47/Pöbel/ Essay: Kindheit in Österreich. Peter Kaiser

Peter Kaiser
Kindheit in Österreich

Ein Plädoyer für den großen Kindheitsroman im Allgemeinen und Die Voest-Kinder von Elisabeth Reichart im Speziellen.

Die Wiener Tante des Mädchens, die so genannte Akrobatin, hat eine eigene Methode mit der Unbändigkeit ihres Sohnes umzugehen. Man nehme einen Kübel voll mit Wasser und stecke den Kopf des Kindes so lange hinein, bis die Dummheit aus ihm heraus rinnt.

Plötzlich bekommt der Wasserkübel in der Küche zuhause für das Mädchen eine neue Bedeutung und die von ihr verzweifelt geliebte Mutter scheint ernsthaft zu überlegen… All die Ermahnungen, die Bezichtigungen und die Watschen, das alles hat nichts genützt, um dem Mädchen ihre Fantasie, ihre Traumwelt, ihren Wahnsinn, auszutreiben. Sie ist wilder als zehn Buben! Aber dabei wollten die Eltern doch einen Buben. Wer soll das verstehen? Ein Kind? Erziehung mit widersprüchlichen Aussagen ist auch eine Form der schwarzen Pädagogik.

Aber es kommt noch schlimmer. Die katholische Kirche trägt ihren Teil bei. Jesus und die Apostel waren Juden, und Juden haben Jesus ermordet, also hätten alle Juden vergast werden müssen, oder wollen Sie einen Juden als Nachbarn?

Aber Jesus war doch auch…

Vorweg: Wir begleiten die namenlose Familie und das namenlose Mädchen von deren zweiten oder dritten Lebensjahr an bis ans Ende ihrer Volksschulzeit, wo die Lehrerin sie plötzlich zu schikanieren beginnt, weil sie ein Brüderchen bekommen hat, das anders ist als die Kinder in der Wildnis, der neu gebauten Voest-Arbeitersiedlung.

Diese österreichische (Nachkriegs-) Geschichte beginnt in der Vorstadt. In einer Wohnung, wo noch getanzt und musiziert wird. Die Großeltern sind in Reichweite. Auch die Wiener Tante. Leider.

Die österreichischen Gebräuche und Traditionen sind schwer zu verstehen, vor allem für ein Mädchen, das in dieser Welt nicht sehr viel zu gelten scheint.

Fragen sind nicht erwünscht und die Wahrheit verlauten zu lassen schon gar nicht.

Außer man wird zur Sünderin, als welche sich das Mädchen nach bildendem Kirchenbesuch schon bald selbst bezeichnet.

Glück gibt es am Bauch des Hundes Baldo und im Garten der Großeltern, der von Feen und Kobolden besiedelt ist. Aber eigentlich scheint in der Menschenwelt kein Platz zu sein für ein intelligentes, lebendiges und fantasiebegabtes Kind (welches Kind wäre das nicht, wenn man es ließe?), in dem die Eltern nichts als ihre eigenen ungelebten und verschütteten Träume wieder finden und das Kind genau deswegen ständig quälen. Oder ist es schlicht und einfach die Intelligenz, welche wir abgestumpften und vom Jahrtausende alten Aberglauben verblödeten Erwachsenen den Kindern nicht verzeihen können?

Doch in der elterlichen Vorstadtwohnung kann man trotz Musik scheinbar nicht glücklich sein und so wird später in ein Reihenhaus übersiedelt. Aber zuerst müssen die Instrumente verkauft werden, und auch das Schaukelpferd des Mädchens und deren Puppenhaus, welches der geliebte Großvater geschnitzt hat.

Das muss sein. Damit man in Zukunft glücklich sein kann, müssen jetzt Opfer gebracht werden!

Glück! In einer Siedlung mit den Arbeitern der Herrmann-Göring-Werke, pardon, Voest, und deren Kindern. Da wird auch kein Platz sein für ein Zigeunerbarackenlager in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein paar von den Zigeunern sind scheinbar damals entwischt. Sie sind zwar verstummt, aber Angst herrscht jetzt erst recht vor ihnen. Die Zigeuner sind nämlich auch so etwas wie Juden, schlimmer noch, denn sie essen kleine Kinder. Dabei ist der erste Bub, der das Mädchen ernst nimmt, der ihr Schwimmen beibringt, während der verzweifelt geliebte Vati sie auslacht, ein Zigeuner. Wird er sie essen? … und in dieser Siedlung mit lauter gleichaussehenden Häusern soll ausreichend Platz für das individuelle Glück sein. Ein schwer bezahltes Glück jedenfalls! Elisabeth Reichart schrieb mit Die Voest-Kinder eine klassische Kindheitsgeschichte, welche die österreichische Arbeitergesellschaft der Nachkriegszeit widerspiegelt. Ob dieses Werk autobiografische Züge beinhaltet, ist zur Beurteilung unerheblich. Fakt ist eine authentische Erzählweise, die schlüssig ist und für unzählige Kinder ihre Gültigkeit hat.

So reihen sich Die Voest-Kinder in die große österreichische literarische Tradition des Schreckens, wie man sie in Franz Innerhofers Schöne Tage, in Gernot Wolfgrubers Herrenjahre oder in Thomas Bernhards großer Autobiografie, sowie auch bei Josef Winkler wieder findet. Elisabeth Reichart wurde 1953 in Steyregg in Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Salzburg. Ihre schriftstellerische Tätigkeit umfasst alle literarischen Gattungen. Die oftmals wiederkehrenden Themen sind feministischer, sprachwissenschaftlicher Natur und, wie hier, die Prägungen durch und die Verdrängung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Vielleicht wäre Reicharts Buch, würde es in der Gegenwart angesiedelt sein, keines, das die offensichtliche Brutalität sondern eines, das die Verwahrlosung zum Thema machen würde. Gegen die fröhliche Anarchie der Kinder sind wir Erwachsenen jedenfalls nach wie vor ausnahmslos Faschisten. Dabei haben Eltern den größtmöglichen Startvorteil für ihre Erziehung: Sie werden von den Sprösslingen vom Anbeginn bedingungslos geliebt und - leider auch nachgeahmt!

Wie stark die Identifizierung des Mädchens mit dem unerreichbaren Vater ist, wird im Weiterträumen der Vaterträume sichtbar. Dessen Traumbild seit frühester Jugend ist Afrika. Und obwohl das dem Mädchen nicht dezidiert klar sein kann, wächst in ihr ein unerklärliches Faible für diesen Kontinent mit seiner fantastischen Tierwelt. Schließlich wird der Vater sich im Dienste des feuerspeienden Drachens Voest auf den Weg machen…

Der Zurückgelassenen bleibt nur der Trost und der Zuspruch der geliebten Großmutter. Die Aufgabe des Kindes wird sein, die eigenen Wünsche zu erkennen und verwirklichen zu wollen.

Eine glückliche Kindheit in Geborgenheit und Liebe, wie sie der französische Schriftsteller Marcel Pagnol (1895-1974) in seiner autobiografischen Romantrilogie Eine Kindheit in der Provence (1957-1959) beschreibt, die im Übrigen noch heute in den französischen Schulen zur Pflichtlektüre gehört, scheint im geschrumpften Österreich des 20. Jahrhunderts nicht vorzukommen. Die Erzählungen des steirischen Waldbauernbuben Peter Rosegger aus den Jahren 1875 und 1877 muten dagegen wie klischeehafte Heimatromane an. Die Frage drängt sich auf, ob eine schöne Kindheit in Österreich möglich ist, wenn sie in der Literatur nicht vorkommt? Man denke an Clemens J. Setz’ jüngst erschienen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (Suhrkamp, 2011) oder an Gustav Ernsts Beste Beziehungen (Haymon, 2011), die jeweils ein literarisches Musterexemplar dafür abgeben, dass es in der österreichischen Gesellschaft schwer möglich ist, als glücklicher und normaler Mensch heranzuwachsen.

Die Voest-Kinder sind jedenfalls poetisch und einfühlsam geschrieben und führt uns in unsere längst vergessene und verdrängte Kindheitswelt, mit all ihren kleinen Träumen (Afrika!) und all den großen Ängsten. Die Träume, bei Reichart und ihren Voest-Kindern exemplarisch, sind spätestens mit Schulbeginn ausgeträumt. Wir beginnen endgültig zu begreifen, dass es nicht um unsere Wünsche, sondern um Anpassung geht. Die anerzogenen Ängste begleiten uns manchmal ein Leben lang, lange genug auf jeden Fall, damit wir sie rechtzeitig an unsere Kinder weitergeben können.

 

Elisabeth Reichart: Die Voest-Kinder. Siehe Rezension Eva Riebler

Peter Kaiser
Geb. 1968 in St. Pölten. Gelernter Buchhändler, heute Selbstständiger mit Hang zum Universal-Dilettantismus.
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47/Pöbel/ Essay: Dornröschen. Emmahermine Schiene

Emmahermine Schiene
Dornröschen – oder: wie unser dummer Pöbel meint.

Über die Ungleichzeitigkeit in der Welt. Worauf es im Leben ankommt. Und warum. Ein Versuch. Ärger und Zeitdruck heißen die zwei klapprigen Gäule, die mein Gepäck und mich, meine Gedanken und Worte, zu dieser seltsamen Festung, genannt Themenvorgabe, bringen sollen. Zeitdruck ist mein privates Vergnügen. (Erfuhr ich doch erst drei Wochen vor Einreichschluss von der Möglichkeit an dieser Denk- bzw. Schreibpilgerschaft teilnehmen zu können, nur ein paar Stunden sind mir über - und doch kann ich es nicht sein lassen…) Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Vielleicht hat mich deshalb rasch, noch während des Betrachtens dieser neuschwansteinhaft verschnörkelten Trutzburg aus korrekter Haltung und koketten Denkarabesken, der Ärger zu befallen begonnen. Noch im Verharren vor ihr, während des Abklopfen des Staubes, welcher mich auf der Tage Reisen in Form der sonstigen Denk- & Handlungsnotwendigkeiten bedeckte. Da schon hat sich meinem Erkennen, hinter diesem gleich mehrhundertjährigen dichten dornenreichen Gestrüpp aus falschen oder doch jedenfalls auf Abwege führende Denkbahnen, das Wesentliche herauszuschälen begonnen. (Für jene, die nichts vom gegebenen Thema, von der hinleitenden Vorgabe wissen: Um den Pöbel, die Masse, welche oft für dumm gesetzt, um das Herkommen des einleitenden Zitates, welches aus einem Musikstück Glucks entnommen, das wiederum in seinem Zeitgeist westliche Sehnsüchte nach dem Orient verkörpere, und so einen Verweis ins Heute lege, zum arabischen Frühling, zur Weltwirtschaftskrise, zur Xenophobie, zur Bürgerbeteiligung - und so in etwa, kreist die vorgehängte Themenkarotte für den / die SchreiberIn.)

Der Pöbel also. Der Dumme. Der Pöbel nimmt wie vermutlich bekannt auf „populus“, also Volk Bezug. Und dumm, weil das Gegenteil von „klug“ – also Elite, also Zugang zu Bildung gehabt haben können. Und schon ist elegantes Abbiegen zum schillernden Begriff Masse möglich. (Warum formale Bildung ein prekäres gesellschaftliches Gut ist, ist hier nicht Thema.) „Die Masse also, wenn sie sich, wehe! in Bewegung setzt.“ Fürwahr! Aber, vielleicht anders als es hier angedacht war? Bei Masse fällt mir übrigens sogleich Menasse ein. Robert Menasse, welcher sich (und welchen ich als Schreiber schätze), nachdem er zuerst ein leidenschaftlicher EU-Basher war, nunmehr, nach dem er sich in die Materie einarbeitet, zum glühenden EU-Befürworter gewandelt hat. Ein prominentes - also öffentliches - Beispiel für Meinungsbildung, deren Qualität und deren Vertretungsvehemenz. Und ein gutes Beispiel, um die Problematik von Masse, nämlich deren Zusammensetzung aus Individuen und deren je ureigensten Motivationen exemplarisch zu veranschaulichen. Also, wer oder was ist „Masse“, und warum ist sie, wie sie ist? Ich will es im Folgenden bei einer locker leichten freihändigen Abhandlungsweise, einem Erörtern anhand mancher durch dieses Thema induzierten Gedanken belassen. Eine baiserhafte Glosse, wenn Sie so wollen ( - Sie wissen, die Zeitnot.):

Man nehme also – die Masse. Die Masse, so meine ich, besteht aus etwas. Eine Baisermasse aus Eiweiß und Zucker.

Jedenfalls. Die Menschenmasse, um die es sich hier wohl handelt, richtig – aus Menschen. Menschen, also Individuen, sind in sozialen Kontexten sozialisiert, in individuellen Kontexten psychisch geprägt. Das heißt, ihre intrinsischen Motive speisen sich zu einem Großteil aus mehr oder weniger hinterfragten WERTEN. Und diese Werte wiederum, es liegt ja schon im Wort, sind etwas wert. Das heißt, sie sind affektiv besetzt. Affekte sind die stärksten Motivatoren der Menschen. Für diese sind wir im Extremfall bereit zu töten. (Im Glücklichen – zu lieben.) Nun sind also, je weniger Menschen reflektiert sind über ihre Grundlagen / Werte, und das sind nun einmal die Meisten, sie die Menschen, über diese Affekte nicht nur manipulierbar, sondern PER SE so etwas wie eine psycho-soziale Bombe, die jederzeit hochgehen kann. (Und selbst jene, die sich viele Jahre schon um eine Bewusstwerdung bemühen, sind, wenn es darauf ankommt, also wenn sie wirklich an ihren wunden Stellen [und diese können überraschend und beschämend banal sein] berührt werden, kaum in der Lage zuerst einmal möglichst vernünftig zu handeln. Ich bestätige Ihnen das aus eigener Empirie. Falls das für Sie nicht zutreffen sollte.) Wie es so schön heißt, „die Schicht der Zivilisation ist dünn“. Und da gehen wir einmal davon aus, dass es eine solche gibt. Eine „Schicht der Zivilisation“, diese, welche wesentlich durch soziale Ordnungsstrukturen, seien sie clan- oder staatsinduziert, befördert wird. Weshalb das Zusammenbrechen oder vorsätzliche Zerstören auch zumeist Gräuel nach sich zieht. Und weshalb man bei „Maßnahmen“, die man glaubt setzen zu müssen, oder sie unterstützen zu müssen, einigermaßen durchdacht herangehen sollte. (Ich meine, nur ein Beispiel, dass jeder halbwegs begabte Absolvent der Politikwissenschaft mit mehr Verstand an das Thema Irak herangehen hätte müssen als G W Bush. Ordnungsstrukturen zu zerstören, und nicht dafür Sorge zu tragen, dass diese durch andere / bessere ersetzt werden, ist fahrlässig – quasi vorsätzlicher, weil vorhersehbarer - Mord an Zivilisten!)

Von unüberschaubarer Zahl sind die Beispiele für die unglücksbringenden siamesischen Zwillinge Masse & Gewalt. Denn, Affekte haben nämlich auch noch die Tendenz, sich verschieben zu lassen. Aggression und Liebe muss / kann nicht immer dort zurück / wirken, wo sie entsteht, sie lässt sich auch auf andere Objekte / Ziele transformieren und gar manipulieren. Der Mensch in der Menge, der Masse, scheint zusätzlich noch nach eigenen Gesetzlichkeiten zu handeln. Es gibt, wie wohl bekannt, Diverses zum Thema Massenpsychologie. Somit: Ich jedenfalls wünsche mir das nicht, dass „sie sich in Bewegung setzt“, die Masse. Ich plädiere für ein in Bewegungsetzen von Individuen. Aber, siehe oben, auch mit den Individuen ist das so eine Sache. Wofür und Wogegen und Warum ist das Individuum, das dafür undoder dagegen ist, so wie es ist? (Zusätzlich noch: Wer ist denn dieses Individuum? Weil vom Formieren, von Parteien die Rede. … dazu gleich.) Wofür oder wogegen Individuen so sind, ist – ich bestehe darauf! - im klaren Gegensatz zur „rational choice theorie“ - ist mitnichten ein rationaler Prozess!

Oder, jedenfalls nur insofern, als er innerhalb der im jeweiligen Individuum gesetzten / vorhandenen Auswahlkriterien getätigt werden kann. Da ich weder eine komplexe Darstellung zu den Verkettungen von Wirtschaftssystemen, Krisen von solchen, Unterstützung von Regimen aufgrund Interessenslagen, Konflikten in „Hinterhöfen“ von Großmächten, sozialen Paradigmen (Konkurrenzdenken, Konsumismus), dem offenbar tief verankerten Bedürfnis der Menschen nach sozialer Distinktion, oder der Angst vor „dem Anderen“, Vorstellungen / Entwicklungen zu Sexualmoral, Ästhetischem Empfinden, etc, etc geben kann und will, bescheide ich mich - und kürze hier ab! Aber ich halte ganz explizit fest, dass „ob und inwieweit ein Mensch, die Menschen sich für oder gegen etwas entscheiden können, zu existentiellen Teilen an einer gelungenen Sozialisation, an einer Befähigung sich zu informieren, zu erkennen, zu urteilen, sowie im Vermögen um seine eigenen Emotionen und deren Grundlagen zu wissen“ steht oder fällt. Und dies ist – immer noch - eine zentrale Herausforderung an die Gesellschaft im Gesamten und an jeden Einzelnen an dem Ort, wo er / sie sich befindet, dafür Mitverantwortung zu übernehmen, dass diese Befähigungen sich entwickeln können.

So, jetzt bin ich soweit, dass ich Ihnen erklären kann, was das konkret Ärgerliche im Kontext dieser Themenpotpourri, meiner Interpretation nach, ist. Die angeführten Beispiele der Selbstermächtigung – im Neusprech: „Gründen sozialer Netzwerke“ welcher Art auch immer (Parteien, Revolutionen, Hacker, …) - gehen a) immer von Individuen und b)! immer von Individuen, die GERADE NICHT für die Masse stehen, aus. Außer, eine andere Bedeutung von Masse war gemeint gewesen. Jene, die für soziale Bewegungen steht.

Aber auch dann sind es Individuen, ist es das reflektierende Individuum, das erkennt, und das handelnd einsteht für dieses Erkennen. Das sich und die Folgen seines Handelns immer wieder unter dem Aspekt der Folgen überprüft. Das weiß, warum es denkt, wie es denkt, tut, was es tut – und es auch darlegen kann. Und zwar innerhalb eines Wertekanons, der gemeinhin als humanistisch bezeichnet werden kann. (Nein, leider, ich habe auch keine letztschlüssige, kurze & prägnante neue Ethik zitierbar zur Hand. Deshalb nehme ich auf diesen Begriff Rekurs.) Ja, ich bin vorsichtig, ja skeptisch gegenüber einem blauäugigen Vertrauen in das Gute im Schlichten. Sozusagen. Ja womöglich: um so schlichterer um so guterer. Nein, ich glaube, dass der Mensch nicht umhinkommt sich anzustrengen. Und dass die „einfachen Leut`“ um nichts „besser“ sind, als die „Besseren“. Umgekehrt selbstverständlich auch nicht!!!

Und Sozialromantik geht mir genauso auf die Nerven wie Sozialdarwinismus. Oder wie es so schön heißt: „Ja, es gibt auf jede (komplizierte) Frage eine einfache Antwort. – Aber meistens ist sie falsch!“ Und so wird es sich wohl auch hinsichtlich des Anspruchs an gesellschaftliche Veränderungen, dessen TrägerInnen, verhalten. Ambiguitätstoleranz – also die Fähigkeit, Vieldeutigkeit, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können, und nicht etwas entweder vorbehaltslos für gut oder grundsätzlich für schlecht zu erklären, ist eine Kompetenz, welche äußerst spärlich zu finden ist. Kommt mir vor. Aber vielleicht fehlt mir einfach nur das Eindimensionaldenkenkönnengen.

Und der hier konkret gegebene Themenansatz, die für mich durch ihn zum Ausdruck kommende dahinter stehende Haltung, stellt eben für mich auch so eine Denk- und Wahrnehmungsunschärfe dar. Ärgerlich - und auch in KEINER Sache hilfreich...

Wohingegen der oben angeführte Herr Menasse mich nicht verärgert hat durch sein Umschwenken. Erstaunt schon. Verblüfft auch. (Gut, zugegeben, sein letzter Spektrumbeitrag war schon ein bisschen zum Ärgern. So selbstverliebt und flach. Aber jetzt sind wir quitt. Mit diesem meinen Text.) Zuerst fragte ich mich, wie er, ich war „dank“ meines Politikwissenschaftsstudiums doch etwas eingelesen in die EU-Materie, wie er also denn gar so giftig und unsachlich aber mit Überzeugung rundumspucken konnte.

Dann sah ich eine Differenzierung im Denken, und dachte – „sieh an!“. „Aber geniert er sich jetzt nicht etwas. Und inwieweit ist das Erkennen von Erkennen einem Charakter dienlich. Verleiht ihm womöglich Tiefe?“ Das können nur jene beurteilen, die ihn kennen. Jedenfalls, so meine ich, ist er ja kein Dümmling. Und sein öffentliches Wandeln und Auftreten erlaube ich mir in diesem Kontext als Fallbeispiel per se von Meinungsbildung und Meinungsvertreten beim homo sapiens sapiens in einer seiner schönsten und angenehmsten Formen vorzuführen - und mir damit einen hübschen Abgang. Er, der Meinungsbildungsprozess, geschah und geschieht immerhin auf literarischem Niveau. Unblutig sowieso. Würde es nur immer, in jedem Belang und auf der ganzen Welt so zugehen. Die Zeitungen würden prosperieren.

Die LesebrillenherstellerInnen expandieren. Die Menschen sprächen und schrieben, bis sie vor Erschöpfung einschliefen. Oder von geistiger Vereinigung und Lust überwältigt ins Fleischliche überwechselten. Keiner würde mehr Steine werfen. Niemand mehr zu Tode kommen, sei es durch Waffen oder Verhungern. Sie sehen, auch ich bin eine gesellschaftsromantische Person, irgendwie. Aber, wenn sie jetzt zurecht fragen, was hat das mit der an den Anfang gestellten Ungleichzeitigkeit in der Welt, worauf es im Leben ankommt und warum, zu tun, antworte ich: Nun, festzustellen, dass Entwicklungen, Befindlichkeiten und Annahmen über diese Welt unterschiedlich, also ungleichzeitig sind, und dass das an sich nicht schlecht sein muss, wäre schon einmal ein guter Ansatz. Dass Dinge / Bedingungen zu verhandeln sind, wäre eine gute Strategie. Worauf es ankommt? Sich weniger den Schädel einschlagen zu müssen! Und zu begreifen, dass der Sinn des Lebens genau darin besteht: Das Leben mit Anstand zu bewältigen. Oder wie meine 91jährige Großmutter doziert: „Der Sinn des Lebens?

Der Sinn des Lebens ist das Leben!“ Und Sie wissen doch, nach dem Erwachen des gesamten Hofstaates aus dem 100jährigen Schlaf, verursacht durch des Prinzen Dornenheckendurchdringung, gab es für den Küchenjungen zuerst einmal eine Ohrfeige. Dann aber nahm alles seinen gewohnten Lauf. Ob ich mir durch mein Zetern Ohrfeigen einhandle, einen Stein in der Mauer Ihres Denkens lockern durfte, oder alles einfach nur weitergeht wie bisher? Ich setze aufs Letzte, sattle meine Gäule Zeitdruck und Ärger, ziehe meinen Hut und wandere weiter.

Emmahermine Schiene
Geb. in den mittleren Lagen der 60iger Jahre im schönen grauen Wien. Sozialisiert in kleinbürgerliche Verhältnisse. Schulabbrecherin, Vierfachmutter, ausübende diverser ungelernter Berufe. Studium der Politikwissenschaften. Lohnkutscherin, Teilzeithobbydenkerin, kokette Wortschleudermaschine.
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46/ arbeits-los/ Essay: WorkingClassZero. Hans-Jürgen Hauptmann

Hans-Jürgen Hauptmann
WorkingClassZero

Wie kann man heute einen Artikel über Arbeit beginnen?

„Empört Euch!“, schlägt der Schriftsteller Stéphane Hessel im Titel seiner vor kurzem erschienenen Streitschrift gegen den Finanzkapitalismus vor. Klingt ohne weiteres vernünftig. Auch für dieses Thema. Funktioniert aber leider nicht. Nicht mehr. Im jahrelangen Verharren in der Dauerempörung über alle möglichen Unmöglichkeiten ist mir jeder Sinn von Emphase verloren gegangen. Und der übrig gebliebene Zustand von permanenter Gereiztheit lässt sich bedauerlicherweise nicht zu einer leidenschaftlichen Gefühlsaufwallung zusammensparen. Abgesehen davon hat Empörung immer auch etwas von trotzigem Selbstmitleid, das aus den Tiefenschichten einer schwelenden Ohnmacht emporsteigt.

Was ist Arbeit überhaupt?

Das Tippen dieser Buchstaben? Ist das Beugen des Fingers schon Arbeit? Das Runzeln der Stirn? Arbeit ist das Produkt aus Kraft mal Weg (habe ich in der Schule einst gelernt). Ihre Einheit ist der Energiewert Joule. Sein bekannteres Äquivalent ist der Verbrauchswert Kalorie. Arbeit ist der Verbrauch von Kalorien. Ich lebe, also arbeite ich. Würde unsere Gesellschaftsform Physik heißen, wäre das nicht nur ein guter Beginn, sondern eine erschöpfende Weltanschauung.

Im richtigen Leben sind diese Zeilen aber nichts wert. Sie werden nämlich nicht bezahlt. Alle hier gedruckten Gedanken sind das Produkt einer kostenlosen Anstrengung. Sie werden völlig umsonst gemacht. Und wenn Sie das lesen, werden sie sich im Nachhinein ärgern, weil Sie feststellen werden, dass auch das umsonst gewesen sein wird. Genauso wie das Führen des Haushalts, das Erziehen der Kinder, freiwilliges soziales Engagement – was nicht bezahlt wird, ist keine Arbeit. Das klingt schon vertrauter nach unserer Gesellschaft. So vertraut, dass nur unverbesserlich obskure Geister auf die Idee kommen können, es könnte jemals anders sein. Oder gewesen sein.

Im Juli dieses Jahres inszenierte die Regisseurin Fanny Brunner auf dem Fabriksgelände der Evonik Para-Chemie in Gramatneusiedl/Niederösterreich ein Theaterstück zum Thema Arbeit. Der Ort wurde nicht zufällig gewählt, sondern war schon einmal die Kulisse für ein alarmierendes Stück Arbeits-Realität: 1930 wurde die Textilfabrik Marienthal gewissermaßen von einem Tag auf den anderen geschlossen.

Ein ganzer Ort wurde damit über Nacht arbeitslos. Und das nur etwas mehr als 100 Jahre, nachdem die Industrielle Revolution ihre einschneidenden Umwälzungen zu einem flächendeckenden Fundament für die weitere Geschichte der westlichen Welt ausgebreitet hatte. In Marienthal konnten die Menschen damals durch die ersten größeren Risse dieses neuen Zeit- und Seinsgefüges schauen und was sie zu sehen bekamen war: Leere. Wie existentiell und bedrohlich diese Leere werden konnte, kann man sehr schön im Bericht „Die Arbeitslosen von Marienthal“ nachlesen, einer soziographischen Studie unter der Leitung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat und den Ort Marienthal weltweit bekannt machte. Wie stark sich diese Leere seit damals ausgebreitet hat und noch weiter ausbreiten wird, dürfen wir zurzeit selbst erleben.

Als Dramaturg besagter Produktion hatte ich die Gelegenheit, mich tief in diese Leere zu versenken – ein Manöver, das mit ambivalenten Gefühlen verbunden war, weil ich ahnte, dass irgendwo da unten meine eigenen Ängste auf mich warteten: zwischen all den Menschen ohne Job, mit ihren Enttäuschungen und Hoffnungen, bröckelnden Träumen, Verzagtheiten. Familien, denen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen abhanden kamen. Kinder, die ihre Wünsche nur noch im Konjunktiv Irrealis, also in der Unmöglichkeitsform formulieren konnten. Biographien, die von der Zukunft im Stich gelassen worden waren.

Tragisch berührend und doch grotesk – dass Menschen den Verlust von Bedingungen betrauerten, in die sie noch zu Beginn des Industriezeitalters teils mit bizarren Methoden gezwungen werden mussten: Es gibt Berichte aus Amsterdam, denen zufolge Arbeitsunwillige in Verliese gesperrt wurden, in die Wasser floss und binnen weniger Stunden zum Ertrinken aller Eingeschlossenen geführt hätte – nur über das Bedienen einer mechanischen Apparatur konnte das einströmende Wasser wieder abgepumpt und so das Ertrinken verhindert werden. Damit sollten die notorisch Faulen an Arbeit „gewöhnt“ werden. „Eine ‚Maßnahme‘ würde man das heute nennen. Disziplin muss sein. Noch mal 150 Jahre später lohnt sich das Dressieren richtig: Die Industrielle Revolution beginnt. Man braucht massenhaft Arbeitskräfte. Die ersten Fabrikarbeiter gelten ihren Zeitgenossen als schwachsinnig, tumb. Mit denen kann man alles machen. Und man tut es. Ein paar Jahrzehnte wird es noch dauern. Dann hält man die idiotische Routine für ‚normal‘. Bis heute.“ Schreibt Wolf Lotter in einem bissigen Beitrag zum selben Thema in der brandeins Schwerpunktausgabe über Arbeit 2009.

Ganz offensichtlich hat sich hier innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit der Arbeitsbegriff diametral gewandelt: von Zumutung und Qual zur conditio humana?

Es ist wirklich mehr als erstaunlich, wie ein Wort, dessen sprachliche Wurzeln auf das germanische „arba“ (= Knecht), sowie vermutlich auch auf das ebenfalls germanische verb „arbejo“ mit der Bedeutung „bin verwaistes und daher aus Not zu harter Arbeit gezwungenes Kind“, zurückgehen, von dem weiters „arbejidiz“ (= Mühsal, Not) abgeleitet wird und schließlich zum althochdeutschen „arbeit“ wird, wie also aus einem Begriff, der seit Vorzeiten für Mühsal, Plage, Leid und Erdulden stand, ein positiv besetztes, fundamentales Selbstidentifikationsmerkmal für den modernen Menschen werden konnte. Ich arbeite, also lebe ich.

Das Cover der brandeins Schwerpunktausgabe titelte passend dazu mit präziser Ironie:

Treffen sich zwei Ameisen. Fragt die eine: „Und – was machen Sie so?“ Sagt die andere: „Sie meinen beruflich?“ – Damit wäre alles gesagt. Und doch nichts gewonnen.

Dass der Durchbruch der Universal-Schablone „Arbeit“ zum unbestrittenen Superstar unter den gesellschaftlich anerkannten Integrations-Existentialien zu einer Zeit erfolgte, in der sich das Ablaufdatum schon deutlich abzuzeichnen begann, nimmt sich da nur noch als skurrile Randnotiz aus.

Die Arbeitsgesellschaft laborierte jedenfalls eifrig an ihrer eigenen Ablöse: Hinter der Chiffre Wohlstandsmaximierung rüstete sich eine immer stärker durchrationalisierte Industrie für den Ernstfall dessen, was später unter Neoliberalismus zur totalen Kriegserklärung werden sollte. Wir sind „eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht.“, zieht Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Buch „Vita activa“ Bilanz über einen unaufhaltsamen Trend. Das hatte Marx wohl ein wenig übersehen, als er trotz luzider Analyse der Produktionsbedingungen (was hier synonym mit Übervorteilungsbeschleunigung gesetzt werden kann) den Arbeiter als Hoffnungsträger einer gerechteren Welt beschwor.

1995 schlägt Jeremy Rifkin mit seinem Buch „Das Ende der Arbeit“ nochmals mit großer Wucht in dieselbe Kerbe wie Arendt und unzählige andere Autoren davor; beschreibt die perversen Produktionsmechanismen, die immer höher werdenden Gewinne, den sukzessiven Abbau von Verantwortungszuständigkeiten, die immer stärker in Bedrängnis geratenden Erfüllungsgehilfen mit ihren immer sinnleerer werdenden Aufgaben in ihren verhängnisvollen Abhängigkeiten; und obwohl er genau den Nerv zu treffen scheint – der historisch verflachste Strang lässt sich einfach nicht durchtrennen. Vielleicht hat er deshalb dem Buchtitel zur Sicherheit auch den kleingedruckten Satz zur Seite gestellt: „… und ihre Zukunft“.

Worin diese Zukunft genau besteht, bleibt nach wie vor die große Frage, die umso drängender wird, je weniger man weiß, was darunter überhaupt noch zu verstehen ist. In dieser zunehmenden Unschärfe verschwimmen nämlich allmählich zwei separate Interessensgebiete zu einer einzigen Silhouette: die Entwicklung des Kapitalismus und die Entwicklung des Individuums. Da aber die Entwicklung des Kapitalismus angeblich der Entwicklung des Individuums dienen soll, subsumiert man letztere gerne unter erstere und gibt diesem Taschenspielertrick Namen wie etwa Wohlstandsgesellschaft.

Lange haben die Leute daran geglaubt (und eine Zeit lang haben angeblich sogar welche darin gelebt). Und sie würden es wohl heute noch, wenn nicht eine sich rapid öffnende Schere diese Verschmelzungsillusion soweit auseinanderspreizen würde, dass sie durch alle Verklärung hindurch plötzlich wieder in ihren zwei Bestandteilen gegenüberstehend erkennbar wird: Wohlstand oder Gesellschaft. (Je nachdem, von welcher Seite man auf die jeweils andere blickt.) Wie weit sich die beiden noch entfremden werden, bleibt abzuwarten. Durch die bereits real vollzogene Trennung wird der Arbeitsbegriff allerdings wieder frei für neue Besetzungen und somit auch für neue Fragestellungen. Auf der gesellschaftsrelevanten Seite tauchen plötzlich Konzepte wie Selbstverwirklichung, Zufriedenheit und Glück auf, die auch alternative Orientierungsmaßstäbe für den Wert von Leistung jenseits (oder zumindest abseits) der Bezahlung wichtiger werden lassen. Und wenn sich vor diesem Hintergrund sogar der Begriff Arbeitslosigkeit aus dem paranoid motivierten Pauschalverdacht des Schmarotzens herauszulösen beginnt und dabei empathische Zugänge in die Sinn stiftenden Dimensionen seines funktionalen Gegenteils offenbart, sind wir mitten in einer Neubestimmung dessen, was Arbeit grundlegend für den Menschen bedeutet, vielleicht seit je bedeutet hat und deshalb auch immer bedeuten wird.

Der Wiener Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack schlägt vor, Arbeit generell als jene Tätigkeit zu bezeichnen, die wahrgenommene Mängel oder Unzufriedenheiten mit gegebenen Zuständen zum Verschwinden bringen soll. Es handelt sich demnach um ein aktives Gestalten der eigenen Umwelt. Die Tragweite dieser Definition ist kaum zu überschätzen. Wenn wir ihr gesellschaftliche Kohärenz zubilligen – und es spricht vieles dafür – dann haben wir einen Schlüssel zum wesentlichen Verständnis für die Hartnäckigkeit dieses allen Unkenrufen und wirtschaftlichen Bemühungen zum Trotz unausrottbaren Arbeitsbegriffs. Er ist nämlich nicht nur ein Begleitphänomen der menschlichen Entwicklung, sondern er ist geradezu ihr Vehikel. Mit dem ersten Schritt des Menschen aus der Ausgeliefertheit an eine Umwelt hinaus in eine selbst gestaltete Lebenswelt wird eine Dynamik in Gang gebracht, die man als Anlaufbewegung für einen evolutionären Quantensprung bezeichnen darf. Die immer raffinierter werdende Welterschließung erfordert immer komplexere Organisations- und Kommunikationsformen, die wiederum die geistige Entwicklung radikal vorantreiben, woraus immer höhere Ordnungen entstehen, bis schließlich die Gesamtbewegung als solche in den Fokus der gestaltenden Aneignung zu rücken beginnt. Den Fluchtpunkt dieser anthropologischen Entwicklung kennen wir unter dem Namen Autonomie, und das Programm, welches sich diesem Ziel verschrieben hat, wurde einst Aufklärung genannt.

Womit wir es in der gegenwärtigen Arbeitsdiskussion zu tun haben, scheinen massive Unterströmungen dieser Entwicklung zu sein, die das ganze Projekt in eine abwegige Richtung driften lassen. Die daraus resultierende Schieflage lässt sich mittlerweile nicht einmal mehr von Politikern geradereden. Welchen Handlungsbedarf sie daraus ableiten, wird zumindest Einfluss auf die Entwicklung der sich immer stärker formierenden Protestbewegung haben, aber stoppen wird er sie nicht mehr können. Es ist eine Generation übersehen worden, die reif scheint, das ideelle Vermächtnis der Arbeiterklasse anzutreten. Und sie werden sich dabei nicht damit zufrieden geben, sich in der Bedeutungslosigkeit einzurichten und ihre Ohnmacht mit Empörung zu tapezieren, sondern sie werden für eine gerechtere Verteilung von Arbeit, Geld und Verantwortung auch bereit sein zu kämpfen.

Ich habe an den Anfang meiner Überlegungen die Frage gestellt, wie man einen Artiel über Arbeit heute beginnen könne, und mir sind im Zuge meiner Recherchen für das Theaterstück unzählige Varianten untergekommen und teilweise sogar richtig gute. Aber ich glaube es gibt nur eine Möglichkeit, wie man heute einen Artikel über Arbeit enden lassen kann. Eine schöne Formulierung dafür habe ich bei Robert Menasse gefunden: „Eines Tages werden Steine schweben und Worte kein Gewicht mehr haben.“

Hans-Jürgen Hauptmann
Geb. 1976 in Eisenstadt; Dramaturg und Kellner in Wien; leitet gemeinsam mit der Regisseurin Fanny Brunner das Theaterprojekt dreizehnterjanuar, das im Rahmen des Viertelfestivals Niederösterreich 2011 das Stück „Guter Morgen Marienthal“ zur Uraufführung brachte; derzeit Arbeit an einer Fortsetzung (mögliche Zukunftsszenarien von Arbeit), die im Dezember 2011 in der Garage X, Wien, Premiere haben wird. Infos unter: www.dreizehnterjanuar.com

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