Wie einzigartig ist der Mensch? Gerhard Roth. Rez.: Franz Reichel

Franz Reichel
KÖRPER–GEIST-DUALISMUS ADE!

 

WIE EINZIGARTIG IST DER MENSCH?
Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes
Gerhard Roth

Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1. Auflage 2010. 437 S.
ISBN 978-3-8274-2147-0

Der Abschied von Körper und Geist als getrennte Erscheinungen des menschlichen Seins fällt schwer, und bei religiösen gesinnten Menschen kommt noch die unsterbliche Seele dazu. Von dieser letzten Vorstellung haben sich schon viele gelöst aber auch unter den Naturwissenschaftlern und Philosophen ist die Trennung zwischen Körper und Geist nicht völlig überwunden. Zu gerne wären wir die Krone der Schöpfung, mit unserem Geist qualitativ bezüglich der kognitiven Fähigkeiten vom Tier unterschieden, welche jedoch auf Grund der umfangreichen biologischen Erkenntnisse der letzten Dezennien nun quantitativ evolutionsgeschichtlich erklärbar scheinen.

Der Naturalismus geht im Gegensatz zum Dualismus davon aus, dass die biologisch enge Verwandtschaft mit den Tieren zeigt, dass zumindest manche Tiere Formen von Geist aufweisen, damit die geistigen Leistungen von Mensch und Tier im Rahmen der Naturgesetzte erklärbar sind. Der Dualismus verzichtet grundsätzlich auf eine naturwissenschaftliche Erklärung des Geistes. Der Naturalist geht davon aus, dass diese einzigartigen kognitiven Fähigkeiten im Zuge der menschlichen Evolution entstanden sind, wobei auch hier keine Einigkeit der Evolutionstheoretiker herrscht, ob dies graduell oder durch Extinktionskatastrophen ausgelöst wurde. Das Anliegen des Autors ist es zu belegen, dass sich der Mensch - trotzt gewaltiger kognitiver Leistungsunterschiede - nicht wesentlich vom Tier unterscheidet, sondern diese Unterschiede in tierischen Vorstufen begründet sind.

Im 1. Kapitel „Geist, Lernen und Intelligenz“ wird summarisch auf diese kognitiven Leistungen eingegangen, zentrale Merkmale von Intelligenz wie Verhaltensflexibilität und Innovationsfähgikeit, bewusstes Handeln bei Mensch und Tier verglichen. Danach folgt das 2. Kapitel „Was ist Evolution?“, das die Grundzüge der Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen darstellt, Stichworte hierzu sind Mikro-, Makroevolution, „Evo-Devo“. Im 3. Kapitel „Der Geist beginnt mit dem Leben“ begründet Roth seine These: „Die Bedingungen, unter denen Lebewesen existieren können, führen […] zwangsläufig zur Entstehung kognitiver Leistungen […]“ (S. 51). In den folgenden Kapiteln, beginnend mit „Die Sprache der Neuronen“ bis zu Kapitel 12 „Die Gehirne der Wirbeltiere im Vergleich“, werden das Verhalten und die kognitiven Leistungen, wie einfach sie auch sein mögen, angefangen bei Einzellern ohne Nervensystem über die Wirbellosen bis zu den Wirbeltieren beschrieben.

Dabei zeigt die vergleichende Untersuchung des Aufbaus von Nervensystemen, dass das hochentwickelte Nervensystem der Primaten mit seinen beachtlichen Leistungen auf die niederen Vorläufer aufbaut. Diese umfangreiche Darstellung der Gehirnentwicklung, von den ersten Nervenzellen bis zum Großhirn des Menschen, wird durch die Entwicklung der Sinnesorgane zur Repräsentation der Außenwelt und Betrachtungen über die Bewusstseinsentwicklung sowie der Vergleiche der Wirbeltiergehirne nach Größe und Informationsverarbeitungsleistung untermauert.

Ein Großteil dieser Kapitel ist von detaillierter biologischer Systematik geprägt und trotz der in Klammern geschriebenen Fachtermini, auch für den interessierten Laien bisweilen schwierig zu lesen.

Die folgenden Kapitel 13 „Was treibt die Hirnevolution an?“, 14 „Wie einzigartig ist der Mensch?“ und 15 „Evolution, Gehirn und Geist – eine Zusammenschau“ behandeln die Themen, die man sich von diesem Buch erwartet. Die letzten beiden Themen in Kapitel 15 „Was bedeutet dies alles für das Geist-Gehirn-Problem?“ und „Ist Geist vielfach realisierbar?“ führen zum Schluss: „Geist und Bewusstsein sind natürlichen Ursprungs und das Produkt einer langen biologischen Evolution. […] Diese Erkenntnis ist mit einer dualistischen Auffassung von Geist und Gehirn nicht vereinbar, denn es gibt keine kognitiv-geistigen Leistungen ohne spezifische neuronale Strukturen und Funktionen. Es gibt auch keinerlei Hinweise auf eine rein "mentale Verursachung", also das Wirken eines Geistes auf das Gehirn außerhalb der Grenzen des Naturgeschehens. […] Was können wir darüber hinaus über die "Natur des Geistes" aussagen? Nicht mehr und nicht weniger, als dass Geist auch in Form bewussten Erlebens ein besonderer physikalischer Zustand ist, der unter bestimmten materiellen, energetischen und funktionalen Bedingungen auftritt, wie sie in komplexen Gehirnen herrschen.“ (S. 409).

Ob Geist vielleicht sogar technisch realisierbar werden könnte bleibt vorläufig offen, aber Möglichkeiten zeichnen sich ab. Die Unkenntnis der Realisierungsmöglichkeiten ob biologische oder biosynthetische Materialien das Substrat stellen, die unüberschaubare Komplexität der neuronalen Netze und schließlich die dafür notwendigen Algorithmen, sind weitgehend unerforscht. Es bleibt viel zu tun.

Die philosophische Komponente und die Besonderheiten des Menschen, seine Empathiefähigkeit, sein Altruismus kommen im Vergleich zu den biologisch dominierten Kapiteln etwas zu kurz. Auch der Ausblick auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz fällt bescheiden aus. Trotzdem ein hoch interessantes und lehrreiches Buch, ein Fachbuch, das uns den Stand der Gehirnforschung und den umfangreichen Fundus von Belegen aus der Biologie nahebringt. Am Ende jedes Kapitel fasst Roth die wesentlichen Inhalte in einem Resümee: „Was sagt uns das?“ zusammen. Dies erlaubt in Kürze die Inhalte zur rekapitulieren. Eine Reihe von Farbtafeln ergänzt die im Text eingefügten Abbildungen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis regt zu weiterer Lektüre an und ein Stichwortverzeichnis schließt diese interessante Publikation ab.

LitGes, Juli 2011