In der Demokratie sind alle gleich - einige scheinen aber doch noch gleicher zu sein

Manfred Becker-Huberti

Ein philosophisches Symposium, das unser Selbstverständnis hinterfragt
Eine Reportage von Manfred Becker-Huberti


Der Begriff „Elite“ polarisiert und wird zur Stimmungsmache missbraucht. Das geht leicht, weil mit „Elite“ heutzutage eine negativ konnotierte Wertung mitschwingt. Das diesjährige Philosophicum setzte Elite in Beziehung zur Demokratie, um dann die sich ergebenden Spannungsfelder auszuleuchten.

Zur Elite bekennen sich deren Mitglieder ungern: „Jeder, der die Chance sieht, sich als aus einfachen Verhältnissen kommend zu charakterisieren, tut das", analysiert Soziologe Michael Hartmann. Und er fügt das Beispiel eines Elitären an, der sich als Sohn eines Polizeibeamten etikettiert, dessen Vater aber im realen Leben Polizeipräsident war. Tiefstapeln soll also „dem Volk“ suggerieren: Eigentlich bin ich einer von euch!

Sich zur Elite zu bekennen, ist unpopulär geworden. Soziales Tiefstapeln ist angesagt. Das unterstellt eine Volksverbundenheit, die den real existierenden Eliten immer mehr abhandenkommt. Die Analysen des Sozilogen und Elitenforschers Michael Hartmann beleuchten das Verhalten von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern in Zeiten des Eliten-Bashings.

„Elite“ ist zum Schimpfwort geworden. Eliten sind die Sündenböcke gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Und das hat nicht nur im deutschsprachigen Raum damit zu tun, dass in den vergangenen Jahrzehnten durch das, was als neoliberale Politik gilt, - und diese wurde von Eliten betrieben -, in allen westlichen Industriegesellschaften die gesellschaftlichen Unterschiede, vor allem was Einkommen und Vermögen angeht, deutlich vergrößert haben. Heute assoziieren Teile der Bevölkerung mit Elite: Das sind die, die dafür gesorgt haben, dass es uns schlechter geht - und ihnen besser. Die Zahlen für Deutschland sind eindeutig: In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es für das untere Fünftel Reallohnverluste von etwa zehn Prozent, für das obere Fünftel dagegen ein Plus von 16 Prozent. Die größten Zuwächse gab es dabei ganz oben.

Elite sind ja nur ein paar tausend Menschen in Deutschland. Man kann sagen: „Die Eliten, die mehrheitlich aus den oberen vier, fünf Prozent stammen, machen im Wesentlichen eine Politik, von der diese oberen vier, fünf Prozent profitieren“ (Prof. Dr. Michael Hartmann, Soziologe). Die Kritik an „denen da oben“ hat einen realen Kern. Aber wenn Rechtspopulisten an die Macht kommen, führen sie nichts anderes fort, als was ihre Vorgänger getan haben – manchmal in gesteigerter Form. Erst positionieren sie sich gegen das Establishment (Eliten-Bashing), dann schwenken sie auf den alten Kurs. Trumps Steuerpolitik richtet sich nicht gerade gegen die Milliardäre.

Politische Eliten sind jene Personen, die Politik maßgeblich gestalten, in Deutschland etwa 4000 Personen, davon stellen etwa 1000 den harten Kern. Außer der politischen Elite unterscheidet man eine wirtschaftliche Elite, eine juristische und eine Verwaltungselite. Man muss noch eine Medienelite abgrenzen, die allerdings dadurch wirkt, dass sie in der Öffentlichkeit Wirkung erzeugt, also eine indirekte Macht darstellt. Die Digitalisierung hat die Macht der Medien nicht vergrößert, sondern lediglich geändert. Die Medien sind ein Indikator für die Veränderung politischer Verhältnisse.

Das Auseinanderdriften zwischen „denen da oben“ und den „Normalos“ kann man mit Zahlen belegen: Zum Beispiel an den Einkommen in großen Konzernen, genauer am Verhältnis der Managergehälter zu denen der Belegschaft. „Bei den DAX-Konzernen zeigt sich: Bis in die 90-er Jahre haben die Vorstände etwa das 14-Fache der Mitarbeiter verdient. Inzwischen ist es das 54-Fache. Die Kluft hat sich also fast vervierfacht,“ sagt Michael Hartmann

Und wie wird man Mitglied der Elite, muss man in sie hineingeboren werden? Das war nicht nur so in den alten Eliten hierarchischer Gesellschaften, wie man das am Beispiel des Adels kennt, es gilt zum Teil auch in der modernen Gesellschaft bei der Wirtschaftselite. Wer als Mitglied der Familien Quandt oder Aldi geboren wird, hat andere Ausgangschancen als Frau Schmitz oder Herr Meier. Die Politik dagegen hat lange als durchlässigste Elite gegolten. Das ist sie zwar noch immer, aber deutlich weniger als noch vor Jahren. Arbeiterkinder finde man immer seltener in politischen Spitzenpositionen. Etwa 60 Prozent stammen aus den oberen 5 Prozent der Gesellschaft, ein Trend seit den 90-er Jahren.

In Fortführung der Tradition begann auch das diesjährige Philosophicum mit einem Philosophisch-Literarischen Vorabend, den der Schriftsteller Michael Köhlmeier und der Philosoph Konrad Paul Liessmann gestalteten. Am eindrucksvollsten war das Märchen der Gebrüder Grimm vom Gestiefelten Kater als Beispiel dafür, wie man zum Mitglied der Elite wird, auch wenn man nicht der Hellste ist und nur der Letztgeborene eines Müllers und als Besitz bloß einen alten Kater vorweisen kann. Das Märchen belegt alle Vorurteile: Lug und Trug, Tricks und Lüge sind die besten Schmiermittel, die eine Karriere befördern.

Wie immer führte ein Eröffnungsvortrag Liessmanns in das Thema des Symposiums ein: „Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie“. Liessman beschrieb die Kritik an der Elite von Links und von Rechts, ihre Selbstgerechtigkeit, Abgehobenheit, ihre Isolation in einer Blase. Sie akkumulierten den Reichtum der Gesellschaft für sich, seien gierig, eitel, rücksichtslos, unverschämt und bigott. Sie leisteten nicht das, was sie als Grund für ihr Auserlesen-Sein angeben. Sie sind die Urheber der meisten politischen Katastrophen und Skandale. Obgleich selbst ohne Moral, immunisieren sie sich gegen Kritik gerne durch Moralisierung. Zugleich wird die Elite durch andere verteidigt. Sie seien ein Bollwerk gegen die populistische Versuchung und das Unterlaufen der Demokratie, gegen Fake-News und Verschwörungstheorien. Und weil sie prinzipiell offen stünden, verringerten sie die soziale Ungleichheit.

Liessmann fragte, wer die Eliten überhaupt seien, wirklich die Auslese der Besten, eine neue Aristokratie? Das griechische Wort ἀριστοκρατία – aristokratia kommt von ἄριστος – aristos = Bester und κρατεῖν – kratein = herrschen, meint also ursprünglich die Herrschaft der Besten. Aristokratie wird meist als Adelsherrschaft verstanden, trifft aber auch zu auf bürgerliche Patriziersysteme oder Priesteraristokraten. Liessman erläuterte, wie sich Elite bildet, wie sie lebt und denkt und an welchen Werten sie sich orientiert. Und er fragte, inwiefern die Werte der Elite ein Distinktionsmerkmal darstellen, das die Wenigen von den Vielen unterscheidet. Der Philosoph zentrierte seine kritische Sichtung in der Frage, ob die Vorstellung politischer, kultureller oder sozialer Eliten nicht dem Konzept der Demokratie widersprechen, das ja der Idee der Gleichheit aller, der sozialen Mobilität und dem Prinzip der Machtteilung und des Machtwechsels verpflichtet sei.

