Die Ortliebschen Frauen: Franz Nabl. Rez.: I. Reichel
Ingrid Reichel
ÖSTERREICHS KELLERKINDER
DIE ORTLIEBSCHEN FRAUEN
Roman: Franz Nabl
Dramatisierung: Helmut Peschina
Landestheater NÖ, Großes Haus
Uraufführung: Donnerstag, 12.03.09, 19.30 Uhr
Regie: Isabella Suppanz
Bühne und Kostüme: Martin Warth
Mit: Pippa Galli, Christine Jirku, Chris Pichler,
Julia Schranz, Gabriele Schuchter,
Charlott von Blumencron, Klaus Haberl,
Helmut Wiesinger, Hendrik Winkler
Der März in St. Pölten steht unter Hochspannung. Journalisten und Schaulustige überschwemmen die Stadt, ein Zelt zur Verköstigung wurde neben dem Gericht aufgestellt. Dem Amstettner Josef Fritzl wird der Prozess gemacht, wahrscheinlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein Schwurgericht soll über die Zukunft des Mannes entscheiden, der 24 Jahre lang seine Tochter in den Keller gesperrt und mit ihr sieben Kinder gezeugt hatte.
Wie geht die Gesellschaft mit so einem Verbrechen um? Wie kann die Gesellschaft diese Art unverständlicher Grausamkeiten verarbeiten?
Und wieder einmal erweist sich die Kultur als einziges aufklärendes und aufarbeitendes Medium…
Dass dies überhaupt möglich ist, dazu bedarf es allerdings einer großen Portion Zivilcourage der betreibenden Kulturveranstalter. Parallel zum Fritzl Prozess wird also bis 19. März „Die Ortliebschen Frauen“ nach einem Roman von Franz Nabl im Landestheater gespielt. Der Roman trägt den Untertitel „Studie aus dem kleinbürgerlichen Leben“. Inszeniert wurde das Stück nach einer Bühnenfassung von Helmut Peschina. Regie führte Intendantin Isabella Suppanz.
Isabella Suppanz, die hier in St. Pölten nicht das erste Mal mit der Auswahl ihrer Stücke sensibelst auf die Zeitgeschehnisse der Stadt hinweist und eingeht, hat seit ihrer nun vierjährigen Tätigkeit im Landestheater NÖ den Höhepunkt ihrer künstlerischen Leistung erreicht.
Mit Franz Nabl als einer der umstrittensten Autoren in Österreich, mit den „Ortliebschen Frauen“ als Pendant zum Fall Fritzl, mit ihrer herausragenden Regie und der außergewöhnlichen Leistungen ihres Ensembles und der Schauspielerinnen Gabriele Schuchter und Chris Pichler hat sie das doch generell konservative Image des Landestheaters endgültig revolutioniert.
Das kleine Theater in der als provinziell geltenden Landeshauptstadt NÖs ist zur Weltbühne geworden.
Das alles, wie bereits erwähnt, in nur knapp vier Jahren.
Wer aber ist dieser umstrittene Franz Nabl? Geboren wurde er 1883 in Lautschin/ Böhmen als Sohn des Domänenrats der Herrschaft "Thurn und Taxis", gestorben ist er 1974 in Graz. Seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Baden und Wien. Nach abgebrochenem Jus- und Philosophiestudium arbeitete er zwischenzeitlich als Feuilleton-Redakteur beim "Neuen Grazer Tagblatt" bis er sich endgültig als freier Schriftsteller durchsetzte. Mit „Steirische Lebenswanderung. Erinnerungen“ hatte er 1938 den durchschlagensten Erfolg. Der Roman „Die Ortliebschen Frauen“, der zuerst unter dem Titel „Das Grab des Lebendigen“ 1917 erschien, wurde 1936 im Verlag Bremen neu aufgelegt und 1979 vom Schweizer Regisseur Luc Bondy verfilmt. Nabl erhielt viele Würdigungen und Preise u.a. den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur 1956 und das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst 1969.
