnasium? Wodurch unterscheidet sich Dein Unterricht von dem Deiner Kollegen?

Was mir entscheidend am Religionsunterricht erscheint, ist die Beschäftigung mit einem langen Erbe, das uns erreicht und ohne das unser heutiges Dasein, unsere Kultur, ohne das Europa nicht zu denken wäre. Und ich meine, der Religionsunterricht bietet hier eine gute Gelegenheit, einen differenzierten Blick auf diese Geschichte, auf dieses Erbe zu richten. Ich halte alles, was uns die Tradition in ihrem Reichtum, in ihrer Differenziertheit aufschließen kann, für wesentlich. Darin sehe ich einen großen Wert von Bildung.

Dafür kann der Religionsunterricht einen großen Beitrag leisten. Und gerade heute, denke ich, stehen wir vor der Frage, was Europa eigentlich ausmacht. Und da ist der Beitrag, den die religiösen Traditionen für seine Genese geleistet haben, wesentlich. Und damit gilt es sich zu beschäftigen.

Du bist, und dies ist sicher beachtenswert, ein vorzüglicher Gitarrist und Interpret von Pop-Liedern. Was verstehst du unter Bildung? Offenbar weit mehr als das, was man gemeinhin unter „klassischer“ Bildung versteht.

Bildung ist in erster Linie die Beschäftigung mit grundlegenden geistigen Strömungen, mit der Geistesgeschichte. Was die Beschäftigung mit Musik anbelangt, so ist Musik etwas, was mich seit meiner Jugend begleitet. In welchem Zusammenhang dies direkt mit dem Begriff der Bildung steht, fällt mir schwer zu beantworten.

Populärkultur ist auch Ausdruck einer bestimmten zeitlichen Stimmung und daher kulturell relevant. Kann man das so sehen?

Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich denke, dass man sich aus dem, was irgendwie gerade in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit angesagt ist, nie völlig herausnehmen kann oder sich aus dem zurückziehen kann bloß in die Position einer Kritik. Das würde suggerieren, man hätte einen Standpunkt, von dem man quasi auf den Weltlauf blicken kann und ihn kritisieren kann. Wir nehmen alle in einem großen Maß an dem teil, was Alltagskultur einer Zeit ist. Und Musik ist hier eine künstlerische Ausdrucksform, die mich besonders interessiert.

Du bist ein profunder Kenner der deutschen Literatur. Hast Du Lieblingsautoren? Wenn ja, welche und warum?

Es gibt drei Autoren, die mir sehr wichtig geworden sind. Zum einen Hölderlin, der wie kaum ein anderer um 1800 den Verlust einer göttlichen Welt, des Aufgehobenseins in einer religiösen Welt überhaupt einmal ins Wort gebracht hat. Er hat, wenngleich zu seiner Zeit unverstanden, für spätere Generationen eine Möglichkeit geschaffen über jenen Verlust eigentlich zu sprechen. Er hat dem zum ersten Mal eine Sprache gegeben, aber doch eine Zukunftsperspektive eröffnet und das noch dazu in einer dichterischen Sprache.

Was Hegel begrifflich philosophisch beschreiben wollte, hat Hölderlin transferiert in eine ästhetische dichterische Sprache. Zum zweiten Karl Kraus, dessen Akribie und Beobachtungsgabe ich unglaublich schätze. Ich habe von ihm auch gelernt, was eigentlich das Schöpfungswort theologisch bedeuten könnte. Die Akribie, mit der Kraus selbst auf Druckfehler hingewiesen und diese interpretiert hat, war mir lange Zeit unverständlich, bis ich gelesen habe, dass für Karl Kraus die Idee des Schöpfungswortes so hoch anzusetzen ist, dass er jede Form der Propaganda der problematischen Verwendung des Wortes gleichsam als Gegenbild zum Schöpfungswort versteht. Ich halte „Die letzten Tag der Menschheit“ für ein ganz großartiges Wert. Und der dritte ist Thomas Bernhard. Mir gefällt an ihm, dass man hier nie als Leser einen sicheren Standpunkt einnehmen kann, gleichsam mitsprechend mit der Kritik, die Thomas Bernhard an verschiedenen Dingen übt, sondern diese Kritik schlägt im nächsten Augenblick auf einen selbst zurück. Man kann Bernhard nicht für eine bestimmte Richtung, politisch oder wie auch immer, funktionalisieren.