Zwar sei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Konsequenz des bürgerlichen Leistungsdenkens die individuelle Leistung zum Kriterium geworden, jemanden über den Durchschnitt in die Leistungselite zu erheben. Die Idee der Meritokratie, die Herrschaft der Leistungsfähigsten war kreiert worden, damit entstanden zugleich Probleme: Wie und wodurch selektiert man nun aber die Zielgruppe? Löst man dieses Problem, wenn man sich auf Funktionseliten zurückzöge, deren Mitglieder aus ihrem Fleiß vielleicht soziale Anerkennung und pekuniäre Vorteile lukrieren, aber sonst keine weiteren Ansprüche – weder für sich, noch für ihre Kinder! Aber auch das ist nicht unproblematisch, weil auch Leistungseliten gerne ihr eigenes Prinzip verraten, wenn es darum geht Vorteile zu erhaschen – etwa einen Studienplatz für die Tochter an einer Elite-Universität.

Selbst wenn die Mitglieder von Funktionseliten ihre herausragenden Positionen zurecht einnähmen, folgt daraus nicht zwingend ein Anspruch auf besondere politische Macht oder Einflussnahme. Das aber suggeriert das Modell der Meritokratie: Die Tüchtigen, Erfolgreichen und Verdienstvollen sollen Einfluss bekommen und Macht ausüben. Und das unterscheidet politische Eliten von reinen Funktionseliten: Sie beeinflussen und bestimmen direkt und indirekt das Leben der Menschen in vielerlei Hinsicht. In einer Demokratie wird das zum Problem. Demokratie bedeutet nämlich, dass Teilhabe und Verantwortung nicht von individuell zu erbringenden Leistungen, Eigenschaften und Fähigkeiten abhängig ist, sondern allein von der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft.

Das einfache Konzept einer Funktionselite scheitert am komplexen Zusammenspiel von unterschiedlichen Faktoren, die ein politisches Geschehen ausmachen. Wäre der Maßstab für politische Exzellenz die Fähigkeit, Wählerstimmen zu akkumulieren, wäre dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Ein Wahlerfolg hebt aber die Inferiorität eines Kandidaten nicht auf. Wäre es anders, hätten viel Donald Trump nach seinem Wahlsieg zu jenem politischen Genie erklären müssen, für da er sich selbst hält.

Weil politisch Eliten sich politischen Einfluss und damit verbundene Vorrechte auch abseits von Wahlergebnissen sichern müssen, folgen sie einer Logik, die der Demokratie widerspricht. Leistungsorientierte Exzellenz geht mit der Vorstellung einher, dass die mit ihr verbundenen Tätigkeiten über längere Zeiträume ausgeübt werden müssen. Demokratie aber lebt vom Prinzip des geregelten Machtwechsels. Ein besonderes „Geschmäckle“ hat die Sache, weil die Eliten die Idee der Gleichheit propagieren, die sie mit ihrer politischen Sonderrolle gleichzeitig sabotieren. Liberale Eliten müssen das Kunststück vollführen, universale Werte zu propagieren, die dennoch nur für wenige in Frage kommen. Es gehört zum Wesen einer elitären Werteorientierung in einer demokratischen Gesellschaft, dass Werte eine paradoxe Doppelfunktion bekommen: Sie müssen erkennbare Merkmale für die Zugehörigkeit zu einer Elite darstellen und gleichzeitig als allgemeingültig und für jedermann erstrebenswert deklariert werden.

