15. Philosophicum Lech - 3. Tag - Reinhard Haller. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DER GUTE RAT ZUR ABSTINENZ

 

15. Philosophicum Lech
RAUSCH – SUCHT – VERBRECHEN: IRRWEGE ZUM GLÜCK?
Reinhard Haller

Samstag, 24.09.2011, 15.30 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller (geboren 1951) ist ärztlicher Leiter des Vorarlberger Behandlungszentrums für Suchtkranke und Drogenbeauftragter der Vorarlberger Landesregierung.

In seinem Vortrag hat Haller mit Feingefühl und Witz unsere Affinität zur Sucht erklärt, die kurz gesagt aus einem menschlichen Grundbedürfnis entsteht, der Suche nach dem Glück. Aus dieser Nachfrage entstehe ein ungeheures Angebot an Suchtmitteln, das, vorausgesetzt die statistischen Zahlen stimmen, jeden Maximierungsprofit vom Waffenhandel bis zum Erdöl in den Schatten stellt. Natürlich sind Rausch und Sucht nicht an psychotrope Substanzen gebunden. Die „Glückspillen“ gehören jedoch zu den Spitzenprodukten der Pharmaindustrie und manipulieren unseren Stoffwechsel der zentralen Glückshormone Endorphin, Dopamin und Serotonin. Glücksratgeber und Glücksformeln haben zu dem Hochkonjunktur.

Es liegt jedoch am kulturellen Background, dem Zeitgeist mit seinen ideologischen Strömungen, in welcher Disposition sich eine Gesellschaft bezüglich Drogengebrauchs und dessen psychischer Wirkung befindet: „Es ist also auch eine Frage der Mode, was unter Glück verstanden und welche Form des Glücklichseins angestrebt wird.“, erklärt Haller und verweist auf die Flower-Power-Bewegung der 60er und 70er mit dem friedlich machenden Cannabis, auf die No Future Generation der 80er, die ihr Nichtwissenwollen mit Rohypnol und andere Narkotika betäubte, auf die Yuppie-Gesellschaft der 90er, die mit der alten Kulturdroge Kokain ihr Gutdraufsein feierte. Das bereits 1913 entwickelte und für lange Zeit verbotene Ecstasy erfüllt in seiner bunten Tablettenform die phänomenologische Ähnlichkeit mit dem Internetsurfen der heutigen Zeit. Heroin jedoch, das wohl schwerste Suchtmittel wegen seines härtesten Entzugs, bleibt zeit- und kulturunabhängig, so Haller. Die Suche nach dem Glück in Form von Drogenrausch scheint dem „heutigen Glücksverständnis nach immer neuen Erlebnissen, Sensations-Seaking und kribbelndem Risiko entgegenzukommen“. Auch wären die Verhaltenssüchte wie „Ess- und Brechsucht, Kaufsucht, Spiel- und Arbeitssucht, Sex- und PC-Sucht“ u.v.m. nichts Neues, doch dominanter geworden.

Der Rausch verwirklicht viele Merkmale des Glücksempfindens, er verbessert die Motivation, versetzt in Euphorie, gibt Mut und Selbstvertrauen, bricht viele Barrieren und Hemmschwellen und spendet Geborgenheit: „Der traditionelle Streit um Recht auf Rausch kann also auch als Streit um Recht auf Glück gesehen werden.“, meint Haller.

Bei all den positiven veränderten Bewusstseinszuständen wie Trance und Ekstase oder gar ein verzerrtes Zeitgefühl, das z.B. Gestresste bei Einnahme von Benzodiazepinen entschleunigt oder Kokainsüchtige in ihrem Auffassungsvermögen beschleunigt, dürfe man die Verdichtung „vorbestehender Gefühlszustände“, die z.B. wie gute Stimmung in Euphorie sowie bestehende Depression in Angst- und Panikzustände umschlägt, nicht außer Acht lassen: „Der Rausch führt oft zu einer Inversion des Erlebens, Fühlens und Verhaltens in nüchternem Zustand.“

Psychopathologisch entspricht der Rausch einer rasch vorübergehenden Geisteskrankheit, einer exogenen Psychose mit allen Kardinalsymptomen: „Abnormer Antrieb und abnorme Gestimmtheit, Kritiklosigkeit und Selbstüberschätzung, Enthemmung und Impulsivität, Amnesie und motorisch, vegetative Störungen.“

Eine weitere Komponente im Zusammenhang der Glückssuche ist auch das Verbrechen. Die Ursachen sind ähnlich wie in jenen der Sucht gelagert. So hat beispielsweise die Kleptomanie eine weibliche Täterdominanz und signalisiert nach psychoanalytischem Verständnis einen Ersatzorgasmus. Vielen Verbrechen steht die Sehnsucht nach Wiederherstellung eines alten Glücks (verlorenes Paradies) oder der Erlangung eines neuen (künstliches Paradies) voraus. Daher gelten herkömmliche Diebstähle und Betrügereien als Hoffnung auf ein künstliches Glück. Bei Gewalttaten spielt das Zwischenmenschliche eine große Rolle, hier wirkt die Wiederherstellung des verlorenen Glücks als Motiv. „In Mitteleuropa und Skandinavien sind 60% aller Tötungsdelikte Beziehungsdelikte, 30% beruhen auf bösen Motiven und gut 10% werden von psychisch kranken, nicht zurechnungsfähigen Straftätern verübt.“, erläutert Haller. Im Gegensatz zu den Morden aus Liebe und dem erweiterten Suizid (Bsp.: Mutter nimmt aus altruistisch dominierten Motiven Kind mit in den Tod) nehmen die erweiterten Morde in den letzten 20 Jahren zu (Bsp.: Vater bringt ganze Familie wegen veränderter Machtverhältnisse um). Zusätzlich zum verlorenen Glück gibt es jedoch auch den Wunsch nach reiner Ausübung von Macht: „Dies könnte man bei den großen Tyrannen und Diktatoren, welche alle narzisstisch, paranoid und machtbesessen gewesen sind, ebenso nachweisen wie bei Serienkillern – (laut FBI liefen nur 120 frei herum) - oder Amokläufern.“ Auch bei Sexualdelikten stehe im Übrigen nicht das sexuelle Bedürfnis, sondern die Machtausübung im Vordergrund. Der Wiener Psychoanalytiker Otto Kernberg hat für das Profil des Serienkillers den Begriff des malignen Narzissmus erfunden, der eine dissoziale Persönlichkeit mit sadistischer Veranlagung und narzisstischem Selbstbild charakterisiert, die in Beherrschung eines anderen, in Entscheidung über dessen Leben und Tod eine gottähnliche Position einnimmt.

Der Umgang mit dem klassischen Rausch in der Antike, trotz Platos strenger Position gegenüber den Süchten, welche mehr als ästhetisches Problem gesehen wurden, stand unter dem Motto: Sieg der Rationalität über die Ekstase. Auch wenn Nitzsche in Kurzfassung meinte: ohne Rausch keine Kunst, Freud die Ansicht vertrat, dass „neben den Tröstungen der Wissenschaft, der Kunst und der Religion vor allem Rauschstoffe uns für das Elend des Lebens unempfindlich machen“, ist der Grundgedanke jeglicher guten Drogentherapie, dass die Abstinenz und alles was sie mit sich bringt, noch verlockender sein muss als Rausch und Sucht.

Mit den Worten Martin Heideggers schließt Haller seinen äußerst informativen Vortrag: „Verzicht nimmt nicht, Verzicht gibt! … vielleicht auch ein wenig Glück.“

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