Ingrid Reichel
Vom Volk zum Mob
Wenn man vom Pöbel spricht, wird man unmittelbar in eine Kontroverse gestoßen. Ist es jene beängstigende, da unkontrollierbar gewordene, graue Masse von Menschen, die als Mob bezeichnet wird und laut Eugen Drewermann* aus Schaulustigen, Voyeuren und Sadisten besteht oder die Masse von verantwortungsbewussten Bürgern, die als Volk gilt und sich ganz nach John Lockes** Auffassung berechtigt gegen Ungerechtigkeiten, Korruption und schlechte Politik auf der Straße empört? Das Wort Pöbel ist ursprünglich vom lateinischen populus und dem altfranzösischen pueble, später peuple für Volk abgeleitet. Dem Pöbel wurde durch seinen Mangel an Bildung der fehlende Sinn für Höheres unterstellt. Seitdem haftet dem Pöbel der pejorative Beigeschmack an.
„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. […] Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann.“ mit diesem Satz beginnt Elias Canettis*** Masse und Macht, ein Werk aus dem Jahr 1960, das in seiner Analyse den Menschen als asoziales und nicht als empathisches Wesen entlarvt. Die Furcht vor Berührung vor dem Fremden bestimmt sein Leben. Allein in der Masse hebt sich die Ungleichheit und daher die Berührungsangst innerhalb der Masse auf.
Die so gewonnene Macht der Masse richtet sich gegen das umso deutlicher gewordene Fremde außerhalb der Masse, die es fortan um das eigene Überleben zu gewährleisten, zu vernichten gilt. Wenn wir also vom Pöbel sprechen, so gehen wir von einer Masse von Menschen aus, die mit der Eigenschaft der Zerstörungssucht ausgezeichnet ist, gleichgültig dem Ansinnen gegenüber, das sie verfolgt.
Die von Gustave Le Bon entwickelte und später von Sigmund Freud weiterverfolgte These der Massenpsychologie war für Canetti vermutlich unzureichend, da weder zwischen spontaner Massenbewegung und hierarchisch strukturierten Gruppen unterschieden wurde, noch die libidinöse Bindung an den Führer einer Masse eine Erklärung für die autoritäre Machtstruktur abgaben.
Es ist fraglich, was Le Bon, Freud, Adorno und Canetti mit dem heutigen Wissensstand über die Entfaltung der Massenbewegungen anzufangen gewusst hätten. Die Entwicklung des Internets mit seinem schnellen weltweiten Datentransfer spielt dabei eine wichtige Rolle.
Der Arabische Frühling wäre ohne Internet nicht in dieser Geschwindigkeit entstanden und die Mächtigen dieser Welt fühlen sich machtlos gegenüber dieser neuen Evolution.
Stehen wir in den heutigen Revolutionen nicht dennoch einer „Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten“ (José Ortega y Gasset) gegenüber? Die Revolution hört nicht auf ihre Kinder zu fressen, keine Revolution vermochte die angestrebte Gleichheit und Brüderlichkeit umzusetzen, keine Revolution hatte ein Konzept für danach hervorgebracht, immer wieder ging es nur um Machtablöse. Hatte Canetti mit seiner Annahme der Zerstörungssucht recht? Doch wir alle wollen doch nur glücklich sein. Individuell im Kollektiven ein friedliches und zufriedenes Leben führen.
Trotz der vielen über Jahrhunderte angesammelten Erkenntnisse und der Ergebnisse der schon fast in diesem Zusammenhang pervers anmutenden Glücksforschung sind wir nicht in der Lage nur einen Hauch davon umzusetzen. Sind wir tatsächlich am Ende unserer Entwicklung angelangt, wie es der Evolutionsbiologe Franz M. Wuketits behauptet?
Sind wir gar eine Fehlentwicklung der Evolution, wider Darwins Theorie of the survival of the fittest? Wenn wir nach Höherem streben und doch nur nach MEHR gieren, können wir da den Anspruch erheben, ein Ebenbild der Schöpfung zu sein?
Das Thema Pöbel wirft viele Fragen auf und keine Lösung ist in Sicht.
*katholischer deutscher Theologe, suspendierter Priester, Psychoanalytiker, Schriftsteller und Kirchenkritiker im ZDF Nachtstudio am Sonntag, 05.02.2012, 1:15 Uhr
**Englischer Philosoph, Vordenker der Aufklärung (1632-1704)
***Literatur-Nobelpreisträger 1981 (1905-1994)
LitGes, Editorial etcetera Nr. 47/ März/ Unser dummer Pöbel meint mehr...