Der Gestus seiner Sprache, in der es oft nicht um den Inhalt geht, sondern gleichsam um die Sprache selbst, gefällt mir sehr gut.

Woran denkst Du, wenn Du den Begriff „Drüben“ hörst?

Das Wort „Drüben“ impliziert zweierlei, einerseits Ferne, Distanz, andererseits eine Grenze. Das Drüben ist etwas Geistvolles, d.h. es markiert jenen Ort, jenen Bereich, den man nicht besetzen, vereinnahmen kann, der unverfügbar bleibt. Im „Drüben“ kann ich nicht wohnen. In der Bibel tritt zum ersten Mal ein „Drüben“ auf in der Erzählung vom Paradies und Sündenfall, wo die Mitte okkupiert werden soll. Es zeigt sich eine Grenze, ein „Drüben“ im Wort von der Vertreibung aus dem Paradies. Zum zweiten Mal im Buch Deuteronomium: Mose gelangt an den Jordan, den zu überschreiten ihm nicht bestimmt ist. Er spricht seine Abschiedsworte. Es kommt zu keiner Überschreitung in das Drüben. Dieses Motiv kehrt wieder im Neuen Testament. Jesus überschreitet als neuer Mose bei der Taufe im Jordan diese Grenze in das „Drüben“.

Ich danke Dir, Pater Jakob, für das Interview.

Pater Jakob Deibl
Geb. 1978, Besuch des Stiftsgymnasiums Melk, 1996 Eintritt in den Benediktinerorden des Stiftes Melk, Doktorat in Theologie, Assistent für Fundamentaltheologie an der Universität Wien und Lehrer am Stiftsgymnasium Melk, musikalische Tätigkeit im Bereich der Kirchenmusik sowie in diversen Rock- und Jazzformationen.

etcetera 44/ drüben/ Juni 2011 mehr...

Jakob Deibl. Johannes Schmid

Walter Weninger: Mission Impossible. Ingrid Reichel

 

 

Walter Weninger
Mission: Impossible

 

Nach dem Anschlag der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München war die Welt mit einer neuen Situation konfrontiert: dem Terror. Die fehlgeschlagene Geiselbefreiung am Flughafen Fürstenfeldbruck bei München forderte 11 Geiseln sowie sechs weitere Tote: ein dt. Polizist und fünf Terroristen. In Deutschland war dies der Ausschlag dafür, dass der Bundesgrenzschutz den Auftrag bekam, eine Gruppe, die sich mit Geiselbefreiungen und mit der Bekämpfung des Terrors auseinandersetzt, zu gründen. Das war die legendäre GSG 9 [1], die Oktober 1977 beim Deutschen Herbst [2] die entführte Lufthansa Maschine „Landshut“ in Mogadischu befreit hatte. Auch in Österreich blieb man nicht tatenlos. Denn Begleitkriminaliät verschonte auch Österreich vom Terror nicht: 1977 sollte die Entführung von Walter Richard Palmers durch Gelderpressung zur Finanzierungen der RAF [3] beitragen; 1975 fand ein Anschlag auf die OPEC-Konferenz in Wien statt. 1978 beschloss die österreichische Regierung auch gerüstet zu sein. Es war aber ein allgemeiner Impuls in Europa: Viele Polizei-Organisationen sind beauftragt worden, Spezialeinheiten auszubilden und einzuführen. Wie hat sich die damals noch kleine Spezialeinheit in Bad Vöslau entwickelt? Ingrid Reichel besuchte am 04.05.10 Oberst Walter Weninger im Zentralhauptquartier der COBRA in Wiener Neustadt.

Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass die COBRA weltweit eine besonders populäre Spezialeinheit ist. Man hört lange nicht soviel von den anderen Spezialeinheiten aus Deutschland oder Frankreich. Steckt dahinter eine Werbestrategie oder ist es alleine der Name aus der US-Serie „Mission: Impossible“, auf Deutsch: „Kobra, übernehmen Sie!“?