Die Schattenseiten des großen österreichischen Literaten liegen in seinem nationalistischen Denken, das ihm während der NS-Zeit zu Gute kam und ihn zu einer der herausragenden deutschsprachigen Literaten der damaligen Zeit machte. Da man in seinen Schriften jedoch keine nationalsozialistischen Tendenzen feststellte, galt er lediglich als opportunistischer Mitläufer, der sich allerdings auch nach dem Krieg nicht von seinen Opportunismus löste, indem er sich lediglich als unpolitisch deklarierte und keine weiteren Stellungnahmen zu seiner Vergangenheit abgab. Der seit 1975 verliehene Grazer Literaturpreis (Franz-Nabl-Preis), sowie das 1990 errichtete Institut für Literaturforschung (Franz-Nabl-Institut) tragen seinen Namen und sorgen deswegen bis heute für Diskussionen. Nichts desto trotz bürgen gewichtige Namen wie Elias Canetti, Gerhard Roth, Peter Handke, und Alfred Kolleritsch für die nationalsozialistische Unbedenklichkeit von Nabls Werk.
Eine aufschlussreiche Analyse hierzu aus einem Interviewauszug mit Dr. Gerhard Fuchs vom Franz-Nabl-Institut, vom 25.02.09, sowie Stellungnahmen der genannten Autoren befinden sich im äußerst gelungenen Programmheft des Landestheaters NÖ.
Worum geht es in den „Ortliebschen Frauen“?
Wie der Originaluntertitel schon besagt, handelt es sich um eine Studie aus dem kleinbürgerlichen Leben.
Die Familie, die in ihrer „passiven Inaktivität“ zum Täter wird, steht im Mittelpunkt des Geschehens.
Frau Ortlieb muss mit ihrer kleinen Witwenrente ihre zwei bereits erwachsenen Töchter Josefine und Anna, sowie ihren vor der Matura stehenden und mit einem Klumpfuß gezeichneten, pubertierenden Sohn Walter ernähren und den Haushalt bestreiten. Sie leben zu viert in der Wohnung in die schon Frau Ortlieb hineingeboren wurde. Die Lebenssituation wird jedoch nicht nur durch die steigenden anfallenden Kosten erschwert, sondern auch durch das drastisch veränderte soziale Umfeld, dem die Familie ausgesetzt ist. Die Nachbarin, Fräulein Kranzler, die als Schauspielerin prädestiniert ist, ein liederliches Leben zu führen, wird zum Gefahrenpotenzial für die gutbürgerliche Familie. Einziger Kontakt zur Außenwelt ist der sonntägliche Ausflug zu den Großeltern aufs Land. Dort jedoch lauert schon die nächste Versuchung in der Gestalt von Olga Clermont, einer jungen Belgierin, die in der Nähe der Großeltern wohnhaft ist. Sie ist eine Prinzessin auf der Erbse, eine naive Blonde, die nach einer gescheiterten Beziehung umso anhänglicher ist und sich nach einem ernsten Partner sehnt, den sie in Walter zu erkennen vermag.
Eine kranke Elster sorgt für eine weitere Zerreißprobe, da Anna, um den Vogel zu retten in Kontakt mit einem ihr gegenüber viel älteren Tierhändler, Adam Nikolai tritt. Er sieht in ihr die Lösung all seiner Probleme und macht ihr einen Heiratsantrag. Die älteste Tochter Josefine ist die intelligenteste und erkennt rechtzeitig, dass die Familie sich kurz vor der Auflösung befindet. Mit Intrigen, psychischen Druck, Schuldzuweisungen und Verstärkung, der bereits gesundheitlich angegriffen Mutter verbietet sie den anderen Familienmitgliedern jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Durch Beziehungen der Mutter erhält Walter schließlich einen Posten auf dem Land und man beschließt dem Stadtleben zu entfliehen, um endlich die notwendige Ruhe zur Stabilisierung der Familie heraufzubeschwören. Die Familie zieht in ein Haus mit Garten und Hühnerfarm aufs Land. Durch das zusätzliche Einkommen von Walter entspannt sich vorerst auch die finanzielle Lage der Familie. Man leistet sich sogar ein Mädchen für Alles, Frau Tschumpas. Die Welt der Ortliebs erscheint in völliger Harmonie, bis zu jenem Tag als Walter merklich durch seinen Job aufblüht und trotz seiner Behinderung Gefallen am Leben findet und Frau Tschumpas den Dorfklatsch ins Haus bringt: Der Sohn treffe sich täglich mit der einzigen Tochter des reichsten Weinbauern im Ort, die auch noch mit einem ledigen Kind belastet ist. Es kommt zum Eklat. Frau Tschumpas wird fristlos gekündigt und Walter landet, eh er sich versieht, eingesperrt im Keller. Erst durch die zweifelhafte Initiative der einstigen Haushälterin, leckt schließlich die Dorfgemeinschaft Blut. Walter wird von seinem Verlies befreit. Josefine erschießt sich in letzter Konsequenz mit der Pistole, die man aus Sicherheitsgründen wegen der Abgeschiedenheit des Hauses angeschafft hatte. (Im Original erhängt sie sich.)
