51/viel-leicht/Essay: Wolfgang Mayer König - Vielleicht

Wolfgang Mayer König
Vielleicht

Ihr macht mir mit dieser Themenstellung eine große Freude. Endlich mein Lieblingsthema! Wer wird denn gleich mit der Türe ins Haus fallen. Aber ich muss es loswerden: der originellste Gebrauch des Wortes „Vielleicht“, findet sich im Wienerischen. Nämlich nicht in hochsprachlicher Bedeutung, damit eine Möglichkeit anzuzeigen, sondern als rüpelhaft ausgerufene Aufforderung, in Verbindung mit einer fiktiven Fragestellung, „no vielleicht halt“. Es soll damit ausgedrückt werden, dass im Fluss der täglichen Verrichtungen und Gewohnheiten jede individuell als regelwidrig empfundene Störung oder allfällige körperliche oder seelische Verletzung höchst unerwünscht ist. Gegen die man sich dementsprechend auch vorbeugend schützen möchte. Dies deshalb, weil der Anpassung an das Leben, ab der im Glücksspiel des Lebens mit einer hohen Trefferquote ausgestatteten, also relativ mühelosen Zeugung, eine gute Chance verliehen wird, Energie aufzuladen, sich auf irgendeine Weise zur Höchstform zu steigern und zu entwickeln, aber trotzdem ständig, in allem und jedem, vom Tod scheinbar sinnlos bedroht zu werden, der allem mühevollen Unterfangen den Garaus machen kann. So wird jede auch noch so kleine aber unliebsame Störung der liebgewordenen Gewohnheiten, die ja ein Unterpfand eigener Lebendigkeit darstellten, zum kleinen Tod, zur Bedrohung, gegen die man sich vorbeugend schützen möchte, und sei es nur mittels einer Projektion. So neigt der Wiener dazu, in einer ansatzweise aggressiven Weise, das eigene Schicksal und gleich das des Anderen in die Hand zu nehmen, wie denn anders als vorerst mit dem Wort, und sich nicht weiter vom hochsprachlichen Möglichkeitsstil pflanzen oder foppen zu lassen.

Alles Weitere ist relativ klar. Denn der Charakter unserer Seele hat mehrere Ursprünge: die Tatsache, das Mögliche, das Unmögliche, das Notwendige und das Zufällige. Sie alle stehen in keinem Widerspruch zum Gesetzmäßigen. Das ist in ihrer Natur begründet und setzt keine Handlung voraus. Ähnlich dem, wovon einer erzählt, der aber nicht weiß, ob das, worüber er spricht, richtig oder falsch ist. Deshalb also „vielleicht“.
So verstehen wir auch leichter die Gläubigen, die sich erhoffen, dass sie zum Verständnis des für sie Wahrscheinlichen geführt werden. Auch deshalb „vielleicht“.
Das Wahrscheinliche ist der Ausdruck einer Überlegung, die demselben Bereich entspringt wie der Zweifel, das Zögern, alle Sicherheit und Unsicherheit. Die Psyche des Menschen rührt Zonen an, in denen das Mögliche anders als anderswo zu Tage tritt: nämlich dynamisch, unberechenbar und unvorhersehbar. Hineingestellt in diese Gegensätze zwischen einer erstarrten, einer notwendigen und einer anderen, geradezu verhandelbaren Wirklichkeit. Die Aussageweise des „Vielleicht“ ist das, was die Geisteshaltung des Sprechenden dem gegenüber ausdrückt, was er sagen will. Er sagt uns, dass das, wovon er redet, ihm möglich, wünschenswert oder notwendig erscheint. Insbesondere ist der Sinnzusammenhang einer Rede zu beobachten. Denn ebenso wenig wie Worte außerhalb eines Zusammenhangs Sinn haben, finden sprachliche Gesetze außerhalb der Nuancen, die ihnen dieser oder jener Dialog verleiht, ihre Wirkung.

Das „Vielleicht“, das auch stilistisch immer wieder als veränderbare Beziehung zu Welt dargestellt wird, schafft eine andere Art des „Daseins“ als jene, die uns gesellschaftlich auferlegt, durch das alltägliche Leben vorgezeichnet und durch Erfahrung verliehen ist. Mit „Vielleicht“ wird entdeckt, wie sehr das Mögliche, ja das Glaubliche, jenes Gesetz ist, welches nicht mittels des Rechts sondern mittels unserer Seelen die Welt regiert.

Mit einem „Vielleicht“ dem Wirklichen die Eigenschaft des Möglichen und Glaublichen zuzusprechen, bedeutet im Stande zu sein, sich zu ändern.

Wenn man die Beziehungen in der Welt beobachtet, wird alles meist an der praktischen Idee des Notwendigen gemessen. Damit geraten aber die Gedanken und Worte in die Gasse des Doppeldeutigen, Fremdartigen. Über kurz oder lang scheint allem dieser Beigeschmack anzuhaften. Aber solche Verhältnisse sind es eben, welche die Beziehungen zur Welt begründen. Weil einerseits unsere Psyche dem Notwendigen unterworfen ist, es aber außerhalb der Gedankenwelt, dem logisch Fassbaren und dem sich frei entwickelnden Gefühl, nichts Notwendiges gibt. Das Universum ist und bleibt unberechenbar und ist nicht reduzierbar auf unsere Urteilskraft. Das schafft das Wörtchen „Vielleicht“ und die Kunst, die das Verhältnis der Dinge zueinander erfassen will.

Wir lernen das Sprechen als eine Art des Sehens und des Zeigens kennen. Für den Dichter oder Maler heißt das, die innere Perspektive des „Vielleicht“ zu nützen, um auf das Verhältnis der Dinge zu den Wesen eingehen zu können. Es gilt nämlich jene Möglichkeiten aufzuzeigen, die neue Beziehungen zur Welt verbürgen, die auch dafür einstehen, dass sich immer mehr erleben lässt, als die Politik in ihrer sozusagen primitiven Erscheinungsform zu bieten scheint. Deshalb kommt das Wörtchen „Vielleicht“ in der Politik auch äußerst selten oder gar nicht vor, weil sie glaubt, populistisch mit Gewissheiten operieren zu müssen. Deshalb auch die politische Unart, dem Subjekt den Anschein eines Objekts zu geben: der Geldmensch, der Autonarr, der Kriegstreiber. Die Politik kennt das Wörtchen „Vielleicht“ nicht, weil sie es in verhängnisvoller Weise als Grundprinzip ansieht, dass sich die Wirklichkeit jeweils als sie selbst und keinesfalls als etwas anderes darstellt. Damit ja nichts einen Widerspruch aufdeckt, damit ja nichts durch die Vielzahl der Verstehensrichtungen verhindert oder einschränkt, die Dinge kurz und bündig zu benennen. Dies ist umso verwerflicher, da Politiker wie Künstler oder Wissenschaftler genau wissen, dass die Dinge das sind, was wir aus ihnen machen. Die sensationelle Kraft des „Vielleicht“ liegt darin, dass wir der Wirklichkeit eine Sensibilität einhauchen, kraft derer das Wirklichkeitsbild erst wahrgenommen und mittels dieser Wahrheit aufgedeckt werden kann.

Das heißt aber auch, sich und den Anderen vor Augen zu führen, dass dazu eine Haltung gehört, in der auch der Zweifel und die Unsicherheit angebracht sind. Dem Sprechenden muss zugebilligt werden, in Betracht zu ziehen, dass die Dinge so sind, wie er sie beschreibt, dass es aber gleichzeitig möglich ist, dass sie doch nicht ganz so sind, wie er sagt. Dass sich also mit einem „Vielleicht“ der Sprechende weigert, das Bild der Realität auf die einfache Wiedergabe derselben zu reduzieren. Der Sprechende will die Wirklichkeit reichhaltiger und verschiedenartiger wissen als ihr Entwurf durch die Rede. Es muss ihm deshalb darum gehen, dem Wort durch das „Vielleicht“ seine endgültige Aussage zu nehmen. So wird er auf den Geschmack kommen, wie faszinierende es ist, der Wirklichkeit ihre Freiheiten zurückzugeben, die sie allen Urteilen gegenüber hat, die der Geist über sie fällen kann. So ist es möglich, alles zu behaupten und es gleichzeitig zu leugnen, alles zu benennen und dennoch zu erklären, dass alles verschieden ist vom üblichen Konzept der Wirklichkeit; aber auch auszudrücken, dass es nur scheinbar leicht ist, über etwas zu reden, was ohnehin als „schon hinlänglich bekannt“ vorausgesetzt werden „darf“. „Vielleicht“ markiert also auch das Risiko des Sprechenden, wie er mit dem Risiko der Wahrheit umgeht, welche das Wort in sich birgt.

Wolfgang Mayer König
Geb. 1946. Lebt als Universitätsprofessor und Schriftsteller in Niederösterreich und Graz. Gründer des Universitätsliteraturforums „Literarische Situation“. Herausgeber der Literaturzeitschrift „LOG“. Autor von 35 Büchern. Verfasser des Zivildienst-Bundesgesetzentwurfs. Koordinator der Wiederaufbauhilfe für Vietnam sowie der Verhandlungen zur Freilassung der Geisel nach dem OPEC-Terrorüberfall. War ständiger Delegierter bei den Vereinten Nationen. Internationaler Friedenspreis. Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, Chevalier des Arts et des Lettres de la Republique Française, Großes Ehrenzeichen von Steiermark und Kärnten, Goldenes Ehrenzeichen des Landes Wien. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten.

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51/viel-leicht/Essay: Stefan Köglberger - Zum Wort des Tages

Stefan Köglberger
Zum Wort des Tages

„Vielleicht“, antwortet jemand, der seine Optionen offen halten möchte. Das muss nicht unbedingt jemand sein, der die Verknappung der Möglichkeiten fürchtet, die jede Entscheidung mit sich bringt. Das kann man nie so genau wissen. Eine ganze Reihe von (zumeist männlichen) Personen verwendet „vielleicht“ in erster Linie, um ihre eigene Entscheidungsunfreiheit zu kaschieren. So der treue, folgsame Ehemann, der von seinen Freunden zu einer Zechtour geladen wird. Er bedankt sich vorweg einmal, spürt, wie ihn die große Freiheit reizt, malt sich die wildesten Szenen einer Nacht voll Sex, Drugs and Rock ’n’ roll aus und antwortet dann mit dem magischen Wörtchen: „Vielleicht“, was im Klartext so viel heißen soll wie: „Ich muss erst mal zu Hause nachfragen.“ Dies ist die wohl denkbar profanste Möglichkeit, diesen so bedeutungsvollen Zweisilber zu gebrauchen.

Elementarere Vermutungen: Vielleicht ist das Leben sinnvoll, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gibt es einen Gott; möglich wär’s. Vielleicht ist jede Weltreligion aber auch nichts als die Manifestation eines an seine Vollendung gekommenen Wunschdenkens der Gattung Mensch. Wer weiß?

Das „Vielleicht“ in seiner intellektuellsten Form ist sicherlich das „Vielleicht“ des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Die Verneinung der Gewissheit, die alles zum Spekulativ erhebt, zum „Vielleicht“ erklärt, hat eine lange denkerische Tradition. Das Sich-nicht-Festlegen auf einen Standpunkt, ob des Wissens um die Komplexität eines jeden Verhältnisses, fordert ein Abwarten, ein Erforschen, ein Abwägen und, letzten Endes, eine Entscheidung nach Wahrscheinlichkeiten. Der Denkende weiß: Das Definitive und Endgültige, das gerechte Urteil ist immer Illusion, das „Vielleicht“ immer näher an der Wahrheit. Der Kommunismus ist vielleicht eine gute Sache und vielleicht ist bloß der Machtmissbrauch, der die Herrschenden allezeit erfasst, Ursache dafür, dass der Traum von der vollständigen, materiellen Gleichheit aller Menschen bislang nicht funktioniert hat.