Der Begriff ist 1980 von einem Krone-Journalisten aufgegriffen worden nach einer Geiselnahme in einer Grazer Zahnarztpraxis. Er hat analog zu dieser Fernsehserie uns als COBRA bezeichnet und als Headliner „COBRA, übernehmen Sie!“ in seinem Artikel verwendet. Natürlich sind wir im Blickpunkt der Medien, betreiben aber aktiv keine Werbung und gehen im Einklang mit der Presseabteilung des Innenministeriums. Wir versuchen einerseits gezielt den Medienvertretern die entsprechenden Informationen zu geben, uns zu positionieren, andererseits aber auch dafür zu sorgen, dass wir nicht zu stark präsent sind. Das könnte ein Eigentor werden. Es gibt 27.000 Polizeibeamte und nicht nur die 400 Leute der COBRA. Und auch diese machen zum Funktionieren der Sicherheitsstruktur in Österreich eine wertvolle Arbeit. Natürlich nicht so exponiert, nicht so medienwirksam. Wir versuchen dies zu steuern. Ich denke es ist eine selektive Wahrnehmung, ich weiß nicht ob sie konkrete Beispiele dafür haben…

Nein. Aber da ich in Frankreich aufgewachsen bin, war es interessant, dass ich sehr wohl die COBRA kannte, nicht aber die GIGN [4]. Man hat auch das Gefühl, dass die Deutschen ganz im Verborgenen arbeiten. Die COBRA und ihr Standort erscheinen dagegen transparent.

Ja, es ist jetzt transparenter geworden. Damals waren natürlich andere Voraussetzungen. Wir sind 1978 als reine Antiterroreinheit als Reaktion der Bundesregierung auf die nationale Entwicklung und auf die konkreten Ereignisse in Europa gegründet worden. Der Umgang mit den Medien war auch sehr zurückhaltend am Anfang. Es ist eigentlich nur bekannt geworden, dass es die COBRA gibt, damals eine Spezialeinheit des Innenministeriums, aus den Reihen der Gendarmerie aufgestellt und rekrutiert. Die Öffnung bei uns gibt es, sag ich einmal, erst Mitte der 90er Jahre. Speziell anfangs 2000, wo wir eine große Strukturreform in Wien im Innenministerium gehabt haben. Auf dem Gebiet der Spezialeinheiten hat es bis 2002 in jedem Bundesland, in jeder Polizeidirektion insgesamt 23 Sondergruppen der Polizei und Gendarmerie gegeben. Minister Strasser hatte damals den Auftrag gegeben, dass dies vereinheitlicht und reformiert wird, als Vorläufer, bzw. als Test für die große Polizeireform 2005. Seit 2002 gibt es die COBRA in der heutigen Form. Die Polizei und Gendarmerie vereint: Das war ein Paradigmenwechsel, der in vielen Köpfen gar nicht hineinwollte. Einhergegangen ist damit auch eine offensivere Medienarbeit für die vielen Polizisten, damit man versteht, was dahinter steckt. Warum gibt es jetzt nicht mehr 23 mit rund tausend Leuten, sondern nur mehr eine mit 400 Leuten und was können die mir bieten? Da waren wir gefordert in der Öffentlichkeit des Innenministeriums, der Polizeikollegen und -kolleginnen, aber auch für die Bevölkerung nachvollziehbar zu machen, was die COBRA ist, wofür sie steht, welche Leistungen sie erbringt.

Wir haben vorhin in der Cafeteria festgestellt, dass, nachdem das Salzburger Paar Wolfgang Ebner und Andrea Kloiber am 22. Februar 2008 während ihres Urlaubs in Tunesien von Mudjahedin nach Mali entführt wurden, die COBRA zum Einsatz kam. Warum schickte man hier nicht das Militär nach Mali?

Die Auslandseinsätze oder –verwendungen, zu denen wir herangezogen werden, gehen in der Regel über das Außenministerium, das Außen- und das Innenministerium, so ist die offizielle Achse. Die Gründe für diese Einsätze sind unsere Auslandserfahrungen, gerade im nordafrikanischen Bereich, uns stehen rund um die Uhr Leute zur Verfügung, auch ist es auf diplomatischem Weg leichter erklärbar als mit dem Militär. Ich denke, das ist ein taktischer Schachzug des Innenministeriums. Wobei wir dort nicht als COBRA - als uniformierte Polizei – auftreten, die in einem fremden Land tätig wird, sondern als Berater. Wir sind Berater für den jeweiligen Verhandlungsführer des Außenamtes, in diesem Fall war es ein Botschafter.

Wer hat dann dieses Paar definitiv befreit?

Es war eine Freilassung, keine Befreiung. Eine Freilassung als Ergebnis monatelanger Verhandlungen mit dem malischen Staatspräsidenten.

Was passiert, wenn die Sache nicht glimpflich ausgeht? Wenn die Entführer also die Geiseln nicht freigeben, wird dann die COBRA aktiv?