Die Familie, als Ort der Sicherheit, als Refugium der Liebe und als letztes Auffangnetz der Gesellschaft verwandelt sich zu einem System der Kriminalität. Der maßgebliche Schutz vor der Furcht einflößenden Außenwelt pervertiert zu einer Abschottung und Isolation, zu einem Entzug von Freiheit und eigenständigem Denken. Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe werden konsequent über Jahre anerzogen und machen den Weg nach Außen für jedes einzelne Familienmitglied undenkbar. Was uns, normalen Bürgern, unnachvollziehbar erscheint, wird uns in dieser Inszenierung innerhalb von zwei Stunden plausibel gemacht. Ist uns vor der Pause wegen vereinzelter Aussagen noch nach Kopfschütteln oder sogar nach hämischen Lachen, ist nach der Pause Schluss mit Lustig. Die Katze ist aus dem Sack, die ungeheuerliche Fratze unserer Gutbürgerlichkeit wird uns als Henkersmahlzeit frisch und heiß serviert.
Dem 1961 in Karlsruhe geborenen Bühnen- und Kostümbildner Martin Warth ist mit seiner karg ausgestatteten Drehbühne ein grandioses Bühnenbild gelungen.
Die bekannte Mimin Gabriele Schuchter ist in der Rolle der gottesfürchtigen, verkorksten und mit falschen moralischen Werten behafteten Frau Ortlieb kaum wieder zu erkennen. Sie trat diese Spielsaison im Landestheater auch als Binerl im Stück „Der Bockerer“ an der Seite von Erwin Steinhauer auf.
Chris Pichler, die aus diversen Filmserien, wie „Der Winzerkönig“, „Kommissar Rex“ und „Julia“ bereits bekannt ist, hat in diesem Stück wohl die schwierigste Rolle zu bewältigen, nämlich die der ältesten Tochter Josefine, einer Hysterikerin, einer dem Leben nicht gewachsenen jungen Frau, die die einzelnen Familienmitglieder gegeneinander aufstachelt, um damit ihren Existenzängsten zu entgehen.
Vom Theaterensemble spielt Charlott Blumencron die Rolle der Anna, die ihrer Schwester Josefine absolut hörig ist; Hendrik Winkler besetzte die Rolle des zwar körperlich behinderten Sohns Walter, der jedoch psychisch der „Normalgebliebene“ ist und immer wieder durch Täuschungsmanöver versucht, sich aus diesen familiären Fängen und Zwängen zu befreien.
In den Nebenrollen zu finden sind Klaus Haberl als verstockter und introvertierter Tierhändler Adam Nikolai; Pippa Galli als verklärte Olga Clermont; Julia Schranz als das von Sünde behaftete Fräulein Kranzler; Christine Jirku als typische Dorftratsche Frau Tschumpas, die sich schließlich den gesellschaftlichen Pflichten stellen und die Lebens entscheidende Befreiungsaktion starten muss; Helmut Wiesinger als Herr Rumpler, der in der Person eines Ladenbesitzers die dörfliche Gemeinde und die Trägheit der Masse repräsentiert.
Es wäre lächerlich eine Auflistung von löblichen Adjektiven für die Leistungen der einzelnen Schauspieler aneinanderzureihen. Es sei vielmehr zu sagen, dass an diesem Abend der Uraufführung „Der Ortliebschen Frauen“ nicht mehr gespielt wurde, sondern die Rollen gelebt wurden. Die Anstrengung war den Schauspielern, vor allem Chris Pichler, noch während der Premierenfeier in das Gesicht geschrieben.
Isabella Suppanz hat als Intendantin und Regisseurin ein extrem aufreibendes Stück inszeniert, welches ihrem treuen Ensemble und den beiden hervorragenden engagierten Schauspielerinnen das Maximum nicht nur an Können, sondern auch an nervlicher Substanz abverlangt. Gewagt und riskant.