49/Teddy/Essay: Das Idyll als Metapher. Peter Kaiser

Peter Kaiser
Das Idyll als Metapher
oder Teddybären in der Krise

Dinge zu sammeln ist gut, aber es ist besser spazieren zu gehen.
(Anatol France)

Um uns über das Bedeutungsspektrum von Teddybaren, Puppen und ähnlichen Weggefährten der Kindheit klar zu werden, schlage ich vor, einige Umwege in unserer Annäherung zu machen. Manches Ziel oder Thema – vor allem, wenn es in unserer Vergangenheit wurzelt – entzieht sich gern dem direkten Ansturm. Emotionale Besetzungen, unser Hang zur Verklarung oder Verdrängung oder einfach die Weigerung, eine alte, verstaubte Kiste wieder aufzustemmen, sind unter anderem die Grunde. Wie dem auch sei, ich will den Schleichweg über die Sprache versuchen: Die alte, verstaubte Kiste fuhrt uns direkt in die Welt der Metapher und des Sprachspiels.

Die Metapher ersetzt ein Nomen durch ein anderes, konnotativ mit diesem in Verbindung stehendes [1]. Sie lasst sich als sprachschöpferischer Akt bezeichnen und ich meine, dass die gewählte Metapher (sofern sie eine originäre ist) nicht wenig über ihren Schöpfer aussagt. Aber bleiben wir im folgenden Beispiel banal. Wenn ich die Inhalte meiner Kindheit sozusagen vergegenständliche (Schulbucher, Spielzeug, Kleidung, Teddybaren,…), lasst sie sich als Aufbewahrungsort für meine Souvenirs beschreiben. Eben als Kiste. Und weil mir die Kindheit zeitlich und räumlich fern ist, als verstaubte Kiste auf dem Dachboden. Überdies ist sie beschrankt zuganglich und darum lasse ich ihr Schloss verrostet sein. Diese Szenerie als Bild betrachtet ruckt sie in die Nahe der Allegorie, was uns nicht weiter stören soll: Eine Frage von Wörtern – und diese haben laut Ludwig Wittgenstein letztlich die Bedeutung, die wir ihnen durch ihre Verwendung zubilligen. (Was übrigens auch auf Tatsachen wie z.B. Plüschtiere zutrifft, doch davon später mehr.)

Platon hielt übrigens die Metapher für ein unzulässiges Täuschungsmanöver und in ihrer subjektiven Ausdeutbarkeit ist sie es vermutlich auch. Descartes, welcher leider nicht die Möglichkeit hatte Wittgenstein zu lesen, forderte von der Sprache, dass sie die Bestimmtheit seiner (Descartes) Urteile auszudrucken vermag, und nimmt an, dass es von jeder Sache nur eine Wahrheit gibt. Die spielerisch kreative Unscharfe der Metapher war damit seine Sache nicht. Missbräuchlich wird sie vornehmlich von Religionen verwendet, welche ihren so nebulosen wie absoluten Weis- und Wahrheiten durch sie etwas an Körper verleihen. Bewegt sich der Sinngehalt der Überlieferung gar zu haarsträubend gegen Null, wird sich Gott wohl metaphorisch geäußert haben.

Nach dieser Einleitung schlage ich nun (endlich) vor, das Idyll in unserer Kindheit und genauer in unserem, von Plüschgetier besetztem Kinderzimmer zu verorten. Unser Traum vom Paradies, den sich wiederum die Religionen unter den Nagel gerissen haben, steht diesem Idyll nicht fern, war aber noch mit einer Schlange und einem nacktem Menschpaar aus Fleisch und Blut ausgestattet und ist dergestalt von stammesgeschichtlich älterer Abstammung. Das Idyll war also immer. Es ist im Laufe unseres Lebens verloren gegangen und keine Utopie (und wird sie mit noch so vielen blutigen Opfern zu erreichen versucht) kann es heute mehr glaubhaft als Perspektive in die Zukunft projizieren.
Es hilft nichts, wenn wir das Idealbild unseres Kindheitsidylls schon an dieser Stelle relativieren. Es ändert nichts an ihm: Es meint die Sehnsucht nach einer verlorenen Einheit, die ob der demaskierenden Tatsachen nicht erlischt.
Das Plüschtier nun figuriert sozusagen als Tempelwachter an der Pforte zum Kinderzimmer(-Idyll) und in dieser Funktion tritt es uns auch zum ersten Mal in seiner Ambivalenz entgegen: als Verlockung und als Zerberus. Doch so weit sind wir noch nicht.

Der Weg zurück führt über die Regression und damit ist er gefahrvoll, wenn man ihn nicht aufmerksam beschreitet. Die Zulässigkeit einer Regression mit allen damit verbundenen Fantasien wiederum – so meine riskante These – hangt mit dem Maß ihrer Bewusstmachung zusammen. Das heißt, werde ich durch den Sog der vermeintlich heilen Kindheit (die herrliche Freiheit der Ohnmächtigen!) angezogen, ohne das Ruder in der Hand zu behalten, werde ich im Strudel der Vergangenheit regredieren. Das Schiffchen des Lebens kennt nur eine Fahrtrichtung: Volle Kraft voraus! (Ebenfalls eine so kitschige, wie fantasielose Metapher.)

Und so gefahrvoll, wie jetzt der Weg zurück ist, so erschien er uns damals nach vorn: hinaus aus dem Kinderzimmer ins Leben!
Auch von dieser Seite kommend finden wir den Teddy an der Schwelle: doch diesmal nicht als Höllenhund, sondern als liebevollen Türhüter. Dieser sagt dem Kinde (und die Glasaugen glänzen), zwei bedeutsame Dinge: Wenn Du mich verlasst, werde ich schrecklich alleine sein! Und: Entziehst Du Dich meiner Umarmung, werden Dich die Monster fressen, die da draußen auf Dich warten! Zwei gute Grunde jedenfalls, unter der Bettdecke zu bleiben. Die erste Drohung verschleiert die eigenen Ängste des Kindes vor dem Verlassenwerden; die zweite die der Mutter, das eigene Fleisch und Blut loszulassen. Beide aber machen klar, was mit dem Schritt nach draußen einhergeht: Man wird die beschützende Liebe verlieren und der Weg zurück wird versperrt bleiben. Was allerdings dem armen Kinde das Leben zuruft, hat niemand klarer gesagt als C. G. Jung: Geh dorthin wo deine Angst ist. Und er sagt damit: Gehe über die Schwelle, geh in die Krise hinein, wo das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht gilt.

Wenn wir von der Ambivalenz des Teddybaren sprechen, sprechen wir unweigerlich von der Ambivalenz der Grenzerfahrungen unserer Kindheit. Wir sehen die Geborgenheit und wir sehen die Entwicklungshemmung in der Umarmung der Mutter in unserer Kindheit. Wir sehen die Verheißungen zur Rückkehr in das verlorene und vermeintliche Paradies der Kindheit und wir sehen die Widernatürlichkeit der Reiserichtung. Mit einem Wort, wir sehen das Plüschtier in seinen Bedeutungen für uns: einmal als Totem und Schutztier und einmal als Monster und Höllenhund. Wir verstehen unsere Ambivalenz dem Idyll gegenuber.
Vielleicht ist an dieser Stelle klar geworden, warum wir vom Teddybaren und seiner idyllischen Lebenswelt als Metapher ausgegangen sind, ohne die Tatsachen allzu ernst zu nehmen.

Wie wir gesehen haben, besitzen Dinge an sich keine Bedeutung, außer der, welche wir ihnen verleihen. Das widerspricht nur scheinbar den Thesen von Jean Piaget, der Kleinkinder als absolute Realisten bezeichnet, welche durch ihr Unvermögen außen und innen zu unterscheiden, den Dingen eine geradezu magische Bedeutung beimessen [2].
Das Kleinkind sieht die Welt nicht egoistisch, es ist sozusagen tatsachlich eins mit ihr. Einem Kinde, welchem der Schutz des Plüschtiers nicht zuteil wurde, kann also dessen Funktion durchaus in ein anderes Ding projizieren. Das großäugige, warme, weiche und geduldige Stoffwesen schafft es allerdings, sich besonders gut in das kindliche Universum einzukuscheln. Als verkleinertes Abbild seiner selbst wird es zum idealen Gefährten. Ich bin allerdings der Meinung, dass die Animation der Mutter, es als solches anzunehmen, dazu notwendig ist.

Wenn wir über die Bedeutung von Worten nachdenken, so tun wir nichts anderes, als nach den Symbolen suchen, welche hinter den Worten stehen und die Schlüssel zu unserer emotionalen und bildhaften Erfahrungswelt sind.
Bevor wir uns aber zu weit in unsichere Gewässer hinaus wagen, eine abschließende Bemerkung zum Massenphänomen der Plüschverehrung, wenn wir annehmen wollen, dass die Hinwendung zum Kitsch ein solches ist. (Über die Freudsche anale Ausdeutung der Sammelleidenschaft wollen wir an dieser Stelle schweigen.)

Luc Ciompi und Elke Endert [3] haben gezeigt, dass Massenverhalten in seiner Emotionalität und Irrationalität mit dem Verhalten von Kleinkindern zu vergleichen ist. Beiden ist es unmöglich, langfristig zu planen und auf kurzfristigen Lustgewinn zu verzichten. Dass dies ein bedenkliches Bild von einem Gesellschaftssystem wie dem der Demokratie zeichnet, sei nur nebenbei bemerkt. Wir können also das in der Massendynamik entstehenden Wir-Gefühl mit guten Grund kindlichen Emotionen gleichsetzen. Die Affinität zu allem, was kitschig ist (d.h. als bekannt gilt und damit gefahrlos ist), vermag somit nicht zu überraschen. Ebenso wenig überrascht leider auch seine andere Seite: die der kindlich unzensierten und unkontrollierten Grausamkeit. Wenn der legitime Teddybär des Erwachsenen – der Gartenzwerg – erwacht, rollen die Kopfe.

[1] Siehe zum Begriff der Metapher Arnold Retzer, Passagen, Stuttgart 2002, sowie die Buchbesprechung in diesem Heft.
[2] Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, Paris 1926
[3] Luc Ciompi/Elke Endert Gefühle machen Geschichte – Die Wirkung kollektiver Emotionen, Göttingen 2011.

Peter Kaiser
Geb.1968, gelernter und langjähriger Buchhändler. Interessiert sich für viele Dinge. Schreibt gerne für das etcetera und ist selbstständig in St. Polten tätig.

LitGes, etcetera 48/ Teddy/ Oktober 2012 mehr...

48/Traum/ Essay: Vom Träumen im Land ohne Traum. Caspar Jenny

Caspar Jenny
Vom Träumen im Land ohne Traum

Dieser Bericht handelt vom Träumen in einem Land ohne Traum. Nicht gemeint ist der Nachttraum, den wir unserem Unbewussten verdanken und den wir glücklicherweise weder steuern noch unterbinden können. Es geht in diesem Bericht alleine um den Traum, der sich der Kontrolle nicht zu entziehen vermag, sollte er einer solchen Kontrolle überhaupt ausgesetzt sein. Gemeint sind hiermit Tagträume, Wachträume, Lebensträume, das Träumen und geistig abwesend sein überhaupt. Diese Art des Träumens, die zu einer Tageszeit stattfindet, in der das Träumen nicht angesagt ist, wollen wir in diesem Land untersuchen. Für das Träumen braucht es Fantasie, unerfüllte Wünsche, ein utopisches Denken, dem wir nachhängen können, wollen und auch müssen. In diesem Land ohne Traum ist diese Art des Träumens aber irgendwie unerwünscht, wenn nicht sogar etwas, das bekämpft werden muss. Das Träumen wird hier aber nicht bekämpft in der Art, dass es Gesetzte gebe, die das Träumen verbieten oder gar eine Traumpolizei im Einsatz wäre, die das verbotene Träumen kontrolliert. Nein, hier wird das Träumen von den potentiellen Träumern selber bewacht und überwacht.

Wer hierzulande träumt, befindet sich in einer Art Traumgefängnis, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Das Traumgefängnis, in dem der Träumer sich befindet, ist mit einer Isolationshaft vergleichbar. In dieser hermetisch luftdicht gemachten Traumzelle wird sich der Träumer erst wirklich bewusst, dass er alleine ist mit seinem Traum, und er wird solange mürbe gemacht, bis ihm das Träumen zum Alptraum wird. Den Techniken der Traumvernichter sind dabei keine Grenzen gesetzt. Besonders aufmerksam wird die Phalanx der Traumlosen, wenn ein Träumen zu keimen beginnt. Die Vorsichtsmassnahmen sind also solcherart geregelt, dass der Traumkeim so schnell als möglich vernichtet wird, damit der Traum seiner Natur gemäss erst gar nicht zu blühen beginnt. Ein unvorhergesehenes Wachstum von nicht Kontrollierbaren ist damit das Schlimmste, was dem Land ohne Traum passieren kann. Die Bedrohung durch den Traum beginnt somit bereits in seinem Möglichsein. Die Traumvernichter sind somit ständig auf der Hut, jeden möglichen Ausbruch von Träumen im Keim zu ersticken. Wenn hier ein Mensch mit dem Träumen nicht mehr aufhören kann, wird es sich mit Sicherheit zu Tode träumen, und seine Träume kommen auf den Friedhof der krepierten Träume, der hier sehr gross ist. Da es aber ein unsichtbarer Friedhof ist, kann ihn niemand besuchen gehen, und die Trauer der weggestorbenen Träume wird jeder und jede für sich alleine in Erinnerung behalten müssen.

So wie die Wildheit des Träumens verunmöglicht wird, so sieht es in dem Land ohne Traum auch optisch aus. Es gibt hier keinen Schmutz auf den Strassen, und das lästige Laub, das z.B. im Herbst von den Bäumen regnet, wird mit einem Laubgebläse weggesaugt und weg geschafft. Wie die Wildheit des Traums ist auch die Wildheit der Natur unerwünscht, und auch diese ein Schmutz, der die Reinlichkeit der Strassen und Parks bedroht. Es ist im Land ohne Traum also unmöglich etwas zu sehen, das von sich aus lebendig wäre. Das Auge vermag keine Nischen des ausgebrochenen Lebendigen mehr zu treffen. Der abgestumpfte Sinn begnügt sich mit dem Gewohnten. Und treffen wir auf andere inländische Augen im Land ohne Traum, so sind diese Augen musternd kühl und berechnend ohne den geringsten Horizont einer Träumerei. Das Wilde und Wild-Gewordene wird hierzulande also gehasst und eliminiert.

Der Aspekt der antiseptischen Reinheit im öffentlichen Raum ist darum interessant, weil man ihn einem interkulturellen Vergleich unterziehen kann. Denn kaum hat man die Grenzen des Landes ohne Traum hinter sich gelassen, fängt es an mit der wilden Lebendigkeit. Es gibt dann folgende Dinge zu sehen, die innerhalb der Grenzen des Landes ohne Traum unvorstellbar sind. Das sind z.B. zerbrochene Fenster eines leer stehenden Hauses, eine liegen gelassene Badewanne aus der Hyazinthen wachsen, eine Haustüre, die allmählich von Efeu überwuchert wird, Friedhöfe in denen die Grabsteine in alle Richtungen kippen, als wären sie dem Zufall der Windrichtung ausgesetzt. All diese Dinge, die man jenseits der Grenzen zu sehen bekommt, würden im Land ohne Traum sofort vernichtet: die zerbrochenen Fenster entfernt, die Badewanne entsorgt, das Efeu an der Haustüre weg geschnitten und die Grabsteine begradigt, damit sie so aufrecht stehen, wie es das geregelte Leben verlangt. Wie der Traum wird somit alles, was das Regelwerk des anständigen bürgerlichen Lebens in Frage stellen könnte amputiert, abgerissen, abgeschnitten, aufgeräumt, entsorgt und damit aus der Welt geschafft. Der Schmutz, wie es Träume und natürlicher Wildwuchs sind, gehört in den Abfall oder auf die Müllhalde menschlicher Entgleisungen. Sind es doch gerade die Träume, die Bestehendes auf wundersame Weise zu beunruhigen imstande sind, ist hierzulande auch der Zerfall menschlichen Lebens, der sich so schön an den Dingen der materiellen Welt zeigt, ein Tabu. Zerfall und Tod, diese urmenschlichen Eigenschaften, die den natürlichen Gegenpol zur wilden Lebendigkeit bildet, will hier niemand sehen. So blind und ignorant wie dem Tod gegenüber sind die Traumlosen dem Leben gegenüber: Die Wirklichkeit des Traumlosen ist somit absolut und auf eine erschreckende Weise totalitär wie reaktionär. Wo nicht geträumt wird, ist der Stillstand perfekt und das Stillstehen eine Tugend, auf die man stolz ist. Auf solch unverrückbarem Boden findet nun das reaktionär Konservative seine Anhängerschaft. Diese Anhänger des perfekten Stillstands träumen auch. Sie träumen den fürchterlichen Traum eines Landes, dass so steril sein soll, wie der Korridor eines Spitals. Diese Fürsprecher einer sterilen und antiseptischen Realität landen ihre Faust mitten ins träumende Antlitz des Andersträumenden. Der KO-Schlag des Traums hat somit eine politische Entsprechung.

Es gibt hierzulande eine politische Partei, auf deren Parteiplakaten geht ihr als Insignie ihrer Parteiparolen eine lächelnde Sonne über einer grünen Wiese auf. Wem diese lächelnde Sonne aufgeht wird klar, und dem, der anders träumt zum Alptraum. Ein Plakat z.B. zeigt, wie ein weisses Schaf ein schwarzes aus diesem Land ohne Traum hinauskickt. Unerwünscht wie das Träumen ist hierzulande auch der Ausländer. Das Inlandschaf will seine Wiese für sich, und ein fressendes Auslandschaf schon gar nicht. Wir sehen, die Metaphern der Wiese, einer aufgehenden Sonne und weidender Schafherden lässt dieser rätselhaften Partei eine nahe Bindung zur Natur unterstellen, soll einer der Parteimitglieder sogar mit Vorliebe Gras fressen (er vermag die verschiedenen Gräser zu unterscheiden, wie man in einem Grasfresstest feststellen konnte). Das Land ohne Traum hat durchaus etwas schafgesichtiges, und die Oberschafe meckern so laut, dass sie sogar noch weit über die Landesgrenzen hinaus zu hören sind. Aber wie kommt eigentlich ein schwarzes Schaf dazu, ein schwarzes Schaf zu designieren? Denn wenn diese Blödmetapher für ein Land zutrifft, dann für dieses Land ohne Traum. Wie hat mir doch kürzlich ein Bekannter gesagt: „Das Land ohne Traum ist der ungewaschene Arsch Europas“. Das Land ohne Traum auf jeden Fall will für sich alleine sein, innerhalb seiner eigenen Grenzen eine eigene Sonne leuchten sehen. Sind diese parteipolitisch abgründig verdummten Bildmetaphern eine eigentliche Zumutung für den gesunden Menschenverstand, wollen wir unser Augenmerk mal auf die andere Seite des politischen Spektrums in diesem Land ohne Traum richten. Dabei werden wir feststellen, auch da fällt das Träumen schwer. Denn potentielle Träumer untereinander lieben sich weniger, als man glaubt.

Intellektuell wird hier vor allem und wenn überhaupt akademisch geträumt. Unter diesen Träumern wird doch noch eine Utopie in Anspruch genommen, indem das Recht auf Kritik am unerwünschten und erratischen Zustand legitim scheint. Doch bei genauerem Hinschauen fällt auf, dass diese Kritik nicht ganz so ernst gemeint ist, wie sie tut. Es kommt zuweilen zu der grotesken Situation, dass der Kritisierende das Kritisierte um ein Weites an Selbstgerechtigkeit übertrifft. Der Traum von einer offenen Kritik wird dahingehend kaschiert und täuscht, insofern die Kritik nur eine Scheinbare ist, nicht wirklich angreift und zutrifft, sondern bloss mit echter Kritik kokettiert. So schafsgesichtig wie die einen meckern, so schal und lauwarm ist die unernst gemeinte Kritik der anderen. Was beiden Parteien abgeht ist die Unmöglichkeit der Selbstkritik, denn ein Klima des Misstrauens verhindert jede menschliche und intellektuelle Konfrontation. Aus Angst sein Gesicht zu verlieren, schweigt man lieber und begnügt sich mit einer Schrebergartenphilosophie, deren oberstes Gebot lautet: Meines ist meins und deins ist deins. Das Gesicht der Traumlosigkeit verbirgt in Wirklichkeit aber kein menschliches Gesicht, sondern ist die Fassade der geschichtslosen Wüste von Beleidigten, die zwar alles haben, aber niemandem etwas gönnen. Das Leben wird dem unheimlich, der gegen diesen Strom schwimmt.

Doch unter Traumlosen gibt es eine Steigerung der Absurdität, die man dem Rest der Welt kaum zumuten kann. Diese Traumlosigkeit zeigt sich in bestimmten Wortschöpfungen, die das Konzept der Wirklichkeitsfanatiker auf den Punkt bringen. Eine schon poetisch anmutende Wortschöpfung ist das Wort „Bankgeheimnis“. Es gibt also auch in diesem Land ohne Traum Geheimnisse. Ein Geheimnis hat mit Traum und Träumen sehr viel zu tun. Wer träumt, ist geheimnisvoll. Das Geheimnisvolle hier aber spinnt sich um etwas so Geheimnisloses wie Geld. Die eigentlich geistige Armut, die hinter dieser Wortkreation steckt, hat sehr viel mit dem Traumvernichter par excellence, wie Geld es ist, zu tun. Weil Träumen also auch kein Geld bringt, wollen die Traumlosen viel lieber aus dem Geheimnislosesten ein Geheimnis machen. Eine neuere Wortkreatur, die gegenwärtig auf Plakaten zu lesen ist und die von den weissfarbigen Oberschafen ins Leben gerufen wurde heisst „Sicherheitsinitiative“. Aber das Land ohne Traum gilt als eines der sichersten Länder weltweit, warum also noch mehr Sicherheit? So todsicher wie hier lebt es sich wohl kein zweites Mal auf dieser eigentlich sehr unsicheren Welt. Aber mit dieser Unsicherheit, mit der der Rest der Welt zu kämpfen hat, will hier niemand zu tun haben. Aus dieser Gesinnung heraus lässt sich der Wirklichkeitsfanatiker mit seiner pervertierten Idee von sicherem Leben wohl kaum mit etwas Unsichererem konfrontieren wie mit dem Traum. Wer träumt verunsichert, denn das Träumen folgt nicht der Logik der Sicherheit, sondern ganz im Gegenteil einer Logik der ungeahnten Möglichkeiten. So viel also zu der politischen Traumlosigkeit, die dieses Land infiltriert, wie ein Gift das Blut.

Wenn der Traum einer der Idee von Sicherheit konträren Logik folgt, muss diese also insgesamt dem Traumlosen zum Feind generieren. So haben wir es also nicht bloss mit Traumlosen zu tun sondern regelrecht mit Traumfeinden. Der Träumer im Gegenzug muss sich somit einen Traumpanzer anlegen, will er hier überleben. Denn ein Leben ohne Traum ist für den Träumer naturgemäss kein Leben. Was dem einen für lebenswert gilt, ist dem anderen einen Dreck wert, und die Mobilmachung der Traumfeinde läuft auf  Hochtouren. Noch jeder Rest von Träumerei wird weggewischt und das kahle und kalte Herz von Technokraten und Xenophoben schürt den Strick um den Träumer jedes Mal ein Stück enger zu. Die Totschläger des Traums, sie sind überall hellwach am Werk: in den Ämtern, im kulturellen Leben, in den Universitäten (man bedenke die Geschmacklosigkeit eines Worts wie „Kreditpunkt“), in den Schulen und besonders überall dort, wo sich ein Nährboden für Träume herausbilden könnte.

Der Träumer droht unter solcher systematischer Gewalt zu ersticken. Ohne Übertreibung kann ein Träumer hierzulande als ein Kranker bezeichnet werden, denn er krankt an einer Wirklichkeitsphobie, die ihm je länger wie mehr zum Trauma geworden ist. Die Diagnose eines Träumers im Land ohne Traum ist somit die eines durch sein Träumen traumatisierten Individuums. Der Träumer als Patient ist somit für immer mit einem Stigma behaftet, das ihn beinahe als Aussätzigen erscheinen lässt. Schämen muss sich, wer träumt, denn was er damit in Frage stellt, ist eine Wirklichkeit, die letztlich das Leben als Betrug und ausschliessliches Kosten-Nutzen-Verhältnis interpretiert. Neben dem Traumgefängnis ist das Land ohne Traum auch eine Traumklinik, die verkrüppelte Traumseelen beherbergt. Der Stoff, aus dem die Träume sind, wird in diesem Land nicht gewoben und wer hierzulande träumt, lebt gefährlich. Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, sagt Hölderlin. Wo es aber nichts mehr zu träumen gibt, gibt es auch nichts zu retten. Nihil est.

Caspar Jenny
Geb. 1971 in Basel. Aufgewachsen in Griechenland und im Tessin. Diverse Arbeiten als Kunstmaler, Strassenmusiker, Bahnpostler und Asylbeobachter. Reisen nach Südostasien und Indien. Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Zuletzt Arbeit an einem Gedichtband „Im Rückstoss des Tages“. Lebt in Basel.

LitGes, etcetera Nr. 48/ Traum/ Mai 2012 mehr...

48/Traum/ Essay: Verbotene Träume. Peter Kaiser

Peter Kaiser
Verbotene Träume
Annäherungen an ein Phänomen

Die chaotische Anordnung dieser Annäherungen ist einerseits dem Traumerleben geschuldet und andererseits weist sie auf die Hilflosigkeit hin, einem Gespenst habhaft werden zu können.

Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Aus dem Vorwort.

Sprechen wir von Träumen und vom Träumen, operieren wir mit möglichst exakten Begriffen an einem Phänomen, welches sich vor allem in chaotischen Bildern und Emotionen zeigt. Wir wollen etwas verstehen, das sich nicht um die Logik und Linearität unseres Denkvermögens schert. Unsere Vernunft steht einer Artikulation unseres Selbst gegenüber, die sich einer urzeitlichen Sprache zu bedienen scheint. Tun wir einen neugierigen Blick in unsere Traumwelt, so sehen wir einerseits einem urzeitlichen Informationsverarbeitungsprozess zu, welcher bei Mensch und Tier gleich abzulaufen scheint. Anderseits finden wir uns in der Wunderwelt unseres Erlebten wieder, die wiederum einer eigenen Traumlogik gehorcht. Die Traumdeutung ist der Versuch, diese chaotische Sprache für uns im Wachzustand zu entschlüsseln. Die Trennung von Wach- und Traumzustand ist vielleicht mit der Dichotomie Bewusstsein/Unterbewusstsein oder Geist/Körper zu vergleichen. Im Hinübergleiten vom Wach- in den Schlafzustand zeigen sich traumähnliche Phänomene, die sogenannten hypnagogischen Halluzinationen, welche die Grenzen zwischen den jeweiligen Seinszuständen aufweichen. Wie unsere Triebe und gewisse Körperfunktionen scheint uns unsere Traumfähigkeit an etwas zu erinnern, das uns zivilisierte Menschen peinlich zu berühren scheint: Die Konfrontation mit unserem Herkommen evolutionär gattungs- und individuell entwicklungsgeschichtlich. Der Traum ist ein sprudelnder Schmelztiegel, welcher von unseren Sinneseindrücken, Nervenreizungen, von tatsächlich Erlebtem in unmittelbarer oder ferner Vergangenheit ebenso gespeist wird, wie von emotionalen und triebhaften Sensationen. Die Wissenschaft ab dem 2. Weltkrieg sieht den Traum vorwiegend als Verarbeitungsmechanismus, welcher eine Abgleichung der Einträge des Kurzzeit- mit denen des Langzeitgedächtnisses vollführt. Im Traum erlebte Konflikte treten dort auf, wo eine Unmöglichkeit der Überlagerung oder Abgleichung entsteht. Das durch inhaltliche Ähnlichkeiten herangezogene Gegenstück ist nicht kompatibel. Die von Freud erkannte Verdichtung im Traum, die dieser auf einen angstlindernden Verschleierungsprozess zurück führte, welcher vielleicht das eigentlich psychedelische des Traums für uns ausmacht, wird von der Wissenschaft auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Informationen zurückgeführt, welcher unser Bewusstsein nicht folgen kann. Wir sehen sozusagen die aktuellen Erinnerungen sowie die im Langzeitgedächtnis unsichtbar gelagerten von zwei Seiten auf eine Leinwand projiziert und dies in einer Geschwindigkeit, die uns gleichsam nur short cuts zum Wahrnehmen gewährt. Sigmund Freud stellte interessanter Weise eine Analogie zu den übereinandergelegte Familienfotos von Francis Galton her, der damit das gemeinsame der Familienmitglieder zum Vorschein bringen wollte. (Laut Freud wird zum Beispiel der Vater mit dem Direktor abgeglichen, aber eigentlich geht es um unser Problem im Umgang mit Autorität.) Die neuere Traumforschung sieht den Traum vor allem als Problemlöser, der uns hilft die konflikthaltigen Erfahrungen des Tagesgeschehens gewissermaßen zu verdauen. In der Psychoanalyse hingegen kann die Lösung des im Traum aufgezeigten Problems erst in der analytischen Bearbeitung erfolgen. Begriffe aus der psychoanalytischen Traumdeutung: Manifester und latenter Trauminhalt, Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung, Symbolisierung), rezenter Tagesrest, Wunscherfüllung, Triebimpuls, Bearbeitung, Trauma, unsterbliche Kinderwünsche, Traumzensor usw.

*

Sigmund Freud bezeichnete den Traum als Königsweg zu unserem Unterbewusstsein. Ist unser Bedürfnis nach rauschähnlichen Zuständen nicht ein Versuch im (halb-) wachem Bewusstsein mit unserem lustorientierten Triebleben in Kontakt zu treten und dessen Wunsch nach Erfüllung zu realisieren? Erspüren wir nicht in diesen Regionen die Wurzeln unserer Kreativität und Lebendigkeit? Unser Bewusstsein scheint uns manchmal im Weg zu stehen, um zu den Ursprüngen unserer Vitalität und Wesenheit vorzudringen. Rausch- und Traumzustände scheinen uns eine vermisste Ganzheit zu erzeugen. Sie sind der Rückzug des Individuums aus der Zivilisation in eine archaische und erregende Vergangenheit.

Heute Nacht habe ich geträumt, ich sei ein Schmetterling. Woher weiß ich, ob ich ein Mensch bin, der glaubt, geträumt zu haben, ein Schmetterling zu sein, oder ob ich ein Schmetterling bin, der jetzt träumt ein Mensch zu sein? Dieser schwer widerlegbare Gedanke stammt vom altchinesischen Dichter-Philosophen Tschuang-Tse. Im babylonischen Talmud, in der Bibel und dort vor allem in den Joseph-Geschichten, bei Platon und Aristoteles ist von den Träumen und ihrer Bedeutung die Rede und sie werden durchaus ernst genommen. Das althochdeutsche Substantiv troum gehört der Wortgruppe um trügen an und lässt so den Traum zum Trugbild werden. Später laufen die irrationalen Traumelemente der Aufklärung und ihrer Vernunft zuwider. Erst mit dem Ende der Romantik scheint das Interesse am Traumleben wieder zu erwachen und nach einigen psychologischen Vorarbeiten erscheint 1900 (genauer im November 1899) Sigmund Freuds Traumdeutung. Ein Werk, das Zweifel an seinen Thesen zulässt, die an seiner Wirkungsmächtigkeit nicht. Die kognitive und empirische Traumforschung setzt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein und stellt mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen ein Gegengewicht zur psychologischen Traumforschung her. Analog zum Traumprozess wird auch die Überlagerung von psychologischem und neurobiologischen Wissen einige konfliktreiche Unlust bereiten und auf Klärung warten lassen.

Egal wie man über Freuds Gedankenkonstruktionen denken mag, widerlegen wird man sie in seinen Worten und Denkschemata denen diese entsprungen sind. Freud ist es gelungen dem Menschen ein Denkmodell seines inneren Wesens anzubieten, nach welchem man offensichtlich verlangt hat. Das ist faszinierend, sagt aber nichts über den Wahrheitsgehalt des Modells aus. Die Werkzeuge aber, um über uns in neuer Form nachdenken zu können, hat Sigmund Freud uns jedenfalls in die Hand gegeben.

Der Traum ist schamlos. Er lässt uns Dinge tun und erleben, welche Scham oder Schuldgefühle auslösen, wenn wir nur über sie phantasieren. Der Trieb dahinter verschwindet aber nicht durch die Scham. Andererseits hindern wir uns im Traum oft selbst, unsere Aggression oder Lust zu leben, wir ziehen gleichsam die Zügel an, unser Revolver bekommt Ladehemmung, unendlich verlangsamte Bewegungen hindern uns am Handeln. Ebenso stark wie tatsächlich Gelebtes, scheint uns unsere ethische Einstellung und damit unsere Erziehung und unser Sittenkodex in die Traumwelt zu begleiten. Würde ein von gesellschaftlichen Zwängen weitest möglich befreiter Mensch im Traum alle lusthemmenden Elemente ablegen? Der verborgene Wunsch könnte endlich seine realisierte Entsprechung erfahren. In beiden Welten. Der Traumzensor wäre abgeschafft. Wie würde dieser Mensch agieren?

Jonathan Winson bezeichnet 1990 das Träumen als überlebensnotwendige Erinnerungsverarbeitung, welche der Mensch von sogenannten niederen Arten ererbt hat und mit dessen Hilfe Informationen im REM-Schlaf weiterverarbeitet werden. Das Lösen von emotionalen und konflikthaften Situationen, welche der Träumende tagsüber erlebt hat geschieht mittels episodischer und semantischer Gedächtnisinhalte, die wiederum mit autobiografischem Gedächtnismaterial abgeglichen werden. Träume (Abgleichungsprozesse) welche erfolgreich verlaufen (problemlösend sind), lassen den Träumer nicht erwachen. Verläuft der Prozess nicht erfolgreich, wird dieser durch Angst und mit Gefühlen der Unlust erwachen.

Das Bertelsmann Lexikon von 1992 beschreibt die Träume als seelische Abläufe während des Schlafs und nimmt dann Inhalte von Plato und Freud, sowie wissenschaftliche Erkenntnisse zum Erklärungsversuch. Interessant dabei ist der völlig unwissenschaftliche Begriff der seelischen Abläufe. Wird hier der Traum sozusagen als Sprachorgan der Seele impliziert und damit deren Sitz an der Schnittstelle zwischen Bewußtem und Unbewußtem? Mag der unermüdliche Seelensucher diese Spur dankbar aufnehmen. Ein anderer mag die Suche beendet haben und die Seele als die untrennbare Ganzheit der körperlichen und geistigen Zustände oder Phänomene eines Individuums und damit als Ich-Bewusstsein definieren.

1953 entdecken Aserinsky und Kleitman das Phänomen der REM-Phasen (REM = rapid eye movement), in welchen die Traumintensität am stärksten ist. Obwohl auch im Non-REM-Schlaf Traumzustände stattfinden, so scheinen diese näher unter der Bewusstseinsoberfläche zu liegen. Verschiedene Wissenschaftler deuten Träume als Nebenerscheinungen der Neuronenfeuerwerke die auf rein physiologischer Basis während des Schlafs ablaufen. Der Traum wird zum Abfallprodukt organischer Lernprozesse. Crick und Mitchison entwickelten eine Hypothese nach welcher im REM-Schlaf unnötig im Kurzzeitgedächtnis gespeichertes Wissen gelöscht wird. Einer weiteren Theorie von Jonathan Winson zufolge findet in der REM-Phase ein Informationsverarbeitungsprozess statt, der Säugetieren erlaubt, ohne ihr Gehirn vergrößern zu müssen, eine immer größere Gehirnleistung möglich macht. Dieser Prozess wurde evolutionär vom Menschen übernommen, wofür der vorwiegend visuelle Charakter unseres Traumerlebens spricht. Alle Theorien, welche dem Trauminhalt keinerlei Bedeutung beimessen, wurden später abgemildert oder korrigiert.

Der selbstpsychologisch orientierte Harry Fiss hat in einer REM-Deprivationsstudie gezeigt, dass die wiederholte Verhinderung der traumintensiven REM-Phasen zu einer Stärkung der Triebanteile des Selbst führen (Heißhunger, Aggressivität, Sexualisierung, usw.). Daraus lässt sich schließen, dass die intensive Traumtätigkeit, welche übrigens alle Menschen haben, auch jene, welche sich nicht an Träume erinnern können, einer Trieb- und Stressregulierung dient. Stanley Palombo wies wiederholt auf die Bedeutung der Tagesreste, das heißt der kürzlich real erlebten Trauminhalte hin. Während für Sigmund Freud der latente Trauminhalt (also der kindliche Trieb oder Wunsch) im Zentrum des Interesses stand, wird in der neueren Forschung diesen Tagesresten immer mehr Bedeutung beigemessen.

Eine bedeutsame Frage für die Psychoanalyse betrifft den manifesten Traum, also sozusagen seine Nacherzählung. Dass es sich um eine Nacherzählung oder Nacherfindung handelt, wird klar, vergegenwärtigt man sich die Unmöglichkeit die vielschichtigen und chaotischen Traumbilder und -gefühle in eine narrativ-adäquate Form zu bringen. Was wird erzählt, wem erzählt man es (Traumdiagnostik), was wird verschwiegen oder schamhaft unterdrückt? Der Weg des Traums vom Tagesrest und seiner vorhandenen langzeitlichen Entsprechung und damit dem tatsächlichen Traumgeschehen, seiner Erinnerung nach dem Erwachen, bis zu seiner erzählenden Wiedergabe ist ein weiter und verschlungener.

Warum erinnern sich manche Menschen fast nie an ihre Träume? Der Wunsch zur Traumerinnerung, die bewusste Beschäftigung mit dieser, sowie der kulturelle Kontext (und damit die Wertigkeit der Träume) scheinen die Fähigkeit, seine Träume in den Wachzustand zu retten, zu beeinflussen. Ein im Menschen vorhandenes Bedürfnis seine Vergangenheit mit der Zukunft zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, wird wirksam, wenn wir über unsere Träume nachdenken. Es fällt uns schwer, etwas an uns zu akzeptieren, welches sich offensichtlich diesem Bedürfnis nach Kontinuität und sinnstiftenden Zusammenhang entzieht. Dieses Bedürfnis zeigt sich auch in Hinblick auf die Traumdeutung. Unser Selbst basiert auf der Konstruktion eines Ich-Gefühls, welches notwendig in der Gegenwart existenzfähig und zwischen Vergangenheit und Zukunft eingespannt ist. Wenn man nun die das Selbst stabilisierenden Komponenten des Träumens als gegeben annimmt, könnte man sagen, dass unser Deutungswunsch einem Wunsch nach der verbesserten Einheitlichkeit dieses Ich-Gefühls gleichkommt. Heinz Kohut und Ursula Grunert haben unabhängig von einander auf diese das Selbst stärkende Funktion der Träume hingewiesen, welche sich vor allem bei Menschen mit einem in der Kindheit geschädigten Selbstwertgefühl oder mit narzisstischen Träumen durch intensives Traumerleben bemerkbar macht. Kürzest mögliche Einführung in die Freudsche Traumdeutung: Man verschafft sich die Kenntnis derselben, indem man den manifesten (erinnerten) Trauminhalt ohne Rücksicht auf seinen etwaigen scheinbaren Sinn in seine Bestandteile zerlegt und dann die Assoziationsfäden verfolgt, die von jedem der nun isolierten Elemente ausgehen. Diese verflechten sich miteinander und leiten endlich zu einem Gefüge von Gedanken, welche nicht nur völlig korrekt sind, sondern auch leicht in den uns bekannten Zusammenhang unserer seelischen Vorgänge eingereiht werden. Sigmund Freud, Traumdeutung, S. 182 f.

Peter Kaiser
Geb. 1968. Gelernter Buchhändler und Neugierologe. Vorstandsmitglied, Redakteur und Rezensent der LitGes, Organisator und Mitinitiator von Kunst-, Musik- und Literaturprojekten. Lebt in St. Pölten und ist selbstständig tätig.

LitGes, etcetera Nr. 48/ Traum/ Mai 2012 mehr...