LitArena 5
Siegertext 1.Platz
Jessica Lind
35 mm
Die Dosen stapeln sich auf dem Regal. Die Regale stapeln sich an den Wänden und hängen durch. Alle Regale sehen gleich aus. Alle Dosen sehen gleich aus. Wie viele Stunden Filmmaterial? Reicht es für ein ganzes Leben? Oder ein halbes? Ist es denn ein Leben? Nach der metallischen Dose greifen, das Licht abdrehen, das Rotlicht andrehen, den Deckel vorsichtig öffnen und die Negativrolle herausholen.
Zelluloid. Zelluloid ist rissfester als die Realität. Aber nicht die Negativrolle, die Negativrolle ist empfindlich, die Negativrolle muss man vorsichtig in die Entwicklungsmaschine einspannen, es darf kein Fehler passieren. 10 Sekunden wird die Lichthofschutzschicht eingeweicht, innerhalb von 5 Sekunden wird sie entfernt, 180 Sekunden im Entwicklerbad, 30 Sekunden im Stoppbad, 30 Sekunden Wässerung, 180 Sekunden Bleichbad, 120 Sekunden Fixierbad, 10 Sekunden Stabilisierung, 300 Sekunden Trocknung. Die Chemikalien, er riecht sie nicht mehr. Er braucht keinen Messbecher mehr um ihr Verhältnis zueinander abzumessen.
865 Sekunden sind drei Zigarettenlängen, wenn er langsam raucht, oder eine Pfeife. Nervös steigt er von einem Fuß auf den anderen, verbietet sich den wandernden Sekundenzeiger der Uhr an seinem Handgelenk zu beobachten, zwingt sich die Augen zu schließen und öffnet sie doch wieder.
Dann läutet der Wecker und er spannt den Film aus der Maschine, hält ihn gegen das Licht und hofft und bangt, traut sich kaum hinzusehen, ob die Figuren auch wirklich Gestalt annehmen und auch nicht verblassen, ob sie denn Wirklichkeit werden.
Als nächstes die Kopiermaschine. Dann der Schneidetisch.
Die gleichen Handgriffe, Wiederholung, Wiederholung, Entwicklungsmaschine, Kopiermaschine, Schneidetisch. Negativrolle, Kopie, Filmrolle.
Seine Wohnung ist nicht groß, eine Stube, voll gestopft mit Sachen, an denen der süßlich-bittere Geruch der Erinnerung hängt. Die Fenster sind verklebt, kein bisschen Licht darf hereinfallen, das Licht könnte den empfindlichen Negativfilm zerstören, die Bilder ausbleichen, die Erinnerung verblassen. Als Kind hat er von seinem Fenster aus die Leute beobachtet, die vorbeigehen, und sich Geschichten ausgedacht, ihre Gesichter gesucht und sich überlegt, in welcher Einstellungsgröße er sie fotografieren müsste, um ihre Geschichte zu erzählen. Ein Leben in Perspektive, Einstellungsgrößen und Schnitten, nur zweidimensional, Flächen und Striche, nur die Illusion von Dreidimensionalität, nur die Illusion eines Lebens und doch, viel intensiver als jeder wirkliche Moment, verdichtet, schwarz und weiß, monochrom. Wenn es dunkel geworden ist, hat er sich in der Scheibe gespiegelt und sich selbst beobachtet, wie die Menschen am Tag, nur für ihn selbst ist ihm keine Geschichte eingefallen und irgendwann ist er verschwunden, hat sich vor seinen Augen aufgelöst und die Mutter hat an der Tür geklopft und ihn Schlafen gelegt. In der Nacht träumt er in Einstellungsgrößen, Perspektiven und Schnitten. Nur zweidimensional, schwarz und weiß. Monochrom.
Heute sind ihm die Menschen vor seinem Fenster egal.
Längst hat er sie eingefangen, sie und die Geschichten, die er sich für sie ausgedacht hat. Eine ganze Wirklichkeit liegt ihm zu Füßen, nicht nur ein Leben, es sind viele und er kann eintauchen in ihr Leben, er kann in ihrem Leben verschwinden.
Das ist viel schöner, als ein eigenes Leben, denn er ist der Erzähler, er bestimmt, was mit ihnen geschieht, wohin sie gehen und hat ihnen auch schon ein Ende zurecht gelegt und es ist tröstlich, dass auch, wenn es nicht immer jenes ist, das sie sich erhoffen, man immer wieder von Neuem beginnen kann und es wird niemals dieselbe Geschichte sein, denn der Film bannt die Realität, aber die Realität ist unerschöpflich und immer, immer wird ihm ein neues Detail auffallen, das er noch nie bemerkt hat. Wenn er sich schlafen legt ist er nicht nur zufrieden, er ist glücklich und er setzt den Film in seinem Kopf fort, es ist eine unendliche Geschichte. Das Leben ist endlich, ja, und vielleicht sind manche, die er gekannt hat, schon gestorben, wahrscheinlich, denn ewig lebt niemand und doch werden sie ewig leben, nicht wie sie wirklich waren, nicht als sie selbst, aber so, wie er sie gesehen hat, wie er sie in Szene gesetzt hat. Und wenn er stirbt, dann wird auch er nicht tot sein, denn er lässt die Filmrollen zurück. Seine Geschichten, die er nicht nur erzählt hat, er hat sie gefunden, er hat die Welt genommen, wie sie war, und er hat sie verändert. Es ist eine ehrliche Arbeit, aber nur auf den ersten Blick und wenn der Zuschauer es glaubt, dann hat er wirklich gewonnen, aber eigentlich ist alles eine Lüge, eine Illusion, aber eine schöne Lüge, die schönste Lüge der Welt, an die er glauben will und an die er glauben kann, jeden Abend, bevor er schlafen geht und jeden Morgen, wenn er aufwacht, dann sieht er nicht die Welt, wie sie ist, er sieht die Welt als Film.
Die Geschichte beginnt mit einer Idee. Gleichzeitig, alles gleichzeitig. Nicht eine Geschichte nach der anderen, sondern alle Geschichten nebeneinander. Das war nicht immer einfach, dazu gehörte viel Vorbereitung, um nicht den Überblick zu verlieren, aber es ist seine Art Filme zu machen und selbst wenn er gewollt hätte, er hätte es nicht anders gekonnt. Sein Lebenswerk und es ist wirklich sein Lebenswerk, das erst am Ende, ganz zum Schluss, nachdem man auf der schwarzen Leinwand „The End“ lesen kann und nachdem der Rollbalken bis zum Ende durchgelaufen sein wird, aufhört und vorbei ist, wie erst sein Leben enden darf, wenn er den letzten Schnitt getan hat. Gleichzeitig.
Gleichzeitig hat er alle Drehbücher geschrieben, gleichzeitig hat er die Filme gedreht und gleichzeitig entwickelt und schneidet er sie, das ist sein Leben, dreiaktig, wie es sich gehört für einen anständigen Filmemacher. Filme machen, nur das, für mehr war keine Zeit und ist keine Zeit und da wird auch keine Zeit mehr kommen, das wäre ja die größte Illusion, wenn er daran glauben würde.
Das Auge führt den Menschen in die Welt.
Sie ist ihm gleich aufgefallen, sofort ist sie ihm ins Auge gesprungen. Dieses kleine Etwas, zu dem er aufschauen muss, in ihre großen grauen Augen, wenn sie ganz dicht vor ihm steht und sich auch noch auf die Zehenspitzen stellt.
1 Meter 55 Zentimeter Wirklichkeit, 85 Zentimeter auf derkleinen Leinwand, nicht mehr, das reicht, für ihr ganzes Leben.
Er beobachtet sie, wie sie dort sitzt und den Kaffee aus dem überdimensional groß wirkenden Becher trinkt, sich nach jedem Schluck mit der Zunge über die Oberlippe fährt – Detailaufnahme – um das bisschen Schaum abzulecken.
In Großaufnahme sieht er, wie sie die Seiten ihres Notizbuches umblättert und beim Lesen mit ihren schlanken Fingern über die selbstgeschriebenen Zeilen fährt. Der Moment dehnt sich und wird zur Zeitlupe und er beobachtet, wie ihre Uhr um ihr Handgelenk schlackert und sie sich immer wieder die Strähne, die ihr ins Gesicht fällt, zurück hinters Ohr streicht, so, als wäre sie in dieser Zeitschleife gefangen, die sich wieder und wieder aufs Neue wiederholt.
Während er überlegt, wo den nächsten Schnitt setzen, ist sie schon aufgestanden, legt etwas Geld auf den Tisch und packt ihr Notizbuch in die Tasche. Er wagt es nicht die Maschine anzuhalten, zurückzuspulen, mit dem Messer das Zelluloid zu durchschneiden und das Bild zu zerstören. Sie kommt auf ihn zu, den Blick gesenkt, und ist dabei aus dem Bild zu verschwinden, von der Leinwand abzugehen, aber sie wird nicht aus ihr herauskommen, nicht in das Zimmer, sie sind so weit voneinander entfernt, wie es Worte nicht beschreiben können und doch sind sie sich so nah. Kurz bevor sie ganz aus dem Bild verschwunden ist, ihr Blick, kurz, er muss zurückspulen und das Bild einfrieren, um ihn wirklich einzufangen, ihr Blick, kein Zweifel, ihr Blick, der ihn ansieht. Der Blick geht durch sein Gewand, durch sein Fleisch, seine Knochen und sieht, was er wirklich ist. Sieht, was bleibt, wenn alles Andere nicht mehr zählt und verschwunden ist. Ein Schauer erfasst ihn, Ehrlichkeit kann er nicht ertragen, dieses Gefühl kann er nicht ertragen. Er möchte den Projektor aus dem verhängten Fenster werfen, diese seltsame Verbindung durchbrechen, aber stattdessen starrt er zurück, ohne zu blinzeln, ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu bewegen, und sieht nicht sie, sieht vielmehr, was sie sieht, er sieht sich selbst.