Das ist grundsätzlich eine Frage des jeweilig zuständigen Ministeriums. In Österreich würde das das Außen- mit dem Innenministerium ausverhandeln und es bedarf natürlich einer Zustimmung des jeweiligen Landes. Ich darf wieder dieses berühmte Beispiel aus dem 77er Jahr zitieren, wo die deutsche Lufthansa-Maschine entführt worden ist, dann in Somalia in Mogadischu gelandet ist, und der damalige dt. Kanzleramtsminister Wischnewski dem somalischen Staatspräsidenten angeboten hat, dass eine Befreiung durch deutsche Grenzschutzgruppe 9 stattfinden wird. Wenn dieser gesagt hätte: Nein, da stimme ich nicht zu, ihr schreitet in ein fremdes Hoheitsgebiet ein, dann hätten sie unverrichteter Dinge abziehen müssen. Vom Prozedere her war es gleich. Aber ich kann sagen, es war nie angedacht, in diesem weitläufigen Gebiet, im Norden Malis, wo diese beiden Personen festgehalten wurden, dass wir da intervenieren, im Sinne eines polizeilichen Zugriffs.

Nun gibt es acht COBRA-Standorte in Österreich?

Wir haben acht Stationen in acht Bundesländern bis auf das Burgenland, das geographisch durch Wien, Wiener Neustadt und Graz sehr gut zu betreuen ist.

Ich habe gelesen, dass es maximal nach 70 Minuten zum Einsatz kommt?

Es war damals die Vorgabe von Innenminister Strasser, eine Struktur zu errichten, innerhalb von 70 Minuten in jedem noch so entlegenen Gebiet Österreichs in einer entsprechenden Formation, die auch operativ tätig werden kann, zu gelangen.

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Walter Weninger: Mission Impossible. Ingrid Reichel

Im Gespräch: Reinhard Müller über den Anarchismus. Peter Kaiser

 

 

Peter Kaiser
Reinhard Müller über den Anarchismus
Im Gespräch

 

 

Der Soziologe, Wissenschafts- und Anarchismushistoriker Reinhard Müller erläuterte in einem Gespräch mit Peter Kaiser am 17.11.09 den Begriff des Anarchismus. Hier finden Sie eine strukturierte Zusammenfassung über den Anarchismus per definitionem.

 

Das Schreckgespenst des Anarchismus

Es gibt in den letzten zwei Jahrhunderten kaum einen Begriff, der so sehr mit Vorurteilen überlagert ist, wie der des Anarchismus, beziehungsweise Anarchisten. Man stellt sich unter „Anarchie“ eine Gesellschaft vor, die im Chaos versinkt, und unter „Anarchisten“ eine Bande von Terroristen und Bombenwerfern.

Es hat im 19. Jahrhundert zweifelsohne auch Anarchisten gegeben, welche aus sozialer Verzweiflung Bomben geworfen haben. Man sollte dabei aber bedenken, dass auf eine von einem Anarchisten geworfene Bombe Millionen von Staaten geworfene kommen.

Das aus dem Griechischen kommende Wort besagt ja eigentlich nichts anderes als die Abwesenheit von Herrschaft. Alles andere ist Propaganda der politischen Akteure.

Natürlich ist den Politikern und den Vertretern der Behörden klar, dass sie im Anarchismus abgeschafft würden. Noch heute wird uns daher vorgegaukelt, dass Anarchie gleichbedeutend mit dem Recht des Stärkeren und mit Chaos ist. Die Frage ist, ob wir uns nicht genau vor Zuständen fürchten sollen, welche eigentlich schon herrschen. Das völlige Fehlen von Vertrauen in den hilfsbereiten und sozial denkenden Menschen scheint auch bezeichnend für unsere heutigen Denkmodelle.

 

Die Grundwerte des Anarchismus

Der Anarchismus ist also keine politische Lehre oder Ideologie, sondern eine soziale: eine Weltanschauung. Es gibt auch nicht den Anarchismus, gleichsam als Dogma, sondern eine Vielzahl von Lehren der herrschaftslosen, der herrschaftsfreien Gesellschaft: eben die Anarchismen.

Es gibt aber verbindliche Grundwerte bei diesen Anarchismen. Erstens wird jede Herrschaft von Menschen über Menschen abgelehnt, d.h. der Staat wird abgelehnt, weil er genau diese Herrschaft symbolisiert. An seine Stelle tritt der freiwillige Zusammenschluss von Menschen, welcher jederzeit aufgekündigt werden kann, und jeder Mensch hat auch die Freiheit eine neue Vereinbarung mit einer oder mehreren Gesellschaften zu schließen.

Das Zweite, was die Anarchisten eint, ist die Ablehnung von Ideologien. Ideologien sind im Wesentlichen wiederum Ausdruck von Herrschaft, welche in Institutionen erstarrt ist und welche die soziale Wirklichkeit nicht mehr widerspiegelt. Eine ähnliche Problematik stellen Utopien dar, welche in ihrer Umsetzung, wie wir unschwer am Beispiel des Kommunismus im Sinne des Leninismus gesehen haben, wiederum zu nichts anderem als Unterdrückung und Tötung anders Gesinnter führen.

 

Revolution und Anarchisten

Die anarchistische Revolution kann keine politische sein, und daher ist es wesentlich realistischer, dass sie über eine große Anzahl einzelner Revolten passiert. Vor allem aber gibt es nicht die eine große Revolution, weil es ja nicht darum geht, eine bestimmte Gesellschaftsform zu verwirklichen. D.h., um wirklich anarchistisches Leben zu verwirklichen, braucht es eine Vielzahl von Revolten, welche durch einzelne Individuen oder auch durch Gruppen erfolgen kann, um eben den vielfältigen Anarchismen und Lebensformen gerecht zu werden.

Gustav Landauer [1] hat einmal sinngemäß gesagt, „Anarchist kann man nicht sein, sondern nur werden“, eben weil es die Anarchie, welche sich in eine Schublade sperren lässt, nicht gibt.

Für unsere Gesellschaftsordnung ist der Anarchist nach wie vor ein Feindbild. Der Anarchist ist staatsgefährdend und stellt die bestehenden Ordnungen und Traditionen in Frage. Da er aber in der Regel nicht gewaltbereit ist und damit nicht medienwirksam, ist er als Staatsfeind Nummer 1 mittlerweile vom Terroristen abgelöst worden. Der Anarchist wird als bedrohliche Chimäre an die Wand gemalt, wenn reale Probleme unsere herrschenden Systeme in Frage stellen, konkretisiert werden anarchistische Ideen von den selbsternannten Mahnern niemals.

 

Grenzen und Anarchismus

Anarchisten lehnen Staaten oder staatsähnliche Konstrukte ab, nicht aber freiwillige Gemeinschaften. Diese definieren sich jedoch sicher nicht über ethnische, geografische oder sprachliche Grenzen, sonder lediglich durch die Freiwilligkeit des Einzelnen, einer solchen Gemeinschaft beizutreten. Dadurch, dass jemand in zwei oder mehreren solcher Gemeinschaften aktiv sein kann, gibt es auch nicht die herkömmlichen Abgrenzungen. D.h. das Ganze ist dezentral organisiert – der Anarchismus kennt nur die dezentrale Organisation im Gegensatz zum zentralistischen Staat oder auch zu den Parteien und heutigen Gewerkschaften. Die Anarchismen sehen den Menschen als selbstbestimmtes Individuum, welches sich die Gesellschaft, in welcher es leben will, aussuchen kann und darf.

 

Entscheidungsfindung im Anarchismus

„Konsens“ ist sicher ein ganz wichtiger Begriff innerhalb aller anarchistischen Lehren. Man muss dazu aber bemerken, dass anarchistisch denkende Menschen einen hohen Grad an Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz erreicht haben sollten, kurz, dass diese Menschen wissen, dass sie nicht allein auf der Welt sind. Dass bei größeren gemeinsamen Projekten Abstriche bei den eigenen Erwartungen zu gewärtigen sind, das kann man voraussetzen. Was aber auch heißt, dass diese Konsensfindung, von der wir sprechen, in der jetzigen Gesellschaft, in der wir leben, nicht eins zu eins umzusetzen sein wird.

 

Perspektiven des Anarchismus

Reinhard Müller glaubt auch nicht, dass Anarchisten den „Neuen Menschen“, um einen fragwürdigen Terminus aufzugreifen, wollen, sondern eher einen Menschen, der sich wieder den menschlichen Dimensionen annähert. Einen Menschen, der nicht Beipackzettel der Ökonomie ist, der sein soziales Umfeld wieder wahrnimmt, und der die Grundidee des Anarchismus wieder aufnimmt, welche alle Menschen als einander ebenbürtig betrachtet und sie nicht als Konkurrenten sieht, sondern als soziale Individuen, mit welchen man in einer Gemeinschaft zusammenleben will.

