Wolfgang Mayer König
Vielleicht
Ihr macht mir mit dieser Themenstellung eine große Freude. Endlich mein Lieblingsthema! Wer wird denn gleich mit der Türe ins Haus fallen. Aber ich muss es loswerden: der originellste Gebrauch des Wortes „Vielleicht“, findet sich im Wienerischen. Nämlich nicht in hochsprachlicher Bedeutung, damit eine Möglichkeit anzuzeigen, sondern als rüpelhaft ausgerufene Aufforderung, in Verbindung mit einer fiktiven Fragestellung, „no vielleicht halt“. Es soll damit ausgedrückt werden, dass im Fluss der täglichen Verrichtungen und Gewohnheiten jede individuell als regelwidrig empfundene Störung oder allfällige körperliche oder seelische Verletzung höchst unerwünscht ist. Gegen die man sich dementsprechend auch vorbeugend schützen möchte. Dies deshalb, weil der Anpassung an das Leben, ab der im Glücksspiel des Lebens mit einer hohen Trefferquote ausgestatteten, also relativ mühelosen Zeugung, eine gute Chance verliehen wird, Energie aufzuladen, sich auf irgendeine Weise zur Höchstform zu steigern und zu entwickeln, aber trotzdem ständig, in allem und jedem, vom Tod scheinbar sinnlos bedroht zu werden, der allem mühevollen Unterfangen den Garaus machen kann. So wird jede auch noch so kleine aber unliebsame Störung der liebgewordenen Gewohnheiten, die ja ein Unterpfand eigener Lebendigkeit darstellten, zum kleinen Tod, zur Bedrohung, gegen die man sich vorbeugend schützen möchte, und sei es nur mittels einer Projektion. So neigt der Wiener dazu, in einer ansatzweise aggressiven Weise, das eigene Schicksal und gleich das des Anderen in die Hand zu nehmen, wie denn anders als vorerst mit dem Wort, und sich nicht weiter vom hochsprachlichen Möglichkeitsstil pflanzen oder foppen zu lassen.
Alles Weitere ist relativ klar. Denn der Charakter unserer Seele hat mehrere Ursprünge: die Tatsache, das Mögliche, das Unmögliche, das Notwendige und das Zufällige. Sie alle stehen in keinem Widerspruch zum Gesetzmäßigen. Das ist in ihrer Natur begründet und setzt keine Handlung voraus. Ähnlich dem, wovon einer erzählt, der aber nicht weiß, ob das, worüber er spricht, richtig oder falsch ist. Deshalb also „vielleicht“.
So verstehen wir auch leichter die Gläubigen, die sich erhoffen, dass sie zum Verständnis des für sie Wahrscheinlichen geführt werden. Auch deshalb „vielleicht“.
Das Wahrscheinliche ist der Ausdruck einer Überlegung, die demselben Bereich entspringt wie der Zweifel, das Zögern, alle Sicherheit und Unsicherheit. Die Psyche des Menschen rührt Zonen an, in denen das Mögliche anders als anderswo zu Tage tritt: nämlich dynamisch, unberechenbar und unvorhersehbar. Hineingestellt in diese Gegensätze zwischen einer erstarrten, einer notwendigen und einer anderen, geradezu verhandelbaren Wirklichkeit. Die Aussageweise des „Vielleicht“ ist das, was die Geisteshaltung des Sprechenden dem gegenüber ausdrückt, was er sagen will. Er sagt uns, dass das, wovon er redet, ihm möglich, wünschenswert oder notwendig erscheint. Insbesondere ist der Sinnzusammenhang einer Rede zu beobachten. Denn ebenso wenig wie Worte außerhalb eines Zusammenhangs Sinn haben, finden sprachliche Gesetze außerhalb der Nuancen, die ihnen dieser oder jener Dialog verleiht, ihre Wirkung.
Das „Vielleicht“, das auch stilistisch immer wieder als veränderbare Beziehung zu Welt dargestellt wird, schafft eine andere Art des „Daseins“ als jene, die uns gesellschaftlich auferlegt, durch das alltägliche Leben vorgezeichnet und durch Erfahrung verliehen ist. Mit „Vielleicht“ wird entdeckt, wie sehr das Mögliche, ja das Glaubliche, jenes Gesetz ist, welches nicht mittels des Rechts sondern mittels unserer Seelen die Welt regiert.
Mit einem „Vielleicht“ dem Wirklichen die Eigenschaft des Möglichen und Glaublichen zuzusprechen, bedeutet im Stande zu sein, sich zu ändern.
Wenn man die Beziehungen in der Welt beobachtet, wird alles meist an der praktischen Idee des Notwendigen gemessen. Damit geraten aber die Gedanken und Worte in die Gasse des Doppeldeutigen, Fremdartigen. Über kurz oder lang scheint allem dieser Beigeschmack anzuhaften. Aber solche Verhältnisse sind es eben, welche die Beziehungen zur Welt begründen. Weil einerseits unsere Psyche dem Notwendigen unterworfen ist, es aber außerhalb der Gedankenwelt, dem logisch Fassbaren und dem sich frei entwickelnden Gefühl, nichts Notwendiges gibt. Das Universum ist und bleibt unberechenbar und ist nicht reduzierbar auf unsere Urteilskraft. Das schafft das Wörtchen „Vielleicht“ und die Kunst, die das Verhältnis der Dinge zueinander erfassen will.
Wir lernen das Sprechen als eine Art des Sehens und des Zeigens kennen. Für den Dichter oder Maler heißt das, die innere Perspektive des „Vielleicht“ zu nützen, um auf das Verhältnis der Dinge zu den Wesen eingehen zu können. Es gilt nämlich jene Möglichkeiten aufzuzeigen, die neue Beziehungen zur Welt verbürgen, die auch dafür einstehen, dass sich immer mehr erleben lässt, als die Politik in ihrer sozusagen primitiven Erscheinungsform zu bieten scheint. Deshalb kommt das Wörtchen „Vielleicht“ in der Politik auch äußerst selten oder gar nicht vor, weil sie glaubt, populistisch mit Gewissheiten operieren zu müssen. Deshalb auch die politische Unart, dem Subjekt den Anschein eines Objekts zu geben: der Geldmensch, der Autonarr, der Kriegstreiber. Die Politik kennt das Wörtchen „Vielleicht“ nicht, weil sie es in verhängnisvoller Weise als Grundprinzip ansieht, dass sich die Wirklichkeit jeweils als sie selbst und keinesfalls als etwas anderes darstellt. Damit ja nichts einen Widerspruch aufdeckt, damit ja nichts durch die Vielzahl der Verstehensrichtungen verhindert oder einschränkt, die Dinge kurz und bündig zu benennen. Dies ist umso verwerflicher, da Politiker wie Künstler oder Wissenschaftler genau wissen, dass die Dinge das sind, was wir aus ihnen machen. Die sensationelle Kraft des „Vielleicht“ liegt darin, dass wir der Wirklichkeit eine Sensibilität einhauchen, kraft derer das Wirklichkeitsbild erst wahrgenommen und mittels dieser Wahrheit aufgedeckt werden kann.
Das heißt aber auch, sich und den Anderen vor Augen zu führen, dass dazu eine Haltung gehört, in der auch der Zweifel und die Unsicherheit angebracht sind. Dem Sprechenden muss zugebilligt werden, in Betracht zu ziehen, dass die Dinge so sind, wie er sie beschreibt, dass es aber gleichzeitig möglich ist, dass sie doch nicht ganz so sind, wie er sagt. Dass sich also mit einem „Vielleicht“ der Sprechende weigert, das Bild der Realität auf die einfache Wiedergabe derselben zu reduzieren. Der Sprechende will die Wirklichkeit reichhaltiger und verschiedenartiger wissen als ihr Entwurf durch die Rede. Es muss ihm deshalb darum gehen, dem Wort durch das „Vielleicht“ seine endgültige Aussage zu nehmen. So wird er auf den Geschmack kommen, wie faszinierende es ist, der Wirklichkeit ihre Freiheiten zurückzugeben, die sie allen Urteilen gegenüber hat, die der Geist über sie fällen kann. So ist es möglich, alles zu behaupten und es gleichzeitig zu leugnen, alles zu benennen und dennoch zu erklären, dass alles verschieden ist vom üblichen Konzept der Wirklichkeit; aber auch auszudrücken, dass es nur scheinbar leicht ist, über etwas zu reden, was ohnehin als „schon hinlänglich bekannt“ vorausgesetzt werden „darf“. „Vielleicht“ markiert also auch das Risiko des Sprechenden, wie er mit dem Risiko der Wahrheit umgeht, welche das Wort in sich birgt.
Wolfgang Mayer König
Geb. 1946. Lebt als Universitätsprofessor und Schriftsteller in Niederösterreich und Graz. Gründer des Universitätsliteraturforums „Literarische Situation“. Herausgeber der Literaturzeitschrift „LOG“. Autor von 35 Büchern. Verfasser des Zivildienst-Bundesgesetzentwurfs. Koordinator der Wiederaufbauhilfe für Vietnam sowie der Verhandlungen zur Freilassung der Geisel nach dem OPEC-Terrorüberfall. War ständiger Delegierter bei den Vereinten Nationen. Internationaler Friedenspreis. Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, Chevalier des Arts et des Lettres de la Republique Française, Großes Ehrenzeichen von Steiermark und Kärnten, Goldenes Ehrenzeichen des Landes Wien. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten.
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