14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Ulrike Ackermann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
MEHR MÜNDIGKEIT FÜR DEN BÜRGER

 
PATERNALISMUS ODER BÜRGERLICHER EIGENSINN: WIE HALTEN WIR ES MIT DEM STAAT?
Prof. Dr. Ulrike Ackermann
Professorin für politische Wissenschaften (SRH Hochschule Heidelberg)
24.09.2010, 17 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Die 1957 geborene Frankfurter Politikwissenschafterin und Publizistin Ulrike Ackermann hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem Vater Staat gemacht. Als die Berliner Mauer noch aufrecht stand, Ost und West getrennt waren, geriet sie mit den Gesetzen der damaligen kommunistischen Regierungen in Konflikt. Sie zog ihre Konsequenzen daraus und wurde zur Friedenssprecherin. Nach einem Gefängnisaufenthalt weiß sie, was Freiheit bedeutet. Die Freiheit ist unser größtes Gut. Ackermann plädiert nicht nur für die Freiheit, sondern auch für Mündigkeit und Eigenverantwortung des Bürgers.

Ackermann schwebt nicht in Illusionen. Freiheit schätzt man erst, wenn man sie nicht mehr hat. Die Sehnsucht nach einer behaglichen, sicheren Welt (Sigmund Freud) würde dem Bürger nicht auf Schutz verzichten lassen. Nach der Kirche diene nun der Staat als Vaterersatz. Dies wäre zumindest das deutsche Verständnis vom deutschen Sozialstaat. Und ein Wunschbild. Schon Ludwig von Mises konstatierte den Hass auf den Liberalismus, zitiert Ackermann. Die Gleichheit der Bürger im Sinne der Französischen Revolution und der amerikanischen Verfassung wäre weitgehend auf eine soziale Gleichheit „zusammengeschmolzen“. Der Bürger beziehe seine Identität aus dem Sozialstaat. Immerhin würden bereits 40 % der dt. Bürger ihren Lebensunterhalt aus Transferleistungen des Staates in Form von Alters- und Invalidenrenten, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe oder öffentliche Stipendien bestreiten. Der Konkurs der nachfolgenden Generationen sei vorprogrammiert. Ökonomen hätten bereits in den 70er Jahren davor gewarnt. Doch Otto Bismarcks staatliche Sozialpolitik, eine Melange aus Etatismus und Korporatismus, habe sich tief in die deutsche Mentalität eingegraben, so Ackermann. „Anstatt im marktwirtschaftlichen Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren und zugleich ein Entmachtungsinstrument zu sehen, wächst bei Bürgern und in der politischen Klasse erst recht angesichts der gerade zurückliegenden Banken- und Wirtschaftskrise wieder das antikapitalistische Ressentiment.“, erklärt Ackermann, „Freiheit ist in den Köpfen zur kalten Freiheit des Kapitalismus geworden, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziere. Und flugs wird sie mit dem zum Lieblingsschimpfwort gewordenen Neoliberalismus gleichgesetzt.“ Den Neo- und Ordoliberalen ging es jedoch seinerzeit nicht um die Schwächung des Staates gegenüber der Wirtschaft, sondern um die Suche nach einer Wettbewerbsordnung, die Chancen für alle ermöglichte, aber niemandem Privilegien gewährte.

„Wenn angeschlagene Banken und Unternehmen, so bald es schwierig wird, den Staat anrufen und großzügig ignorieren, dass die wirtschaftliche Freiheit mit Haftung, d.h. Verantwortung verbunden ist, warum sollen es dann die Bürger nicht auch so halten?“, fragt Ackermann. Die Konsequenz daraus wäre, dass mit der Erweiterungen der sozialen Rechte und Garantien, der Staat für alle Lebensrisiken haftbar gemacht und der Bürger entmündigt wird. Ackermann spricht von einer Infantilisierung der Gesellschaft. Denn trotz Sehnsucht und Geborgenheit nach dem allmächtigen Vater Staat gibt es einen Individualisierungsprozess. Wir verdanken ihn der Moderne seit der Aufklärung. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die jedem die Möglichkeit der Entfaltung seiner Person garantiert, produziert daher zwangsläufig Ungleichheit, da wir unser Leben frei nach unseren Wünschen gestalten. Gerade die individuellen Lebensexperimente wären das Salz in der Erde und ließen die Menschheit fortschreiten. Erst durch Eigenverantwortung, nehme der Einzelne am „gattungsgeschichtlichen Fortschritt- und Erkenntnisprozess“ teil. Ackermann, die 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung gründete und es auch leitet, beruft sich hierbei an den britischen Philosophen und Ökonomen als einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts. Mill bekannte sich zur moralischen Neutralität. Seine Mahnung vor einem staatlichen Paternalismus sei daher aktueller denn je.

Ein schlanker aber dennoch starker Staat könne den Rahmen für eine liberale Demokratie bieten, in der selbstbewusste Bürger ihre wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit zu einem Lebensexperiment nutzen; ein Staat, der sich vor allem seiner Neutralität bewusst ist und weder Recht noch Politik moralisiert; ein Staat, der sich nicht als Unternehmer aufspielt, seine Interventionslust zurückhält und die Eigeninitiativen der Bürger nicht in paternalistische Fürsorge erstickt. Denn, es gibt keine bestimmte Konzeption des guten Lebens, die für alle gültig wäre, sehr wohl „[…] aber das Recht eines jeden, frei und gleich geboren, sein jeweiliges Glück zu verfolgen.“, schließt Ackermann ihren Beitrag.

LitGes, September 2010

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