13. Philosophicum Lech: 3. Tag - Bernadette Wegenstein - Part 10. I. Reichel

 

 

 

 

 

 

Ingrid Reichel
STATT MAKE-UP, MAKE-OVER!

 

13. Philosophicum Lech
Vom Zauber des Schönen.
Reiz, Begehren und Zerstörung.

Neue Kirche, Lech am Arlberg, Vorarlberg
16. – 20.09.09

 

3. Tag – Part 10
19.09.09, 15.30 Uhr

 

Vortrag von Bernadette Wegenstein (Baltimore):
Der kosmetische Blick: Zur Geschichte und Theorie der Körpermodifikation

 

 

 

Bernadette Wegenstein wurde 1969 geboren und studierte in Wien. Die Medienwissenschafterin und Professorin für Film und Medientheorie an der Johns Hopkins Universtity/ USA und lebt seit 10 Jahren in Amerika.

 

 

Nach Wegensteins Vortrag könnte man meinen, das herkömmliche Make-up habe ausgedient. Körpermodifikation sei nun angesagt, eine Art der Wiedergeburt mit einem verbesserten Inneren und Äußeren. Das verheißungvollere amerikanische Wort zu noch größerem Glück: Make-over!

Ein Vortrag, der sich mit dem immer stärker werdenden Trend der Körpertransformation befasst und dies am Beispiel der kürzlich verstorbenen Musikikone Michael Jackson veranschaulicht.

 

Die Schönheitschirurgie wäre nur eine der vielen Möglichkeiten zur Modifikation. Für das Phänomen des versuchten Wechsels von einer sozial unerwünschten oder verfolgten zu einer gewünschten Gruppenidentität hat der am. Germanist und Historiker Sander L. Gilman den engl. Terminus „passing“ („durchgehen“) geprägt. In drei Punkten erläutert Wegenstein die Modifikation Michael Jacksons und seine Verweigerung einer klaren Kategorie anzugehören. 1. Die kosmetisch-chirurgischen Eingriffe am Gesicht und die durch Hormontherapien künstlich erzeugte Pigmenterkrankung der Haut, die zu einer „Verweißlichung“ führte. 2. Die Androgyne Ausstrahlung. 3. Das Peter-Pan-Syndrom – das „Ewig-Kind-Sein“ – welches ihn durch das Unfertigsein ermöglichte offen für Veränderungen zu bleiben.

 

Das Innere mit dem Äußeren auf ideale und individuelle Weise zu kombinieren, sei jedoch keine Erdfindung der Technologien des 20. und 21 Jahrhunderts, sondern die Geschichte von Ideologie – Bild – Blick und deren technologische Umsetzung, wenn wir, so Wegenstein, im Sinne des frz. Philosophen Gilles Deleuze und des frz. Psychiaters Félix Guattari diese „Assemblage“ weder als Basis noch als Superstruktur, sondern als Ebene seiner Konsistenz verstehen, in der Charakter und Erscheinung in der Person eins werden. Wegenstein weist auf den Begriff der Kalogagathia bei Platon in der „Politeia“ hin, die die körperliche, moralische und geistige Vollkommenheit ist und den doppelten Aspekt des Ästhetischen und Ethischen beinhaltet, des weiteren das Bildungsideal der gr. Antike in Form der Trias des Wahren, Guten und Schönen ausdrückt.

 

Im Kontext des Make-over sei, so Wegenstein, die Physiognomik - jene Disziplin im Zeitalter der Aufklärung, die auf Grund von Körpermerkmalen ernsthaft auf seelische Eigenschaften versuchte zu schließen - von Interesse. Die aus heutigem Wissenstand zu den Pseudowissenschaften zählende Physiognomik hatte ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem sie seit der Antike als Geheimwissen zirkulierte. Großen Erfolg hatte der Schweizer Pastor Johann Caspar Lavater (1741-1801) mit seiner vierbändigen Publikation „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ (1775-1778). Zu seiner Zeit galt er als „Beziehungsguru“, der über die Gesichtszüge den idealen Partner zu finden vermeinte. Obwohl Lavater schon seiner Zeit wegen mangelnder empirischer Fakten stark kritisiert wurde, entwickelte sich im 19. Jahrhundert aus der Physiognomik die Phrenologie – die Schädelkunde – des dt. Arztes Franz Josef Gall (1758-1828) und darauf folgend die Biometrie - Vermessung quantitativer Merkmale - des ndl. Arztes Petrus Camper.