Die Frage, ob wir Eliten, beantworte Liessmann nicht. Er fordert Menschen, die auf dem Feld, auf dem sie tätig sind, gut sind, die ihr Metier beherrschen, sich dafür mit Leidenschaft und Ehrgeiz einsetzen, aber auch zugänglich sind für Kritik und Selbstkritik und die Welt nicht nur aus dem Blickwinkel ihres Milieus, dem Innern ihrer Blase betrachten. Eliten solle man nicht bekämpfen, schlussfolgert Liessmann, man solle sie in die Pflicht nehmen. Philosophen sollten sich ein Beispiel an Diogenes nehmen, der, als sich ein höchst erfolgreiches Mitglied der politischen Elite seiner Zeit vor ihm aufbaute, trocken bemerkte: Tritt ein wenig zur Seite. Du stehst mir in der Sonne.

Gestartet ist die Reihe der Vorträge des Philosophicum Lech 2019 mit einem Vortrag von Alexander Grau, Philosoph, Publizist und Freier Journalist, den er überschrieben hatte mit „Wo wir sind, ist vorne. Die neuen Eliten und ihre Werte“. Zunächst präsentierte er sechs Thesen zur Ideologie der neuen Eliten, beginnend mit einer berühmten von Karl Marx: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ Und endend mit jener, dass die spezifische Moral, die aus dem Lebensgefühl der neuen Eliten resultiert, letztlich das entscheidende Distinktionsmerkmal sei, das sie von den Nichteliten wie auch den alten Eliten trennt. Um historisch herzuleiten, woraus die neuen Milieus resultie-ren, erläuterte er die Geburt und Weiterentwicklung der bürgerlichen Ideologie – bis in die Gegenwart, die er auf folgende Formel brachte: „Die neuen Eliten transformieren die Marotten konsumorientierter Selbstverwirklichungsgesellschaften und Erfordernisse einer spätindustriellen, modernen, digitalisierten und globalisierten Wirtschaft zu einer Moral und inszenieren sich als deren Avantgarde.“ In einer seltsamen, aber mächtigen Alliance spielten sich dabei die akademisch geprägte emanzipatorische neue Linke und die Erfordernisse des spätmodernen Kapitalismus in die Karten.

Es folgte der Beitrag von Wolfram Eilenberger – Philosoph, Schriftsteller und Publizist – unter dem Titel „Die offenbare Elite und ihre Feinde – Hannah Arendt, Ayn Rand und die Diabolik des Mittelmaßes“. Eilenbergers Referat war größtenteils ein flammender Aufruf, sich mit der Gedankenwelt von Ayn Rand, der „wirkmächtigsten Philosophin des 21. Jahrhunderts“ auseinanderzusetzen. „Als die wohl offensivste Verteidigerin von Eliten, besser gesagt eines radikalen Individualismus“, wie er unterstrich, stellte er ihre Philosophie sozusagen als starkes Gegenmittel gegen Selbstvergessenheit und Selbstverleugnung vor. So legten etwa ihre Romane mit größter Fernsicht und Präzision Formen der Selbstunterwanderung frei. Dabei rückte er die drei Werte asozial, autonom und autark in den Fokus und meinte dazu, durchaus etwas provokativ: „Ich sehe die vorrangige Funktion des Philosophierens im Wachalten für die Möglichkeit einer so bestimmten Lebensform.“

Freitagnachmittag referierte dann zunächst Katja Gentinetta – Politikphilosophin, Publizistin und Lehrbeauftragte an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern zur Frage „Eliten in der Politik: Wem dienen sie?“. Dabei plädierte sie für eine sachlich begründete, differenzierende Elitenkritik anhand eines Qualitätskriteriums, das bereits Platon formulierte und von Aristoteles ausgeführt sowie systematisiert wurde: „Gute Regierungen dienen den Regierten, schlechte Regierungen dienen sich selbst.“ Die Tendenz zu Zweitem und die Ablösung der Eliten durch ihre vorherigen Kritiker schilderte sie anhand eines diesbezüglich nahezu unerschöpflichen Fundus: den französischen Revolutionen von 1789, 1830 und 1848. Als Zeitzeuge und Quelle diente ihr Alexis de Tocqueville, der „die politischen Eliten dieser Jahre und ihre Verfehlungen besser, näher und direkter“ schildert als jeder andere. So bezog sie sich auch auf dessen Unterscheidung von Demokratie und Sozialismus. In Ablehnung einer ideologisch getriebenen Elitenkritik sprach sie sich für eine aus, die sich am Charakter der Regierenden festmacht.

Den abschließenden Vortrag des Tages mit dem Titel „Politische Eliten – Repräsentation oder Usurpation?“ hielt Isolde Charim, Philosophin und freie Publizistin, Kolumnistin der „taz“ und des „Falter“. Unter Usurpation versteht sie, dass kein Austausch zwischen Politikern und Bevölkerung stattfindet. Ausgehend von der für sie zentralen Frage, wie sich das Verhältnis von Eliten und Nicht-Eliten gestaltet, konstatierte Charim eine Oligarchisierung. Diese gründe zum einen auf der einseitigen Kündigung des Gesellschaftsvertrages durch die ökonomischen Eliten, die „Sezession der Reichen“. Zum anderen auf dem politischen Gesicht dieser Sezession, einer Elitenherrschaft, die vorwiegend den Eigennutz und weniger das Gemeinwohl im Auge hat. Legitimiert werde dies durch Meritokratie, wobei „Leistungsträger“ ein zentraler Begriff dieser Erzählung sei. Aus gesellschaftlicher Bindung wurde Bindungslosigkeit, so Charim. „Man muss sehen, dass diese Krise der Repräsentation tiefer gehend ist als nur ein moralisches Versagen der Eliten. Die Abgehobenheit der Eliten vollzieht nur das Prinzip einer Gesellschaft der radikalisierten Individualisierung und Konkurrenz – jenes Prinzip, welches sowohl Repräsentation als auch Gemeinwohl verhindert.“ Die neuen Eliten können nicht durch Ethik gewonnen werden, sondern durch ihr eigenes Prinzip: den Erfolg. Denn egalitäre Gesellschaften sind in jeder Hinsicht erfolgreicher.

Unter dem Titel „Elite ohne Verantwortung? Die missverstandene Meritokratie“ referierte am Samstagmorgen zunächst die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Lisa Herzog, der am Abend zuvor der Tractaus 2019 – der renommierte und hoch dotierte Essay-Preis des Philosophicums Lech – verliehen worden war. Thematisch in Nähe zu ihrem prämierten Buch „Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf“ verwies sie u. a. darauf, dass die soziale Anerkennung ein zentraler Aspekt im Arbeitsleben ist und dass die derzeit vorherrschende kompetitive Logik zum Kampf um dieselbe führt, was reihenweise gefühlte Verlierer erzeugt. Auch um die daraus resultierende Demotivation zu vermeiden, setzt Herzog der Konkurrenzgesellschaft eine alternative Vision entgegen. In dieser kommt es darauf an, dass alle Individuen ihren Platz in einem funktional ausdifferenzierten Netzwerk geteilter Arbeit haben, in dem es auf jede und jeden ankommt. Alle übernehmen Verantwortung für ihren jeweiligen Bereich, leisten damit einen wertvollen Beitrag und werden dafür gewürdigt. Mit diesem Plädoyer für ein produktives Miteinander statt Gegeneinander fand die Professorin für Politische Philosophie und Theorie an der Hochschule für Politik der Technischen Universität München großen Anklang beim Publikum.

Es folgte der Vortrag von Jan-Werner Müller, Professor für Politische Theorie an der renommierten Universität Princeton, der sich der Frage stellte: „Meritokratie und Demokratie. Geht das zusammen?“. Einleitend erläuterte er das Wesen und die Entwicklung der Meritokratie – der politischen Herrschaft einer durch Leistung und Verdienst ausgezeichneten Gesellschaftsschicht. Dieser stellte er als Gegenteil die von ihm so benannte „Lottokratie“ – die Auswahl politischer Funktionsträger durch Losentscheid – gegenüber, um schließlich zu erklären, inwieweit in beiderlei Fall ein wichtiger Aspekt der repräsentativen Demokratie missverstanden bzw. unterschätzt wird. Dabei ging er auf zahlreiche internationale Beispiele problematischer politischer Entwicklungen ein, wie den Brexit und die Präsidentschaft von Donald Trump. Statt den meist herangezogenen Erklärungen wie grassierende Ängste, eine Polarisierung der Gesellschaft u. a. m., sieht er die Ursache im Versagen von Parteien, der Torys und der Republikaner. Daraufhin betonte er die unverzichtbare Funktion der Parteien in der repräsentativen Demokratie: nämlich u. a. Konflikte bereits im Vorfeld zu bearbeiten und im Wechselspiel der Kräfte zu konsensualen Lösungen zu kommen.

Über die Gefährdung der Demokratie durch den Einfluss von Kapital und Eliten in den beiden Vorträgen am Samstagnachmittag wurden zahlreiche aussagekräftige und in ihrer Dimension oft überraschende Fakten zur Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie zur Einkommens- und Vermögensentwicklung, sprich zur immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich, geboten. Zunächst erläuterte Michael Hartmann, Professor i. R. für Soziologie an der TU Darmstadt, auf eindrückliche Art, „Wie die Eliten unsere Demokratie gefährden“. In Bezug auf den wachsenden Erfolg von Rechtspopulisten illustrierte er am Beispiel der Wählerschaft der AfD, dass die soziale und materielle Situation der Menschen einen wichtigen Faktor hinsichtlich der Parteienpräferenz darstellt. Anschließend belegte er anhand umfassender Daten, inwieweit die neoliberale Politik bereits seit der Ära von Ronald Reagen und Margaret Thatcher, dann auch unter sozialdemokratischen Regierungen und bis heute zur Verschlechterung der Lebenslage unterer Einkommensschichten beiträgt. Eine maßgebliche Rolle spiele dabei die soziale Herkunft der Politiker und rekrutierten höheren Verwaltungsbeamten, wie er ebenfalls anhand konkreter Beispiele vor Augen führte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich durch einen Appell an die politische Vernunft und Einsicht etwas ändert, hält er für gering und plädiert stattdessen für eine merkliche Änderung der Steuerpolitik, insbesondere hinsichtlich der Vermögen.

Nahtlos daran anschließen konnte Christian Neuhäuser, Professor für Philosophie und geschäftsführender Direktor am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft an der TU Dortmund. Unter dem Titel „Ethische und moralische Reichtumskritik: Über Geld, Macht und Demokratie“ schilderte er unter verschiedensten Gesichtspunkten, inwiefern die enorme Anhäufung von Kapital bei Wenigen ein ernstzunehmendes gesellschaftliches und in der Folge auch politisches Problem darstellt. Von den vielen Zahlen, die er dazu lieferte, seien nur die 2.208 Milliardäre (laut Forbes-Liste 2018) mit einem Durchschnittsvermögen von 4,8 Milliarden Dollar genannt. 157 der 200 größten wirtschaftlichen Akteure der Welt sind Unternehmen, nicht Staaten. Neuhäuser verwies darauf, dass über die mögliche Ungerechtigkeit von Reichtum kaum sachlich diskutiert wird. Es ginge nicht um eine vermeintliche Gier der Reichen, sondern vielmehr um eine „Gier-Struktur“ im derzeitigen Wirtschaftssystem, durch die immer mehr Leute den Eindruck bekommen, dass Gerechtigkeit in der Gesellschaft nichts zählt. Den Ungleichgewichten entgegenzuwirken sei ein Gebot der Stunde.