Anarchistische Gesellschaften zeichnen sich sicher dadurch aus, dass sie weitgehend konkurrenzfrei sind und daher auch nicht auf der Unterjochung oder Ausbeutung anderer Menschen beruhen brauchen. Diese Grundideen sind im Hier und Heute für jeden Einzelnen im größeren oder kleineren Rahmen umsetzbar.

 

Ökonomie und Anarchismus

Die Anarchismen haben gemeinsam, dass sie eben kein einheitliches ökonomisches Konzept haben. Vom Einzelkapitalisten bis zu kommunistischen Betrieben ist alles möglich. Das hängt damit zusammen, dass sich anarchistisches Handeln stark an den regionalen, sozialen oder auch individuellen Gegebenheiten orientiert und darum kein universales, kein verbindliches politisches oder ökonomisches Prinzip ins Auge fasst. Jede Gemeinschaft sollte selbst entscheiden, welche Form ihr angemessen erscheint, wieder mit der einzigen Grundbedingung: Es darf keine Form der Ausbeutung anderer Menschen sein. Der große Vorteil dabei ist, die Wirtschaftsform den sich ändernden Gegebenheiten laufend anpassen zu können. In diesem Kontext wird auch klar, dass der Kapitalismus – und damit natürlich auch die Arbeitslosigkeit - nur relativ junge Zeiterscheinungen sind und keineswegs Naturgesetze. So wie es auch für den Anarchisten nur zwei Zeitalter gibt: eines, in dem Menschen über Menschen herrschen, und eines, in dem Menschen ohne Herrschaft leben.

 

Erste Schritte zum Anarchisten

Zuerst sollte ich mich mit anarchistischem Gedankengut vertraut machen und entscheiden, welche dieser Ideen für mich realisierenswert und realisierbar sind. Der größte Fehler, den man machen kann, ist sicher, sich zu sagen: In meiner Lebenswelt kann ich gar nichts umsetzen.

Anarchist sein kann man immer und überall. Wichtig ist sicher die anerzogenen und internalisierten Grenzen zu erkennen und zu überschreiten. Natürlich gehört Mut dazu, zu sagen, ich lehne dieses und jenes Prinzip ab, und ich versuche mein Leben so und so zu gestalten, damit ich möglichst vieler meiner anarchistischen Werte verwirklichen kann. Selbstverantwortung ist im Anarchismus immer ein Thema. Es wäre viel zu verhindern, würden mehr nach dem Prinzip der Selbstverantwortung handeln.

Reinhard Müller: „Wir wissen nicht, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, gäbe es kein anarchistisches Gedankengut, keine Anarchisten in ihr.“

 

[1] Gustav Landauer: Theoretiker und Aktivist während der Weimarer Republik (1870- ermordet 1919)

 

Reinhard Müller

Soziologe, Wissenschafts- und Anarchismushistoriker.

Ein Forschungsschwerpunkt sind die Arbeitslosen von Marienthal.

http://agso.uni-graz.at/marienthal/

 

Kontaktadressen:

Anarchia-Versand, c/o Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien. www.anarchismus.at

Föderation der ArbeiterInnen-Syndikate (Österreich). www.syndikate.at

Pierre Ramus Gesellschaft, Wien. www.ramus.at

Graswurzelrevolution: für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. www.graswurzel.net

DadA, Dokumentation deutschsprachiger anarchistischer Literatur und Presse. www.dadaweb.de

 

Einführende und vertiefende Literatur zum Thema Anarchismus:
Findus: Kleine Geschichte des Anarchismus. Ein schwarz-roter Leitfaden – Comic. Nettersheim: Graswurzelrevolution, 2009. 57 S. ISBN 978-3-939045-11-3. 7,80.- Euro
Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in Theorie und Geschichte des Anarchismus. Berlin: Kramer, 2003. 166 S. ISBN 3-87956-700-X. 18,80.- Euro
Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. Berlin: Kramer, 2006. 192 S. ISBN 978-3-87956-120-9. 14,80.- Euro

Horst Stowasser: Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven. Hamburg: Edition Nautilus, 2007. 510 S. ISBN 3-89401-537-3 und 978-3-89401-537-4. 24,90.- Euro

 

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Im Gespräch: Reinhard Müller über den Anarchismus. Peter Kaiser