73/Höhle/Textprobe: Marie und der Bär

Marie und der Bär
(ein modernes Märchen)

Es war einmal eine Fleischfachverkäuferin. Sie hieß Marie und hatte große Freude an ihrer Arbeit. Jeden Morgen holte sie das Fleisch und die Wurstwaren aus dem Kühlraum und räumte alles, was die Metzgerei feilbot, in die Ladentheke. Einen besonderen Platz bekam die Spezialität des Hauses: Der Kräuterfleischkäse. Dieser war der ganze Stolz der Metzgerei, im ganzen Land gab es keinen besseren, das Rezept dafür war streng geheim. Jeden Morgen ganz zum Schluss, wenn alles andere vorbereitet war, legte Marie den Fleischkäse auf einen schönen Teller und stellte diesen auf ein Podest ganz vorne in der Theke, dann schloss sie den Laden auf.Eines Morgens aber trat der Fleischermeister hinzu, genau in dem Moment, als sie den Fleischkäse auf den Teller legen wollte, blickte mit finsterer Miene in die Auslage und sagte mürrisch: „Das ist der letzte. Der Majoran ist alle und ohne Majoran kein Fleischkäse. Geh und besorge mir welchen, aber keinen gewöhnlichen. Nur der Majoran von der Wildkräuterwiese auf der Lichtung im Bannwald taugt für unser Produkt. Also zieh ab, ohne das Kraut brauchst du gar nicht erst wiederkommen.“ mehr...

Fortsetzung von Seite 48 „etcetera 65 Holz” Waidmannsheil von Jörn Birkholz

Fortsetzung von Seite 48 „etcetera 65 Holz” Waidmannsheil von Jörn Birkholz

»Ich hab doch gar nichts gesagt.«
»Ich kenn dich.«
»Was heißt du kennst mich? Wir sind doch gerade erst angekommen.Glaubst du, ich fahre zwei Stunden mit dem Zug, um dann bloß zwei Minuten hierzubleiben.«
»Jaja, ist ja gut. Ich sage ja auch nur, dass ich hier lange bleiben möchte.«
»Was verstehst du unter lange?«
»Boże, es geht wieder los, das typisch deutsche kommt zum Vorschein … ihr Deutschen müsst auch immer alles genau wissen. Am besten noch auf die Minute … Und natürlich überall Wanderkarten aufstellen.«
»Jetzt übertreib mal nicht, ich wollte nur wissen, was für dich lange bedeutet?« Leicht sarkastisch blickte Iza mich an.
»Zwischen zwei und zwanzig Stunden«, verkündete sie lachend und trottete weiter.
»Sehr witzig Baby.«

Wir wanderten. Es war relativ anstrengend, ständig stolperte man über verdammte Baumwurzeln, überall Insekten, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich wollte Iza wenigstens ein bisschen den Naturburschen vorgaukeln. Sie hatte es wahrscheinlich schon nach fünf Minuten durchschaut, fand es anscheinend aber niedlich oder sonst was. Iza akklimatisierte sich recht schnell. Sie ging vor. Elegant bewegte sie sich durch den Wald, wich geschickt Hindernissen aus – im Gegensatz zu mir, dem ständig die Äste in die Fresse knallten, die Iza zuvor zur Seite gebogen hatte. »Wollen wir nicht auf den Weg zurück?«, fragte ich, nachdem ich auch noch durch ein Spinnennetz hindurchgelaufen war, das Iza, obwohl sie vorausging, aus unerklärlichen Gründen verschont hatte.
»Das ist doch der Weg«, erwiderte sie lachend.
»Ja, mag sein, aber schon recht schmal.«
»Ich hab kein Bock, auf diesen Touristenwegen zu laufen. Da kommen dann auch immer irgendwelche Leute, das zerstört die Atmosphäre.«
»Ich hab noch niemanden gesehen.«
»Ja, weil wir hier laufen.«
»Vorher auch nicht, hier ist überhaupt niemand.«
»Ja, ist doch toll«, jauchzte sie. Sie war glücklich, es gefiel ihr wirklich, einfach sinnlos durchs Gestrüpp zu latschen. Und es war mittlerweile heiß. Durst.
»Ham wir noch genug Wasser?«
»Die eins Komma fünf Liter ist noch halb voll. Hast Du schon wieder Durst?«
Einen Moment fühlte ich mich ertappt wie ein kleines nörgelndes Kind.
»Nein, geht schon, wollt’s nur wissen.«
»Du kannst ruhig trinken.«
»Ich brauch nichts.«
»Wie du willst.«

Wir wanderten weiter. Irgendwann entdeckte Iza etwas neben einem vermoderten Baumstumpf.
»Schau mal.«
Sie wies auf den Boden und bückte sich hinunter.
»Was ist das?«
»Ich glaub das sind Pilze.«
»Pilze?«
»Ja, bin mir ziemlich sicher.«
»Das sollen Pilze sein. Diese kleinen Klumpen sehen eher aus, wie etwas das aus irgendeinem Tier kam.«
»Nein, wirklich. Schade, dass mein Bruder jetzt nicht hier ist, der kennt sich mit sowas aus.«
»Mit sowas?«
»Ja, du Depp, das hier sind sicher keine Champions oder Pfifferlinge«, lachte sie.
»Pfifferlinge würde ich wahrscheinlich auch nicht erkennen
… Gib mal bitte die Wasserflasche.«
Sie reichte sie mir. Ich nahm einen kräftigen Schluck.
»Mein Bruder hat ständig irgendwelche Pilze aus’m Wald angeschleppt und sie dann getrocknet.«
»Aha«, sagte ich und rülpste.
»Ja, Alkohol konnten wir uns in Polen nämlich nicht immer leisten, da brauchte man Alternativen … Hast du nie Pilze genommen?«
»Um ehrlich zu sein, nein.«
Sie schaute herauf, und leicht lächelnd verdrehte sie die Augen.
»Tut mir leid, dass ich keine wilde Drogenvergangenheit hinter mir habe«, raunte ich.
»Drogenvergangenheit?! Bist du bescheuert, Pilze haben sich in Polen fast alle reingezogen, wie gesagt Alkohol war teuer, nicht so wie hier bei euch. Wir hatten damals für sowaseinfach keine Kohle.«
»Hm.«
»Trotzdem war’s ne tolle Zeit«, schwärmte sie.
»Ach, und unsere Zeit ist schlecht jetzt oder was?«, ließ ich mich hinreißen zu schmollen. Sie pflückte die Pilze und stand auf.
»Idiot«, lächelte sie und küsste mich auf die Wange. Ich war besänftigt. So schnell konnte das gehen.
»Und, wollen wir?«, fragte sie dann.
»Was?«
»Na, die Teile nehmen.«
»Mit nach Hause?«
»Stell dich nicht dümmer, als du bist … essen!«
»Jetzt?!«
»Ja, wann sonst, Weihnachten bei deinen Eltern?« Iza musste lachen bei der Vorstellung.
»Müssen, die nicht getrocknet werden?«
»Egal, das geht auch so … dann ist die Wirkung auch stärker. «
»Die Wirkung?! Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was das für Pilze sind – vorausgesetzt das sind überhaupt Pilze.«
»Natürlich sind das Pilze.«
»Schön, von mir aus, aber du weißt nicht was für welche? «
»Mein Bruder würde es sofort wissen.«
»Ja, der ist aber jetzt nicht hier, wie du vielleicht gemerkt hast.«
»Also willst du nicht?«
»Darum geht’s nicht, nur …«
»Du wirst schon nicht sterben, wahrscheinlich passiert gar nichts.«
»Dann können wir’s ja auch lassen. Die Teile sehen auch nicht gerade sehr lecker aus.«
»Lecker?! Natürlich sind die nicht lecker!« Sie lachte, und ich fühlte mich wie ein kleiner Junge.
»Na gut, dann gib halt her.«
»Du musst nicht«, sagte sie und hatte sich schon drei in den Mund gesteckt. Es gab kein Zurück mehr. Ich nahm mir die vier übrig gebliebenen und schob sie mir rein. Mir war, als würde ich auf einem alten Putzlappen herumkauen, dazu schmeckte es unbeschreiblich bitter. Ich hätte die Teile am liebsten wieder ausgespuckt, aber ich wollte mir vor Iza keine Blöße geben. Nur sehr mühsam konnte ich das Zeug schließlich mit einem ordentlichen Schluck Mineralwasser herunter spülen. Iza schien es weniger Mühe bereitet zu haben; sie schluckte den zerkauten Brei einfach runter und brauchte nicht mal Wasser. Hoffentlich hatte sie Recht, und es passierte gar nichts. Die ersten Minuten beobachtete ich ängstlich meinen Zustand, doch es geschah tatsächlich nichts, ich fühlte mich normal, und es ging mir gut. Auch Iza war nicht das Geringste anzumerken. Ich registrierte, dass sich meine Laune sogar verbesserte. Glück gehabt. Wir wanderten weiter durch den Wald. Nach einer halben Stunde hatte ich die Pilze schon fast vergessen. Irgendwann begann ich herumzualbern und leicht herumzutänzeln. Ich hüpfte über Baumstümpfe, und trommelte mit zwei Stöckern gegen die Fichten. Iza lachte. Dann grölte ich, und äffte die Vögel nach, die um uns herum piepten und kreischten. Iza lachte noch lauter.
»Merkst du etwa was?«, fragte ich um sie herumtanzend,
»bei mir ist nichts.«
»Ein kleines bisschen«, bemerkte sie durchtrieben lächelnd.
»Bei mir ist nix, garrrrrrrr nix, üüüüüberhaupt niiiix!!«
Sie lachte und knuffte mir in die Seite. Ich fing jetzt an zu Jodeln, und ging dann zu Brunftschreien über. Iza bepisste sich vor Lachen. Nach einer Weile wurde mir schwindelig. Es war allerdings kein normaler Schwindel. Es war der Wald, nicht ich. Der Wald fiel um, er kippte nach hinten weg, wie eine billige Filmkulisse. Anfangs amüsierte es mich, und ich schrie:
»Baby schau, der Wald fällt um! Der Wald fällt um!!«
Ich hörte Iza lachen, aber es klang schon etwas entfernt.
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58/Niemand/Achim Kuch: Im Zug

Achim Kuch

Im Zug

Ich wurde vergewaltigt, sagte das kleine Mädchen, in Bosnien, in meiner Heimat, als ich 24 war. Die ganze Verwandtschaft hatte sie mitgeholt, damals, aus Bosnien. Nach den Erschießungen. Irgendwie hatte sie etwas tun müssen. Draußen, vor dem großen Panoramafenster, zog fremde Landschaft vorbei. Wo sind wir, wollte das Kleine, das neben ihr saß, wissen. Wir sind bald da, antwortete, kaum hörbar, die Mutter. Und tätschelte mit ihrem Blick, jenem Blick, der dem aufmerksamen Beobachter vertraut ist, wenn er in Städten beim Joggen an belebten Spielplätzen vorüber kommt, ihren Bauch. Ganz gedankenversunken. Eine kleine Familie, so, wie jetzt, das hab ich mir immer gewünscht. Mutter, ja, murmelte die andere halbwüchsige Tochter vor sich hin. Sie war genervt davon, dass immer gerade dann, wenn sie selbst sich zu entspannen begann, eine andere Person in ihrer eigenen Vergangenheit herumwühlen musste. Die Tür öffnete sich. Die ältere Dame, die sich einige Minuten zuvor kurz in Richtung Toilette entfernt hatte, kam in Begleitung des Schaffners zurück. Reflexartig nahm die junge Frau die Füße vom Tisch. Der Schaffner sprach sie an. Sie griff in die linke Manteltasche, kramte ihr Portemonnaie heraus. Ja, stimmt, ich möchte nachlösen. Sagte sie. Einmal, bitte, mit Bahncard 25. In die nächste Großstadt. Ja, nur eine Person. Oder sehen Sie hier vielleicht noch jemand anderen?


Achim Kuch
Geb. 1969. Philosoph. Lyriker. Dichter. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Aufsätze und Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden.
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