Dem intellektuellen „Vielleicht“ gesellen sich aber noch viele andere Formen hinzu, unter anderen das eingangs erwähnte „Vielleicht“ desjenigen, der seine persönliche Entscheidung hinauszögern möchte, um sich keine Möglichkeit zu verbauen. Dieses „Vielleicht“ muss nicht immer derart schüchtern gebraucht werden wie im obigen Beispiel. Der erhabenen Variante des Typus Mensch, den das obige „Vielleicht“ regiert, hat Friedrich Schiller in seinem Drama „Wallenstein“ ein Denkmal gesetzt, wenn eben dieser Wallenstein in seinem berühmten Monolog von sich gibt:

„Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, Nicht die Versuchung von mir wies – das Herz Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse Erfüllung hin die Mittel mir gespart, Die Wege bloß mir offen hab gehalten? – Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht Mein Ernst, beschlossne Sache war es nie. In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; Die Freiheit reizte mich und das Vermögen.

Wallenstein scheitert, und sein Scheitern ist Folge seiner Entscheidungsschwäche. Seine Entscheidungsschwäche wiederum wurzelt in seinem unbedingten Opportunismus. Sein Nicht-Beziehen einer klaren Position und das Ablehnen persönlicher Verantwortung, motiviert durch sein Streben nach einem Maximum an potentiell zu gewinnender Macht, lässt ihn ins Verderben laufen; in ein Verderben, das er zum Ende hin sehenden Auges erwartet.

Das letzte „Vielleicht“, das hier behandelt werden soll, ist jenes, das René Descartes gegen die Erscheinungen der Welt ausgesprochen hat: das „Vielleicht“ des Skeptikers, das „Vielleicht“ des unbedingten Zweifels. Was Descartes’ bedingungsloses Infragestellen des eigenen Selbst zuallererst ermöglichte, war seine Erwägung, dass alles – und wirklich alles, selbst das Ich – bloß Chimäre sein könnte. Die Radikalität, mit der Descartes dieser Idee folgt, beruht auf nichts anderem als seinem steten Glauben an dieses „Vielleicht“. Einzig die Möglichkeit, dass alles ein Nichts sein könnte, trieb ihn zu seinem alles niederwalzenden Rationalismus, der nicht nur die gesamte westliche Geistesgeschichte nach ihm veränderte, sondern ihm zudem darlegte, dass er zumindest eines sicher wissen könne. Denn auch wenn alles seinem Zweifel unterliege, so könne er doch mit absoluter Sicherheit schlussendlich sagen, dass er selber zweifle. Sein Zweifel ist über das „Vielleicht“ erhaben. Descartes ist nicht in erster Linie, weil er denkt, sondern weil er zweifelt, wenngleich der Akt des Zweifelns jenen des Denkens impliziert.

Zu den Möglichkeiten zum Gebrauch des netten Wörtchens „Vielleicht“, das uns tagtäglich in ganz unschuldiger Manier entgegnet, gäbe es wahrlich noch weitaus mehr zu sagen. Allein, der Rahmen reicht nicht aus. Und wenn eine solche Formulierungen schon gebraucht wird, sei es erlaubt, mit einem weiteren üblichen Satz geisteswissenschaftlicher

Stefan Köglberger
Geb. 1983, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Veröffentlichungen in der Rampe und Teilnehmer beim 19. open mike in Berlin. Lesungen in Berlin und bei der Buch Wien.

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51/viel-leicht/Essay: Ingrid Reichel - Gedanken zu Gugging

 
Haus der Künstler, Gugging, Foto: Ingrid Reichel  

Ingrid Reichel
Gedanken zu Gugging

Wenn man als Redakteur einen Künstler zum Thema „vielleicht“ sucht, stößt man schnell an seine Grenzen. Wer, wenn nicht die Gugginger Künstler, könnten besser das Thema vertreten?

