Caspar Jenny
Vom Träumen im Land ohne Traum
Dieser Bericht handelt vom Träumen in einem Land ohne Traum. Nicht gemeint ist der Nachttraum, den wir unserem Unbewussten verdanken und den wir glücklicherweise weder steuern noch unterbinden können. Es geht in diesem Bericht alleine um den Traum, der sich der Kontrolle nicht zu entziehen vermag, sollte er einer solchen Kontrolle überhaupt ausgesetzt sein. Gemeint sind hiermit Tagträume, Wachträume, Lebensträume, das Träumen und geistig abwesend sein überhaupt. Diese Art des Träumens, die zu einer Tageszeit stattfindet, in der das Träumen nicht angesagt ist, wollen wir in diesem Land untersuchen. Für das Träumen braucht es Fantasie, unerfüllte Wünsche, ein utopisches Denken, dem wir nachhängen können, wollen und auch müssen. In diesem Land ohne Traum ist diese Art des Träumens aber irgendwie unerwünscht, wenn nicht sogar etwas, das bekämpft werden muss. Das Träumen wird hier aber nicht bekämpft in der Art, dass es Gesetzte gebe, die das Träumen verbieten oder gar eine Traumpolizei im Einsatz wäre, die das verbotene Träumen kontrolliert. Nein, hier wird das Träumen von den potentiellen Träumern selber bewacht und überwacht.
Wer hierzulande träumt, befindet sich in einer Art Traumgefängnis, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Das Traumgefängnis, in dem der Träumer sich befindet, ist mit einer Isolationshaft vergleichbar. In dieser hermetisch luftdicht gemachten Traumzelle wird sich der Träumer erst wirklich bewusst, dass er alleine ist mit seinem Traum, und er wird solange mürbe gemacht, bis ihm das Träumen zum Alptraum wird. Den Techniken der Traumvernichter sind dabei keine Grenzen gesetzt. Besonders aufmerksam wird die Phalanx der Traumlosen, wenn ein Träumen zu keimen beginnt. Die Vorsichtsmassnahmen sind also solcherart geregelt, dass der Traumkeim so schnell als möglich vernichtet wird, damit der Traum seiner Natur gemäss erst gar nicht zu blühen beginnt. Ein unvorhergesehenes Wachstum von nicht Kontrollierbaren ist damit das Schlimmste, was dem Land ohne Traum passieren kann. Die Bedrohung durch den Traum beginnt somit bereits in seinem Möglichsein. Die Traumvernichter sind somit ständig auf der Hut, jeden möglichen Ausbruch von Träumen im Keim zu ersticken. Wenn hier ein Mensch mit dem Träumen nicht mehr aufhören kann, wird es sich mit Sicherheit zu Tode träumen, und seine Träume kommen auf den Friedhof der krepierten Träume, der hier sehr gross ist. Da es aber ein unsichtbarer Friedhof ist, kann ihn niemand besuchen gehen, und die Trauer der weggestorbenen Träume wird jeder und jede für sich alleine in Erinnerung behalten müssen.
So wie die Wildheit des Träumens verunmöglicht wird, so sieht es in dem Land ohne Traum auch optisch aus. Es gibt hier keinen Schmutz auf den Strassen, und das lästige Laub, das z.B. im Herbst von den Bäumen regnet, wird mit einem Laubgebläse weggesaugt und weg geschafft. Wie die Wildheit des Traums ist auch die Wildheit der Natur unerwünscht, und auch diese ein Schmutz, der die Reinlichkeit der Strassen und Parks bedroht. Es ist im Land ohne Traum also unmöglich etwas zu sehen, das von sich aus lebendig wäre. Das Auge vermag keine Nischen des ausgebrochenen Lebendigen mehr zu treffen. Der abgestumpfte Sinn begnügt sich mit dem Gewohnten. Und treffen wir auf andere inländische Augen im Land ohne Traum, so sind diese Augen musternd kühl und berechnend ohne den geringsten Horizont einer Träumerei. Das Wilde und Wild-Gewordene wird hierzulande also gehasst und eliminiert.
Der Aspekt der antiseptischen Reinheit im öffentlichen Raum ist darum interessant, weil man ihn einem interkulturellen Vergleich unterziehen kann. Denn kaum hat man die Grenzen des Landes ohne Traum hinter sich gelassen, fängt es an mit der wilden Lebendigkeit. Es gibt dann folgende Dinge zu sehen, die innerhalb der Grenzen des Landes ohne Traum unvorstellbar sind. Das sind z.B. zerbrochene Fenster eines leer stehenden Hauses, eine liegen gelassene Badewanne aus der Hyazinthen wachsen, eine Haustüre, die allmählich von Efeu überwuchert wird, Friedhöfe in denen die Grabsteine in alle Richtungen kippen, als wären sie dem Zufall der Windrichtung ausgesetzt. All diese Dinge, die man jenseits der Grenzen zu sehen bekommt, würden im Land ohne Traum sofort vernichtet: die zerbrochenen Fenster entfernt, die Badewanne entsorgt, das Efeu an der Haustüre weg geschnitten und die Grabsteine begradigt, damit sie so aufrecht stehen, wie es das geregelte Leben verlangt. Wie der Traum wird somit alles, was das Regelwerk des anständigen bürgerlichen Lebens in Frage stellen könnte amputiert, abgerissen, abgeschnitten, aufgeräumt, entsorgt und damit aus der Welt geschafft. Der Schmutz, wie es Träume und natürlicher Wildwuchs sind, gehört in den Abfall oder auf die Müllhalde menschlicher Entgleisungen. Sind es doch gerade die Träume, die Bestehendes auf wundersame Weise zu beunruhigen imstande sind, ist hierzulande auch der Zerfall menschlichen Lebens, der sich so schön an den Dingen der materiellen Welt zeigt, ein Tabu. Zerfall und Tod, diese urmenschlichen Eigenschaften, die den natürlichen Gegenpol zur wilden Lebendigkeit bildet, will hier niemand sehen. So blind und ignorant wie dem Tod gegenüber sind die Traumlosen dem Leben gegenüber: Die Wirklichkeit des Traumlosen ist somit absolut und auf eine erschreckende Weise totalitär wie reaktionär. Wo nicht geträumt wird, ist der Stillstand perfekt und das Stillstehen eine Tugend, auf die man stolz ist. Auf solch unverrückbarem Boden findet nun das reaktionär Konservative seine Anhängerschaft. Diese Anhänger des perfekten Stillstands träumen auch. Sie träumen den fürchterlichen Traum eines Landes, dass so steril sein soll, wie der Korridor eines Spitals. Diese Fürsprecher einer sterilen und antiseptischen Realität landen ihre Faust mitten ins träumende Antlitz des Andersträumenden. Der KO-Schlag des Traums hat somit eine politische Entsprechung.
Es gibt hierzulande eine politische Partei, auf deren Parteiplakaten geht ihr als Insignie ihrer Parteiparolen eine lächelnde Sonne über einer grünen Wiese auf. Wem diese lächelnde Sonne aufgeht wird klar, und dem, der anders träumt zum Alptraum. Ein Plakat z.B. zeigt, wie ein weisses Schaf ein schwarzes aus diesem Land ohne Traum hinauskickt. Unerwünscht wie das Träumen ist hierzulande auch der Ausländer. Das Inlandschaf will seine Wiese für sich, und ein fressendes Auslandschaf schon gar nicht. Wir sehen, die Metaphern der Wiese, einer aufgehenden Sonne und weidender Schafherden lässt dieser rätselhaften Partei eine nahe Bindung zur Natur unterstellen, soll einer der Parteimitglieder sogar mit Vorliebe Gras fressen (er vermag die verschiedenen Gräser zu unterscheiden, wie man in einem Grasfresstest feststellen konnte). Das Land ohne Traum hat durchaus etwas schafgesichtiges, und die Oberschafe meckern so laut, dass sie sogar noch weit über die Landesgrenzen hinaus zu hören sind. Aber wie kommt eigentlich ein schwarzes Schaf dazu, ein schwarzes Schaf zu designieren? Denn wenn diese Blödmetapher für ein Land zutrifft, dann für dieses Land ohne Traum. Wie hat mir doch kürzlich ein Bekannter gesagt: „Das Land ohne Traum ist der ungewaschene Arsch Europas“. Das Land ohne Traum auf jeden Fall will für sich alleine sein, innerhalb seiner eigenen Grenzen eine eigene Sonne leuchten sehen. Sind diese parteipolitisch abgründig verdummten Bildmetaphern eine eigentliche Zumutung für den gesunden Menschenverstand, wollen wir unser Augenmerk mal auf die andere Seite des politischen Spektrums in diesem Land ohne Traum richten. Dabei werden wir feststellen, auch da fällt das Träumen schwer. Denn potentielle Träumer untereinander lieben sich weniger, als man glaubt.
Intellektuell wird hier vor allem und wenn überhaupt akademisch geträumt. Unter diesen Träumern wird doch noch eine Utopie in Anspruch genommen, indem das Recht auf Kritik am unerwünschten und erratischen Zustand legitim scheint. Doch bei genauerem Hinschauen fällt auf, dass diese Kritik nicht ganz so ernst gemeint ist, wie sie tut. Es kommt zuweilen zu der grotesken Situation, dass der Kritisierende das Kritisierte um ein Weites an Selbstgerechtigkeit übertrifft. Der Traum von einer offenen Kritik wird dahingehend kaschiert und täuscht, insofern die Kritik nur eine Scheinbare ist, nicht wirklich angreift und zutrifft, sondern bloss mit echter Kritik kokettiert. So schafsgesichtig wie die einen meckern, so schal und lauwarm ist die unernst gemeinte Kritik der anderen. Was beiden Parteien abgeht ist die Unmöglichkeit der Selbstkritik, denn ein Klima des Misstrauens verhindert jede menschliche und intellektuelle Konfrontation. Aus Angst sein Gesicht zu verlieren, schweigt man lieber und begnügt sich mit einer Schrebergartenphilosophie, deren oberstes Gebot lautet: Meines ist meins und deins ist deins. Das Gesicht der Traumlosigkeit verbirgt in Wirklichkeit aber kein menschliches Gesicht, sondern ist die Fassade der geschichtslosen Wüste von Beleidigten, die zwar alles haben, aber niemandem etwas gönnen. Das Leben wird dem unheimlich, der gegen diesen Strom schwimmt.
Doch unter Traumlosen gibt es eine Steigerung der Absurdität, die man dem Rest der Welt kaum zumuten kann. Diese Traumlosigkeit zeigt sich in bestimmten Wortschöpfungen, die das Konzept der Wirklichkeitsfanatiker auf den Punkt bringen. Eine schon poetisch anmutende Wortschöpfung ist das Wort „Bankgeheimnis“. Es gibt also auch in diesem Land ohne Traum Geheimnisse. Ein Geheimnis hat mit Traum und Träumen sehr viel zu tun. Wer träumt, ist geheimnisvoll. Das Geheimnisvolle hier aber spinnt sich um etwas so Geheimnisloses wie Geld. Die eigentlich geistige Armut, die hinter dieser Wortkreation steckt, hat sehr viel mit dem Traumvernichter par excellence, wie Geld es ist, zu tun. Weil Träumen also auch kein Geld bringt, wollen die Traumlosen viel lieber aus dem Geheimnislosesten ein Geheimnis machen. Eine neuere Wortkreatur, die gegenwärtig auf Plakaten zu lesen ist und die von den weissfarbigen Oberschafen ins Leben gerufen wurde heisst „Sicherheitsinitiative“. Aber das Land ohne Traum gilt als eines der sichersten Länder weltweit, warum also noch mehr Sicherheit? So todsicher wie hier lebt es sich wohl kein zweites Mal auf dieser eigentlich sehr unsicheren Welt. Aber mit dieser Unsicherheit, mit der der Rest der Welt zu kämpfen hat, will hier niemand zu tun haben. Aus dieser Gesinnung heraus lässt sich der Wirklichkeitsfanatiker mit seiner pervertierten Idee von sicherem Leben wohl kaum mit etwas Unsichererem konfrontieren wie mit dem Traum. Wer träumt verunsichert, denn das Träumen folgt nicht der Logik der Sicherheit, sondern ganz im Gegenteil einer Logik der ungeahnten Möglichkeiten. So viel also zu der politischen Traumlosigkeit, die dieses Land infiltriert, wie ein Gift das Blut.
Wenn der Traum einer der Idee von Sicherheit konträren Logik folgt, muss diese also insgesamt dem Traumlosen zum Feind generieren. So haben wir es also nicht bloss mit Traumlosen zu tun sondern regelrecht mit Traumfeinden. Der Träumer im Gegenzug muss sich somit einen Traumpanzer anlegen, will er hier überleben. Denn ein Leben ohne Traum ist für den Träumer naturgemäss kein Leben. Was dem einen für lebenswert gilt, ist dem anderen einen Dreck wert, und die Mobilmachung der Traumfeinde läuft auf Hochtouren. Noch jeder Rest von Träumerei wird weggewischt und das kahle und kalte Herz von Technokraten und Xenophoben schürt den Strick um den Träumer jedes Mal ein Stück enger zu. Die Totschläger des Traums, sie sind überall hellwach am Werk: in den Ämtern, im kulturellen Leben, in den Universitäten (man bedenke die Geschmacklosigkeit eines Worts wie „Kreditpunkt“), in den Schulen und besonders überall dort, wo sich ein Nährboden für Träume herausbilden könnte.
Der Träumer droht unter solcher systematischer Gewalt zu ersticken. Ohne Übertreibung kann ein Träumer hierzulande als ein Kranker bezeichnet werden, denn er krankt an einer Wirklichkeitsphobie, die ihm je länger wie mehr zum Trauma geworden ist. Die Diagnose eines Träumers im Land ohne Traum ist somit die eines durch sein Träumen traumatisierten Individuums. Der Träumer als Patient ist somit für immer mit einem Stigma behaftet, das ihn beinahe als Aussätzigen erscheinen lässt. Schämen muss sich, wer träumt, denn was er damit in Frage stellt, ist eine Wirklichkeit, die letztlich das Leben als Betrug und ausschliessliches Kosten-Nutzen-Verhältnis interpretiert. Neben dem Traumgefängnis ist das Land ohne Traum auch eine Traumklinik, die verkrüppelte Traumseelen beherbergt. Der Stoff, aus dem die Träume sind, wird in diesem Land nicht gewoben und wer hierzulande träumt, lebt gefährlich. Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, sagt Hölderlin. Wo es aber nichts mehr zu träumen gibt, gibt es auch nichts zu retten. Nihil est.
Caspar Jenny
Geb. 1971 in Basel. Aufgewachsen in Griechenland und im Tessin. Diverse Arbeiten als Kunstmaler, Strassenmusiker, Bahnpostler und Asylbeobachter. Reisen nach Südostasien und Indien. Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Zuletzt Arbeit an einem Gedichtband „Im Rückstoss des Tages“. Lebt in Basel.
LitGes, etcetera Nr. 48/ Traum/ Mai 2012 mehr...