Dieser Moment, in dem man sich selbst durch die Augen eines Anderen erkennt, offenbart alles. Und schmerzt ihn wie hundert kleine Nadelstiche. Schmerzt ihn mehr, als die Erinnerung eines ganzen Tages. Diese Augen, die Augen einer Fremden, in denen man sich spiegelt, in denen man sich selbst erkennt, verliert und wieder findet.
In der Nacht kann er nicht einschlafen. Er ist unzufrieden, unglücklich und kann es sich doch nicht erklären. Noch immer hat er ihr Bild vor Augen, das einfach nicht aus seinem Gedächtnis verschwinden möchte. Vogelperspektive: Er wälzt sich von einer Seite zur anderen. Zeitraffer: verschiedene Positionen im Bett in schnellem Wechsel. Er dreht das Licht an, er schaut nach oben. Aber da ist nichts. Keine versteckte Kamera, kein Filmteam. Schlechte Träume. Nichts weiter.
35 mm sind ein schmaler Grat.
Er schläft nicht mehr, er hat Angst, sie könnte verschwinden, wenn er die Augen länger als ein paar Sekunden schließt. Das Bild könnte verblassen und sich schließlich im Nichts auflösen. Über den Vorschaumonitor beobachtet er ihr Gesicht beim Schlafen, er sieht, wie sie die Augen zumacht, irgendwann beginnt sie ruhig zu atmen. Ihre Augen beginnen sich unter den Lidern schnell zu bewegen. Jeder Versuch, sich vorzustellen, wovon sie träumt, ist sinnlos, sie träumt wovon Möbius träumt.
Die Geschichte beginnt mit einer Idee. Gleichzeitig, alles gleichzeitig. Kein Hintereinander, keine lineare Geschichte, die Einheit von Zeit, Raum und Handlung ist aufgelöst. Lediglich der Rhythmus, der Rhythmus muss bleiben und so wird der Film zu einer Symphonie, die Sequenz zum Akkord, das Bild zu einem einzelnen Ton. Die Reproduktion der äußeren Wirklichkeit in einer Variante, durch Auslassung und Verfremdung, durch Wiederholung, Wiederholung, Entwicklungsmaschine, Kopiermaschine, Schneidetisch. Negativrolle, Kopie, Filmrolle.
Er spannt den Film aus der Maschine, hält ihn gegen das Licht und hofft und bangt, traut sich kaum hinzusehen, ob die Figuren auch wirklich Gestalt annehmen und auch nicht verblassen, ob sie denn Wirklichkeit werden. Er hält das Zelluloid gegen das Licht, er nickt zufrieden. Auf dem Bild sieht er sich selbst, wie er das Zelluloid gegen das Licht hält und zufrieden nickt. Auf dem Zelluloid am Zelluloid sieht er sich noch einmal, wie er das Zelluloid gegen das Licht hält.
Es ist ein Endlosbild, Film im Film im Film im Film... Das kann passieren, wenn man zu lange mit der Wirklichkeit spielt, seine eigene Wirklichkeit vergisst. Eine Endlosschleife, eine Möbiusschleife, bei diesem Gedanken muss er lächeln. Er schließt die Augen und sieht das Negativbild als Positiv, wie es sich verflüchtigt, wie es verschwimmt, wie es seine Konturen verliert und nichts bleibt als eine undefinierbare Dichtheit von Nichts.
Er kriecht wieder ins Bett. Ob er morgen noch da sein wird?
Vielleicht wird er zu Staub zerfallen. Vielleicht ist er gar nicht wirklich. Er möchte wissen, ob wir die Wahrheit begreifen können. Er möchte wissen, was die Wahrheit ist. Das Feuer spiegelt sich in der Fensterscheibe der Wohnung. Die Flammen züngeln an der Bettkante. Zelluloid brennt gut. Sein Leben brennt gut. Morgen wird er von vorne anfangen. Er schließt seine Augen. Er sieht sie. Ihr Gesicht ist auf seiner Iris eingebrannt. Er wird sie immer vor Augen haben. Morgen wird alles anders.
etcetera 45/ Oktober 2011/ Litarena 5
Jessica Lind
Geb. 1988 in St. Pölten, Studium der Medientechnik, Schwerpunkt Audio/Video an der FH St. Pölten, Abschluss als Bachelor of Science in Engineering, seit 2010 Buch und Dramaturgie Studium an der Filmakademie Wien. 2009 und 2010 Praktika bei der coop99 Filmproduktion, 2009/10 Hans Weigel Literaturstipendium, 2010 Youngster of Arts Förderungspreis der Stadt St. Pölten, 2010 Gewinnerin des Ö1 Literaturpreises Wörter.See. mehr...