13. Philosophicum Lech: 3. Tag - Thomas Küpper - Part 8. I. Reichel
Ingrid Reichel
DER KITSCH ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE
13. Philosophicum Lech
Vom Zauber des Schönen.
Reiz, Begehren und Zerstörung.
Neue Kirche, Lech am Arlberg, Vorarlberg
16. – 20.09.09
3. Tag – Part 8
19.09.09, 9.30 Uhr
Vortrag von Thomas Küpper (Braunschweig):
Zu schön, um wahr zu sein? Vom Reiz des „Kitsches“
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Thomas Küpper wurde 1970 geboren und vertritt zurzeit eine Professur für Kulturwissenschaft an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig. Er ist Mitherausgeber von „Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur“.
Hier in Lech lieferte Küpper einen äußerst unterhaltsamen und zur Diskussion anregenden Vortrag.
Die Kritik der Kitsch-Kritik sei eine Problematisierung des Kitsches und mache sich selbst zum Problem, so Küpper am Beginn seines Vortrags, denn ein vielköpfiges Publikum erachte Bilder der Idylle und des vollendeten Glücks als schön. Für die „Anspruchsvolleren“ gelte Kitsch als zu schön, um wahr zu sein“. Die Kritik am Kitsch hätte sich laut Küpper damit selbst verdächtig gemacht, wäre zur Folge nicht haltbar und lohne sich nicht näher zu betrachten: „In kultursoziologischen und historischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, wie gesellschaftliche Gruppen das Schlagwort ‚Kitsch’ dazu gebrauchen, andere gesellschaftliche Gruppen herabzusetzen, ihnen schlechten Geschmack und mangelndes Urteilsvermögen nachzusagen und sich auf diese Weise über die anderen zu stellen.“ (Küpper: Vgl. Jacob Reisner: Zum Begriff Kitsch).
Interessant hingegen wäre die Beobachtung, dass der Kitsch selbst die kritische Frage nach der Wahrhaftigkeit der Schönheiten des Kitsches in sich trage, demnach sich selbst reflektiere.
Doch zunächst ging Küpper der Frage nach, warum die Kritik des Kitsches die Selbstreflexion kaum beachte. In der Kritik gehe man davon aus, Kitsch sei auf Reiz und Rührung angewiesen, die Wirkungsprinzipien also, die Menschen als Sinnwesen und zu wenig als Vernunftwesen einordne (Kant). Weiters erscheine Kitsch von außen gelenkt und liege einem Täuschungsverdacht nahe: „Der ‚Kitsch’, der sich des Publikums bemächtigt, es etwa zum Weinen bringen kann, wann immer er will, könnte ihm Ergebene zu beliebigen Zielen führen – auch hinter’s Licht.“ Der von den Kritikern meist sogar als billig empfundene Täuschungsvorwurf liege in der Konsumentenausbeutung und Geldorientierung. In anderen Kontexten unterstelle man Kitsch einen falschen Kunstanspruch. Bei diesen Überlegungen sieht Küpper eher ein Schattengefecht der Hochkultur mit ihren eigenen Projektionen.
Eine heuristische Umkehr der kritischen Argumente gestatte die Sicht auf die „heile Welt“ und Unverdorbenheit des Kitsches. Die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Vertrautem, die Sehnsucht den Tod zu überwinden, ja „gemütlich zu sterben“ und der Wunsch nach Entlastung mache den Kitsch so attraktiv. Das Angebot die Realität zu verdrängen, ihr auszuweichen, bewirke beim Publikum Regression, ermögliche ein Zurückfallenlassen in eine kindliche Welt.
Wie kann also Kitsch dem Publikum einerseits die Sicht durch Täuschung versperren und es andererseits in Sicherheit wiegen? Die Antwort liege in der Distanz der Selbstreflexion. „Die Philosophie und die Kulturwissenschaften stehen vor der Aufgabe, Kategorien zu finden, die sich für die Betrachtung der „Schönheiten des Populären“ (Kaspar Maase) eignen.“
Am Publikum in Lech erprobt Küpper drei Schönheitskategorien zur Untermauerung seiner These: die deutsche Liebesromanschriftstellerin Hedwig Courths-Mahler (1867-1950), den Tourismus als erlebtes Paradies sowie den niederländischen Musiker André Rieu mit seinem Konzert im Schloss Schönbrunn im Juli 2006.
Beispiel Hedwig Courths-Mahler: Ihre von einem großen Publikum geschätzten Romane behandelten immer die gleichen Klischees, nämlich das der sozial Benachteiligten, welche durch die Liebe den Standesunterschied überwinden. Trotz ihrer Auflagenstärke war sie Zielscheibe starken Gespötts. „Seit Sie mir die Ehre erweisen, mich in verschiedenen Intervallen wegen meiner harmlosen Märchen, mit denen ich meinem Publikum einige sorglose Stunden zu schaffen suche, anzupöbeln, werden diese noch mehr gekauft als bisher.“ (Brief: H. C.-M. an H. Reimann). Anhand Courts-Mahler schriftlichen Reaktion auf Reimann erläutert Küpper die Selbstreflexion in ihren Texten. Der wirtschaftliche Faktor, der Unterhaltungswert und die Bezeichnung ‚Märchen’, die nicht zu „nüchternem Denken“ verpflichtet sei, zeige Selbstreflexion, da sie den Leser gleichwohl in eine Phantasiewelt ein- aber auch wieder aufzutauchen ermögliche.
Am Beispiel Tourismus mit der Präsentation der ‚heilen Welt’ sehe Küpper die Sehnsucht nach einem friedvollen Ausgleich zum hektischen Alltag erfüllt. Obwohl die Reise aus der industriellen Welt in die ländliche Idylle schon lange selbst zur Industrie geworden sei, befriedige diese Art des Tourismus das Bedürfnis nach kindlicher Geborgenheit und sei daher selbstreflexiv.
Auch bei der Fallstudie André Rieu sieht Küpper von Seiten des Publikums ein bewusstes Einlassen auf eine Illusion der Unterhaltungsbranche, welches wie ein Kippschalter vom effektiv erwünschten Abschalten ein Fortführen des Alltags ermögliche. Szenarien des „Schondagewesenen“ verstärken den Erkennungswert, der für das Gefühl der Geborgenheit unablässig ist. „Wiedersehen macht eben Freude.“
Küppers Vortrag ist an sich schlüssig. Dennoch muss sich Küpper für seinen Vortrag die Kritik der Verharmlosung des Kitsches gefallen lassen. Zieht man in Betracht, dass Idealisierung und Heroisierung in ihrer Übertreibung immer mit einem starken Kitschfaktor belastet sind, kann man z.B. die Propagandafilme des Dritten Reichs sehr wohl zum Kitsch zählen. Hier funktionierte allerdings die Theorie der Selbstreflexion nicht. Das Wiedereintauchen in die Realität fand nicht statt. Unterhaltend waren die Vorkommnisse so gut wie für niemanden. Der Verdrängungsmechanismus, der vor dem drohenden Alltag (vor Arbeitslosigkeit, Hunger etc.) entfliehen ließ, gewann die Oberhand. Kitsch wurde zum Werkzeug des Bösen.
In diesem Sinne: Hütet Euch vor Gartenzwergen!
Buchtipp:
Thomas Küpper: Kitsch.
Texte und Theorien.
(herausgegeben mit Ute Dettmar)
Stuttgart: Reclam, 2007. 320 S.
ISBN 978-3-15-018476-9