Den Sonntagvormittag eröffnete das Referat von Wolfgang Müller-Funk, Professor für Kulturwissenschaften am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien, mit dem Titel „Der Duft der Distinktion. Auserwähltheit im demokratischen Massenzeitalter. Ein kurzer Zustandsbericht“. Mit dem Hinweis, dass das französische Wort Elite die Konnotation des Auserwähltseins in sich trägt, machte er deutlich, dass Gesellschaften mit egalitärem Anspruch dazu tendieren, neue Formen der Besonderheit bzw. Exklusivität zu erzeugen. Weiters beleuchtete er das gegenwärtige Unbehagen am System der repräsentativen Demokratie – einer Form, die egalitäre und elitäre Momente in sich vereinigt. Wie sich in vielen Ländern Europas zeige, sei diese Elite stets in Gefahr, von der Wut der von der Distinktion Ausgeschlossenen – „Wir sind das Volk“ – weggejagt zu werden. „Aber dieses Unbehagen kippt blitzschnell in Bewunderung für einen Führer um, der Partizipation an seinem Status verspricht, so wie die Eliten in Sport, Medien und Popularkultur“, betonte der Kulturwissenschaftler. Oben ankommen wollen irgendwie alle. In einer Kultur, in der Sieg, Erfolg und mediale Omnipräsenz zu jenen Werten gehören, die man ironischerweise als die der Vielen bezeichnen könnte, sind und bleiben es zugleich die der Wenigen. Moderne Eliten bedürfen einer Legitimierung.

Im letzten Vortrag des 23. Philosophicums Lech erklärte der freiberuflich tätige Autor, Kulturwissenschaftler und Berater Wolfgang Ulrich „Warum eine Werteethik immer eine Elitenethik ist und was sie heute so erfolgreich macht“. Mit Hinweis auf mehrere Slogans in Zusammenhang mit der Nationalratswahl in Österreich – z. B. „Einer, der auf unsere Werte schaut“ – arbeitete er den Charakter der dominierenden Werteethik unserer Tage heraus. Aus der einstigen elitären Genieethik – gemäß der nur wenige Menschen, wie Künstler und Intellektuelle, dazu befähigt seien, Werten in einzelnen Handlungen Gestalt zu verleihen –, wurde eine nicht minder elitäre plutokratische Werteethik. Familie, Heimat oder auch Nachhaltigkeit sind Werte, die sich nur dann leben lassen, wenn man über entsprechende Ressourcen verfügt. Augenscheinlich machte dies Ulrich an auf den ersten Blick banalen Beispielen wie Joghurt-Marken und Kosmetikprodukten, ist mittlerweile doch fast jedes alltägliche Konsumgut dazu geeignet, Werte zu repräsentieren und sich durch deren Besitz in Szene zu setzen. Unabhängig von materiellen Voraussetzungen und somit anti-elitär ist hingegen die Tugendethik, durch welche sich ein jeder, etwa durch Nächstenliebe, auszeichnen kann. „Gewiss profitieren zu viele von der Wohlstandsgesellschaft, von der Konsumkultur und den Möglichkeiten, sich zu Werten zu bekennen, als dass es gegenwärtig erfolgversprechend sein könnte, die wertethische Orientierung der Gesellschaft überwinden zu wollen“, so Ulrich. Bei der anschließenden Diskussion strich Konrad Paul Liessmann heraus, dass in Grundgesetzen bzw. Verfassungen der westlichen Staaten nicht von Werten, sondern Grundrechten die Rede ist. „Darum sollte einen das inflationäre Gerede über Werte eigentlich gerade unter dieser menschenrechtlichen Perspektive in höchste Alarmstimmung versetzen. Sie sollten also jetzt in Panik geraten“, setzte er den Schlusspunkt mit einer Pointe.

 

Das Philosophicum Lech 2020 steht unter dem Thema: „Als ob. Die Kraft der Fiktion“. Es findet statt vom 23. bis zum 27. September 2020.

 

 

 

Mehr Kritiken aus der Kategorie: