47/Pöbel/ Editorial. Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Vom Volk zum Mob

Wenn man vom Pöbel spricht, wird man unmittelbar in eine Kontroverse gestoßen. Ist es jene beängstigende, da unkontrollierbar gewordene, graue Masse von Menschen, die als Mob bezeichnet wird und laut Eugen Drewermann* aus Schaulustigen, Voyeuren und Sadisten besteht oder die Masse von verantwortungsbewussten Bürgern, die als Volk gilt und sich ganz nach John Lockes** Auffassung berechtigt gegen Ungerechtigkeiten, Korruption und schlechte Politik auf der Straße empört? Das Wort Pöbel ist ursprünglich vom lateinischen populus und dem altfranzösischen pueble, später peuple für Volk abgeleitet. Dem Pöbel wurde durch seinen Mangel an Bildung der fehlende Sinn für Höheres unterstellt. Seitdem haftet dem Pöbel der pejorative Beigeschmack an.

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. […] Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann.“ mit diesem Satz beginnt Elias Canettis*** Masse und Macht, ein Werk aus dem Jahr 1960, das in seiner Analyse den Menschen als asoziales und nicht als empathisches Wesen entlarvt. Die Furcht vor Berührung vor dem Fremden bestimmt sein Leben. Allein in der Masse hebt sich die Ungleichheit und daher die Berührungsangst innerhalb der Masse auf.

Die so gewonnene Macht der Masse richtet sich gegen das umso deutlicher gewordene Fremde außerhalb der Masse, die es fortan um das eigene Überleben zu gewährleisten, zu vernichten gilt. Wenn wir also vom Pöbel sprechen, so gehen wir von einer Masse von Menschen aus, die mit der Eigenschaft der Zerstörungssucht ausgezeichnet ist, gleichgültig dem Ansinnen gegenüber, das sie verfolgt.

Die von Gustave Le Bon entwickelte und später von Sigmund Freud weiterverfolgte These der Massenpsychologie war für Canetti vermutlich unzureichend, da weder zwischen spontaner Massenbewegung und hierarchisch strukturierten Gruppen unterschieden wurde, noch die libidinöse Bindung an den Führer einer Masse eine Erklärung für die autoritäre Machtstruktur abgaben.

Es ist fraglich, was Le Bon, Freud, Adorno und Canetti mit dem heutigen Wissensstand über die Entfaltung der Massenbewegungen anzufangen gewusst hätten. Die Entwicklung des Internets mit seinem schnellen weltweiten Datentransfer spielt dabei eine wichtige Rolle.

Der Arabische Frühling wäre ohne Internet nicht in dieser Geschwindigkeit entstanden und die Mächtigen dieser Welt fühlen sich machtlos gegenüber dieser neuen Evolution.

Stehen wir in den heutigen Revolutionen nicht dennoch einer „Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten“ (José Ortega y Gasset) gegenüber? Die Revolution hört nicht auf ihre Kinder zu fressen, keine Revolution vermochte die angestrebte Gleichheit und Brüderlichkeit umzusetzen, keine Revolution hatte ein Konzept für danach hervorgebracht, immer wieder ging es nur um Machtablöse. Hatte Canetti mit seiner Annahme der Zerstörungssucht recht? Doch wir alle wollen doch nur glücklich sein. Individuell im Kollektiven ein friedliches und zufriedenes Leben führen.

Trotz der vielen über Jahrhunderte angesammelten Erkenntnisse und der Ergebnisse der schon fast in diesem Zusammenhang pervers anmutenden Glücksforschung sind wir nicht in der Lage nur einen Hauch davon umzusetzen. Sind wir tatsächlich am Ende unserer Entwicklung angelangt, wie es der Evolutionsbiologe Franz M. Wuketits behauptet?

Sind wir gar eine Fehlentwicklung der Evolution, wider Darwins Theorie of the survival of the fittest? Wenn wir nach Höherem streben und doch nur nach MEHR gieren, können wir da den Anspruch erheben, ein Ebenbild der Schöpfung zu sein?

Das Thema Pöbel wirft viele Fragen auf und keine Lösung ist in Sicht.

*katholischer deutscher Theologe, suspendierter Priester, Psychoanalytiker, Schriftsteller und Kirchenkritiker im ZDF Nachtstudio am Sonntag, 05.02.2012, 1:15 Uhr
**Englischer Philosoph, Vordenker der Aufklärung (1632-1704)
***Literatur-Nobelpreisträger 1981 (1905-1994)

LitGes, Editorial etcetera Nr. 47/ März/ Unser dummer Pöbel meint mehr...

47/Pöbel/ Rede: Rede vor dem Parlament. Harald Jöllinger

Harald Jöllinger
Rede vor dem Parlament

Meine Damen und Herren, ich bin in der glücklichen Lage Ihnen hier ein Budget präsentieren zu dürfen, das unter dem Strich eine schwarze Null, ja meine Damen und Herren, ich sage das in aller Deutlichkeit, das werden sie schon sehen, eine schwarze Null. Und ich will, lassen Sie mich das doch ausführen, und rufen Sie nicht dauernd dazwischen, Sie, Sie sind ja selber lauter Nullen, lauter rote Nullen, wenn ich das so sagen darf. Ich präsentiere Ihnen hier ein ausgeglichenes, und das ist durchgerechnet bis ins letzte Jota, wenn ich das so sagen darf, meine Damen und Herren. Das ist alles durchgerechnet und wir präsentieren Ihnen hier erstmals …

Ach hören Sie doch auf mit Ihren Zwischenrufen, Sie waren es doch, die die Schuldenberge wachsen haben lassen und wir müssen die doch abtragen, diese Berge, diesen Himalaya an Schulden, den Sie, … , Sie haben doch nicht nur Berge hinterlassen, Berge an Schulden, sondern auch Budgetlöcher, und wir, wir müssen nun, wir haben die Aufgabe übernommen, die Löcher im Budget der Schuldenberge zu stopfen. Was rufen Sie schon wieder dazwischen, unlogisch sagen Sie? Bei Ihnen ist die Logik schon längst auf den Hund gekommen, der dann die Schuldenberge hinaufkraxeln muss durch die spärlichen Budgetlöcher, die wir erstmals hier bereit sind zu stopfen. Verstehen Sie? Nicht?

So schauen Sie eh aus.

Sie haben ja nicht mehr alle Tassen in dem Budgetloch, das Sie uns hinterlassen. Und behaupten Sie ja nicht, wir seien es gewesen, die keinen Finger krumm gemacht hätten, wir haben die Finger krumm gemacht, sie zur Faust geballt.

Und mit der geballten Faust haben wir die Löcher gestopft, die sie sich nur aufgerissen haben.

Denn wir haben die Balance gewahrt zwischen dem sozialen Kahlschlag, nein wir haben nichts kahl geschlagen, was von Ihnen nicht verdörrt war, und wir können balancieren auf dem schmalen Grat zwischen kahl und Gießkanne, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Und lassen Sie mich das noch, ja ich komme zum Schlusssatz, lassen Sie mich noch das eine, ein einziges Mal, ein einzigstes Mal, ein allereinzigstes Mal in aller gebotenen Deutlichkeit, damit Sie es auch verstehen, ja ich komme zum Schluss, lassen Sie mich das noch, ja ich verstehe, die Redezeit ist abgelaufen.

Harald Jöllinger
Geb. 1973 in Mödling; schreibt Nonsens, schwarzhumorige Lyrik und Kurzprosa. Er lebt in Maria Enzersdorf.
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46/ arbeits-los/ Editorial: Peter Kaiser & Reinhard Müller

Peter Kaiser & Reinhard Müller
arbeits-los
Editiorale Vorbemerkungen

Manche haben mit ihrer Arbeit das große Los gezogen.

Andere sind sie vielleicht gerade losgeworden und befinden sich nun in einem Zustand, welcher Arbeitslosigkeit genannt wird.

Ist aber tatsächlich nur Arbeit gegen Geld Arbeit und alles andere so etwas wie Freizeitgestaltung? Würden nicht viele Menschen sogar mehr arbeiten, wenn sie das arbeiten könnten, was sie wollten und nicht davon leben müssten? Wie ist es nun mit der Arbeit in der Familie und für das Gemeinwohl, welche man hauptsächlich zum Nutzen der anderen verrichtet? Von welchem Wert sind die Beschäftigungen um der eigenen Entwicklung willen? Ist es noch zeitgemäß, den Wert unserer vielfältigen Tätigkeiten über die Entlohnung, also Geld, zu definieren? Was passiert mit dem Begriff der Arbeit, wenn sich mit ihr das Leben nicht mehr finanzieren lässt, wie in vielen Fällen von prekärer Arbeit?

Es soll gelingen, die Arbeit aus ihrem tradierten Kontext herauszuschälen und wieder zu dem zu machen, was sie in ihrem ureigensten Wesen ist: Nämlich ein Grundbedürfnis des Menschen, und zwar nicht nur aus der Notwendigkeit heraus, sich zu ernähren und zu erhalten, sondern auch und vor allem, sich individuell entwickeln und entfalten zu können.

Was in diesem Heft versucht werden soll, ist also den Begriff der Arbeit zeitgemäß dingfest zu machen und seine Aspekte unter verschiedenen subjektiven und objektivierenden, künstlerischen und wissenschaftlichen Blickwinkeln zu beleuchten.

Dies erfolgt über das künstlerische Werk Josef Schützenhöfers ebenso wie über Geschichte und Bearbeitung der sogenannten Marienthal-Studie von Reinhard Müller, über die Theaterarbeit von Hans-Jürgen Hauptmann, die filmische Bearbeitung von Heide Kouba, eine psychiatrische Betrachtung von Josef Krejcar und selbstverständlich mit vielen literarischen Arbeiten. Und der Arbeitslose L. St. berichtet aus der Innenperspektive eines Betroffenen.

Die letzte klare, bestimmte Funktion des Menschen – Muskeln, die arbeiten wollen. Gehirne, die schaffen wollen über das einfache Bedürfnis hinaus – das ist der Mensch.
John Steinbeck aus Früchte des Zorns
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