Mit den Gugginger Künstlern verbindet man vor allem: Ist es Kunst, wenn es doch um eine Form der Therapie geht? Noch um 1900 war es undenkbar, bildnerische und literarische Ausdrucksformen von Geisteskranken als Kunstwerke anzusehen. Berühmte Psychiater wie Marcel Réja [1], Walter Morgenthaler [2] und Hans Prinzhorn [3] hatten bereits die eigenwillige Kunst begabter Psychiatrie-Patienten erkannt, als der österreichische Psychiater Leo Navratil [4] das Zentrum für Kunst-Pschotherapie im Landesklinikum Gugging den Begriff der „Zustandsgebundenen Kunst“ einführte. Aber es ist wohl dem französische Künstler Jean Dubuffet [5] zu verdanken, dessen Bemühungen um anti-intellektuelle Kunst, die auf Schöpfungen von Geisteskranken, gesellschaftlicher Außenseiter und Sonderlinge basiert, dass die daraus resultierende Art-Brut [6] internationales Aufsehen in der Kunstszene erregte und sich im Kunstmarkt etablieren konnte. Die Gugginger Künstler zählen zu den wichtigsten Vertretern der Art-Brut. Im Moment leben im Haus der Künstler zwölf kunsttalentierte Psychiatriebetroffene und Geistigbehinderte. Sechs von ihnen sind bereits als Künstler etabliert: Karl Vondal, Johann Garber, Günther Schützenhöfer, Arnoldt Schmidt, Heinrich Reisenbauer, Franz Kernbeis. Trotz hohen Ansehens ist die breite Bevölkerung - laut Johann Feilacher, Direktor des Museums Gugging: 80 % der Bevölkerung - Gugging gegenüber abgeschreckt. Durch die Nervenheilanstalt einerseits und die vielen Ermordungen während der NS-Zeit in den „Irrenanstalten“ andererseits hat sich Gugging leider, auch in den Köpfen der jungen Generation, noch immer nicht vom Image als Ort des Grauens losgelöst. Anhand des folgenden undatierten Gedichtes des Gugginger Dichters Edmund Mach [7] soll diese Ambivalenz verdeutlicht werden:

Edmund Mach
Die Landesanstalt Gugging*

Tief eingebettet, im Kriege ein entfernter Randbezirk von
Wien, ein Vorort von Klosterneuburg, dort ist 1896 eine
Landesirrenanstalt aufgebaut worden.
Dort ist er, der 2er, ein portalgemässer Eintritt und die
Kanzlei des Herrn Primars.
Vielfach niedergerissen, aufgebaut,
heute schön dastehend das Gerippe,
jetzt das Fundament eines Vorbildes
des sozialistisch angehauchten, gepriesenen
Landeskrankenhauses von Gugging.

Die Spezialität des Hauses waren die Elektroschocks, die
auf dem Haupt des Patienten den Kopf redigierten.
Ich hatte selbst 24 Schocks erhalten und damit die
höchste Schockanzahl erreicht, die je ein Patient hatte.
So ist spezialitätenlos heute nur noch der tägliche Einkauf,
der einen Hauch von Weihnachten mitbringt.

Ein riesiger Verwaltungsapparat umschließt die und das
Landeskrankenhaus. Geführt wurde dies von dem hochbetagen
Dr. Professor L. Die Belegschaft wechselte, ich
meine die Belegschaft der Patienten-, ohne auf die Schlosser
herunter zu sehen.

Die Leute kommen und gehen. Sie, die meisten werden
entlassen. Meistens kommen sie wieder zurück. Die
Regel ist, wenn man einmal hier war, kommt man nicht
aus. Es ist wie ein Zubezahrer von den Wärtern, ein
Zuhause, ein mangelhaftes Ersetzen von zu Hause.

Britische Gäste meinen, da kann man nicht leben * weil
die Erziehung als Kind höher steht: Manche sterben hier,
ein Ziel, ein Wunder hier in Gugging.

Der Patient kann spazieren gehen. Man kann
Tischtennis spielen. Ich habe 180 Sätze gewonnen
einem Satz Verlust, hier, woanders bin ich das Bummerl.
Im Armenhaus in Gloggnitz habe ich 28 Sätze gegen ein
schreiendes Individuum verloren, dann 4 im Einfluss
von Alkohol erlangt bekommen.

Ich möchte zwischen Krampus und Weihnachten wieder
zurück ins Bezirksaltersheim, um von dort im Februar zu
einer Nachbarin nach Wien zu reiten, um meine Studien
zu beenden.

Waldwiesen Arbeit war ja besonders auf der so called
Grasen. Es war schön hier. Jetzt möchte ich in die Mitte
des Lebens, des Wiener Lebens wieder einsteigen.
Schmelzenden Auges sage ich der landschaftlich hochgelegenen,
parkähnlichen Anstalt Lebewohl und hoffe, bei
der Frau Fleischhacker leben zu können.

Edmund Mach verfasste auch viele Gedichte über die damals als therapeutische Maßnahmen eingesetzten Elektroschocks. Später, im September 1978, schrieb er Besänftigendes:

Gugging**

Wenn ich in Gugging
nicht mehr bin,
da stechen die Stern, da
stählt das Gewissen.

Ein Antipode von Gloggnitz
Gugging. Wie 2 Schwerspate
umbeulen sie die Welt.
Einem Fiancee,
Einem Tennistischler.
Röse mit deinem Röslein.
Horte auf, laß die Arbeit bleiben
Gugging läßt dich nicht im Stich.

Edmund Mach starb 1996. Das von Psychiater und Museumsdirektor Johann Feilacher 1986 etablierte „Haus der Künstler“ mit Atelier hat sich im Jahr 2000 vom Landesklinikum gelöst und wird seither als selbstständige Wohngemeinschaft geführt. 1994 wurde im Erdgeschoss des Gebäudes eine eigene (Verkaufs-)Galerie gegründet. Sie übersiedelte 1997 in das Nachbargebäude, dem heutigen Art-Brut-Center-Gugging, in dem sich auch ein offenes Atelier (2001), die Privatstiftung (2003) und das Art-Brut-Museum (2006) befinden. 2011 wurden die Sanierungsarbeiten am „Haus der Künstler“ abgeschlossen.

Im Jahr 2007 wurde die Landesnervenklinik aufgelöst. An ihrer Stelle hat sich mittlerweile das ehrgeizige Bundes- und NÖ-Landesprojekt ISTA (Institute of Science and Technology Austria) angesiedelt und breitet sich stetig aus. Ganz oben am Hügel, zum Wald hin beinahe versteckt, steht wie das natürliche Gegengewicht zur geistigen Elite, wie ein Fels in der Brandung das Art-Brut-Center und erscheint als Hoffnungsträger der Menschheit, schlichtweg als das tatsächliche Mahnmal gegen Unmenschlichkeit.

*S. 52 ff und **S. 124, Lyrik aus dem Buch von Edmund Mach: Buchstaben Florenz. Texte 1965-1979. Wien: Medusa Verlag, 1982. 144 S. ISBN 3- 85446-001-5

[1] Marcel Réja: Franz. Psychiater publizierte 1907: „L‘art chez les fous“ (Die Kunst der Geisteskranken).
[2] Walter Morgenthaler (1882-1965): Schweizer Psychiater und Psychotherapeut. 1921 Veröffentlichung der Krankengeschichte des schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli und machte damit aufmerksam auf die künstlerische Beschäftigung als Heilmittel in der Betreuung psychiatrischer Patienten.
[3] Hans Prinzhorn (1886-1933): Deutscher Psychiater und Kunsthistoriker.
1922 Veröffentlichung “Bildnerei der Geisteskranken”.
Gründete die renommierte Sammlung Prinzhorn - Malereien von Geisteskranken - Heidelberg: http://prinzhorn.ukl-hd.de
[4] Leo Navratil (1921-2006): Österr. Psychiater erforschte die “Zustandsgebundene Kunst”.
Seit 1946 Arzt in Gugging, 1956 Primar, Publikation. “Schizophrenie und Kunst (1965). 1981 Gründung des Zentrums für Kunst- und Therapie.
[5] Jean Dubuffet (1901-1985): Hauptvertreter der Art-Brut
[6] Art-Brut oder Outsider-Art: Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung
[7] Edmund Mach (1929-1996): schizophrener österr. Lyriker und Tennislehrer.
Zusammen mit Ernst Herbeck (1920-1991) war er einer von zwei Sprachkünstlern im Haus der Künstler in Gugging.

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51/viel-leicht/Essay: Ingrid Reichel - Gedanken zu Gugging