 

Mit dem britischen Anthropologen Francis Galton, ein Halbcousin Darwins, fand der Begriff der Eugenik – Erbgesundheitslehre – Anwendung auf die Bevölkerung- und Gesundheitspolitik. Im deutschsprachigen Raum führte der dt. Mediziner Alfred Ploetz bereits 1895 für Eugenik den Begriff der Rassenhygiene ein, die  später die Bevölkerungspolitik des NS dominierte. Mit der Eugenik sei „der Glaube an die Perfektion des Menschen und an die dahinter stehende Gnade eines göttlichen Schöpfers“ gefallen und zog konkrete und massive sozio-politische Konsequenzen, wie die der „ethnischen Säuberung“, mit sich. Zum besseren Verständnis der Kombination der physiognomischen intuitiven Kompetenz und des präskriptiven physiognomischen Blicks Galtons geht Wegenstein noch auf das physiognomische Auge des dt. Satirikers und Nervenarztes Oskar Panizza (1853-1921) ein. Er schrieb 1893 die antisemitische Satire „Der operierte Jud’“ (Sammelband „Visionen, Skizzen und Erzählungen) welches die Geschichte eines gescheiterten Make-over Versuchs war. Nach dem II. WK wurde der Begriff der Physiognomik zum Tabu.

 

Unter dem Begriff der Attraktivitätsforschung der 1970er wurde das wissenschaftliche Interesse der Korrelation zwischen äußeren und inneren Qualitäten wieder aufgenommen. Das Argument der Attraktivität als Gewährleistung des Erfolges und somit als Überlebensfaktor sei weit verbreitet. Der am. Kieferchirurg Stephen Marquardt sei einer der bekanntesten und radikalsten Attraktivitätsforscher. Er entwickelte ein Software-Programm, das durch Computergrafik das „goldene Ratio“ eines Gesichtes errechnet (Proportion 1: 1,618). Je näher ein Gesicht der errechneten „Facial Mask“ herankomme, umso schönere, bessere und gesündere Signale sende es im Sinne der Fortpflanzung aus. Hier brachte Wegenstein den Vergleich Marquardt mit Lavater als Beziehungsguru ein. 2005 gewann die Reality-Makeover-Show „The Swan“ den 2. Preis des Total-Makeovers. Ein schönheitschirurgischer Eingriff im Sinne dieser Makeover-Kultur verspreche durch äußerliche Veränderung eine innere Befreiung des sozialen Drucks.

Bezüglich Michael Jackson bedauerte Wegenstein, dass bei all der Lektüre um ihn, seine Körperdysmorphobie, an der er offensichtlich litt, kaum Beachtung fand.

 

Wegensteins Vortrag führt zur Erkenntnis, dass Make-Over letztendlich eine Fortführung der Eugenik ist, die einerseits auf Flexibilität der Transformation und Authentizität pocht, aber andererseits die Kalokagathia zu einer Massenproduktion der Durchschnittlichkeit leitet. Ob dies zu einer Demokratisierung der Schönheit führen könnte, wurde allerdings nicht diskutiert.

 

Buchtipp:
Bernadette Wegenstein: Getting Under the Skin.
Body and Media Theory.
Foreword by Mark B.N. Hansen
MIT Press, 2006.
978-0-262-23247-0

 

Filmtipp:
Bernadette Wegenstein: Made Over In America
Dokumentarfilm/ DVD-R
Icarusfilms, 2007.
65 Min.
Bronze Award, 2008 Health and Science Communications Association Media Festival

 

In Bälde:
Bernadette Wegenstein: The Cosmetic Gaze.
(Der kosmetische Blick)
Body Modification and the Construction of Beauty.

MIT Press, 2010.

http://grll.jhu.edu/FacultyBio/b_wegenstein.html
http://bernadettewegenstein.com
http://www.madeoverinamerica.com
http://wienbaltimore.com

Mehr Kritiken aus der Kategorie: