Die Perspektive des Gärtners: Håkan Nesser. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
WIR ERNTEN ALLE, WAS WIR SÄEN

DIE PERSPEKTIVE DES GÄRTNERS
Håkan Nesser
Roman
Aus dem Schwedischen: Christel Hildebrandt
München: btb, 2010. 320 S.
ISBN 978-3-442-75173-0

Håkan Nesser gilt neben Henning Mankell als einer der erfolgreichsten schwedischen Krimiautoren. Der studierte Soziologe, Philosoph und Literaturgeschichtler begann neben seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer zu schreiben und avancierte mit seiner von 1993 bis 2003 entstandenen zehnteiligen und mittlerweile verfilmten Krimiserie mit dem grantelnden Kommissar Van Veeteren zum Bestsellerautor. 1998 erschien der Roman „Kim Novak badete nicht im See von Genezareth“, der 2005 ebenfalls verfilmt wurde. 2006 startete er mit „Mensch ohne Hund“ eine vierteilige Krimiserie mit einem neuen Kommissar, Gunnar Barbarotti.

In diesem Buch mit dem Titel „Die Perspektive des Gärtners“ schlägt Nesser einen anderen literarischen Weg ein, einen Weg der kafkaesken Art möchte man sagen.

Erik Steinbeck ist Schriftsteller. Bei einer Lesetour lernt er seine zukünftige Frau, die Malerin Winnie, kennen. Sie bekommen eine Tochter Sarah. Das Buch beginnt eineinhalb Jahre nach der Entführung ihrer damals vierjährigen Tochter. Die Polizei blieb in ihren Ermittlungen erfolglos. Erik und Winnie ziehen, um zu vergessen, nach New York. Beide wollen neu durchstarten. Sie malt an einem Bilder-Zyklus, er arbeitet an einem neuen Buch. Doch so ganz will sich die Zukunft nicht mit der Gegenwart vermischen, immer wieder holt beide die Vergangenheit ein. Während Winnies Malerei nach medikamentöser und therapeutischer Behandlung zu einer manischen Suche nach dem gesichtslosen Entführer mündet, versucht Erik mit seinem Schreiben auf seine Art die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die quälende Ungewissheit ob Sarah noch lebt, treibt Erik und Winnie auseinander. Erik verstrickt sich immer tiefer in einem Nebel an Erinnerungen und fällt in philosophische Betrachtungsweise über das Leben. Gibt es so etwas wie göttliche Fügung? Ist es möglich dass zwei Menschen unabhängig von einander das gleiche im selben Augenblick denken oder gar schreiben, oder ist alles nur Zufall? Ehe sie sich versehen bricht zwischen den Eheleuten eine scheinbar unüberbrückbare Distanz auf. Auf Grund der Hoffnungslosigkeit jemals die Tochter tot oder lebendig wieder zu sehen, brechen zuzüglich zum angeknacksten Selbstwertgefühl nun auch Schuldgefühle auf. Und dann sind plötzlich Ungereimtheiten da und das Blatt wendet sich, Mitleid und Leidensdruck werden zur Zerreißprobe von gegenseitigem Vertrauen.
Gemeinsames Leid ist eben doch nicht halbes Leid, sondern doppeltes.

Nesser gelingt es anhand dieses Paares, den Leser mit dem Unbegreiflichen und Unwiderruflichen zu konfrontieren, schöpft die Möglichkeiten zwischen Vernunft und Irrationalem völlig aus. Nichts ist, wie es zu sein scheint.

Der Leser schlüpft mit Leichtigkeit wegen der Ich-Perspektive in die Rolle des rational denkenden Erik Steinbecks und wird mit fortschreitendem Hergang zunehmend verunsichert. Nesser wiegt den Leser zunächst in Sicherheit, bettet seinen Protagonisten in sein reichhaltiges Erfahrungsgebiet, die Welt der Schriftsteller: Probleme mit Verlagen und Lesern, die Strapazen der Lesetourneen, Schreibblockaden, Ablenkung und Konzentration, die Suche nach einem guten Schreibort u.v.m. Immer mehr schlittert der Leser vom soliden Realitätsbezug der Hauptfigur in einen surrealen Alltag. Die Sorge um das Kind, um die Ehefrau kriecht einem langsam unter die Haut. Wir alle sind Gärtner und ernten was wir säen. Der Titel „Die Perspektive des Gärtners“ ist auch Titel eines Buches des Protagonisten. Weiters weist der Satz: „Mit vier vollgepackten Koffern und zwei leeren Herzen kamen wir nach New York.“ auf einen doppelten Romanbeginn, ist er doch nicht nur der einleitende Satz in Eriks neuem Werk sondern auch von diesem Roman „Die Perspektive des Gärtners“. Nesser spielt, und schreibt mit unglaublicher Genialität, durchdringt uns mit einem Wirklichkeitseffekt.

Dennoch schafft es Nesser nicht bis zum Schluss auf diesem hervorragendem Erzählstil zu bleiben.

Der Buchmarkt und die Leser – und der Kunde ist König! – schreien unbarmherzig nach einem konformen Ende. Und schon tritt der Profi-Krimiautor Håkan Nesser in Aktion und wendet den Roman zu einem typisch kriminalistischen Erfolgsschlager, opfert seine Literatur dem nach Unterhaltung lechzenden Volk. Schade.

LitGes, September 2010