Paul Jaeg: Der Traum von intensiver Arbeit. Klaus Ebner

Paul Jaeg
Der Traum von intensiver Arbeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klaus Ebner sprach mit dem Begründer des Arovell-Verlags Paul Jaeg über den Einklang zwischen der Arbeitsintensität eines Verlags und über seine persönlichen künstlerischen Verwirklichungen. (Gosau und Wien, August 2011)

Paul, Du bist seit Jahren Schriftsteller, Künstler und Musiker, und Du betreibst den Arovell-Verlag in Gosau, der ein reiner Literaturverlag ist. Kürzlich feierte Arovell sein zwanzigjähriges Bestehen. Mit so vielen parallelen Tätigkeiten bist Du zeitlich wahrscheinlich mehr als ausgelastet. Hast Du Dir deinen Weg in den Anfängen so vorgestellt? War eine solch intensive künstlerisch-kulturelle Tätigkeit einmal so etwas wie ein „Lebenstraum“?

Wenn ich träume, dann träume ich von Intensität, ich möchte ein spannendes Leben haben, und 08/15-Wege mag ich nicht. Dass aber alles so schwierig und arbeitsintensiv wird, wie es heute ist, habe ich mir ursprünglich nicht gedacht. In verschiedenen Kunstparten aktiv zu sein und nebenbei noch einen Verlag zu führen, ist schon eine ziemliche Herausforderung, aber es hat auch einen besonderen Reiz.

Verhindert dieser Reiz, dass die intensive Arbeit dann doch eher zum Alptraum wird? Oder hast Du auch Phasen, wo Du am liebsten alles hinschmeißen würdest?

Das Gefühl „jetzt wird es mir echt zu viel“ kenne ich zum Glück nicht. Sogar nächtelange Arbeit macht mir in der Regel nichts aus. Ich kann unter Zeitdruck eine Menge leisten, aber dann benötige ich irgendwann zumindest einen ganzen Tag, an dem ich mich um rein gar nichts kümmern muss. Das ist dann ein guter Ausgleich.

Die künstlerische Produktion ist ja die eine Seite, etwas, wo Du selbst als Künstler tätig bist. Aber der Verlag bringt in erster Linie Bücher von anderen Autoren heraus. Arovell verlegt üblicherweise Texte von Autorinnen und Autoren, die im Literaturbetrieb noch nicht verankert sind, oft auch noch keine eigenständige Buchveröffentlichung vorweisen können. Um bei unserem Leitthema zu bleiben, erfüllst du damit vor allem jungen Autoren gewiss einen Traum. Wie kam es eigentlich dazu, dass Du Dich als Verleger engagierst, obwohl Du diese Zeit auch für die eigene künstlerische Tätigkeit verwenden könntest?

Mir ist bewusst, dass mir die Zeit, die ich in den Verlag stecke, auf der anderen Seite gewissermaßen fehlt. Aber das Ganze ist wie ein Geflecht – das eine hängt sehr stark mit dem anderen zusammen. Und es regt an, intensiver darüber nachzudenken: Wie wirken die Werke auf die Szene oder auf Personen, die nur am Rande daran interessiert sind? Welche Rückmeldungen gibt es? Sind sie für die weitere künstlerische Arbeit brauchbar? Das ist ein höchst intensives Nachdenken.

Wie wird ein österreichischer Kleinverlag, der primär unbekannte Autoren druckt, vom Literaturbetrieb in diesem Land aufgenommen? Gibt es da Unterstützung oder werden einem eher die sprichwörtlichen Prügel zwischen die Beine geworfen?

Die ersten Jahre waren sehr belastend. Ich musste mir einen dicken Hautpanzer zulegen, um nicht aufzugeben. Das „Abblitzen“ war damals mein ständiger Begleiter. Aber es gibt auch Personen, die einem gerne helfen, wenn man sein Anliegen entsprechend vermittelt. Solchen Leuten habe ich viel zu verdanken. Das sind vor allem Personen, die an kulturellen Drehscheiben sitzen und oft mehr Einfluss haben, als sie selber glauben. Die können einem mit kleinen Tipps oder mit einem einzigen Telefonanruf an der richtigen Stelle höchst behilflich sein. Trotzdem gibt es auch Schwierigkeiten, vor allem, wenn ich an den Vertrieb denke: Für Kleinverlage ist es enorm schwer, die Bücher im Buchhandel zu platzieren, unter anderem deshalb, weil wir uns keine Vertriebsmitarbeiter leisten können.

Wie sieht es generell mit der Finanzierung aus? Man muss ja sagen: Auch wenn sich der Traum vom ersten Buch für einen Nachwuchsautor erfüllt, kann er in der Regel lediglich davon träumen, damit auch Geld zu verdienen oder gar seinen Unterhalt zu bestreiten. Niedrige Auflagen und vor allem wenige verkaufte Bücher limitieren andererseits auch den Verlagsumsatz. Wie finanziert sich Arovell?

Fast jeder Verlag in Österreich hat auf der Einnahmenseite finanzielle Unterstützung seitens der öffentlichen Hand sowie sehr wohl Verkaufserlöse über Buchhandlungen und selbstorganisierte Büchertische bei diversen kulturellen Veranstaltungen. Die Ausgaben setzen sich aus vielen Einzelsummen zusammen: Druckkosten, Layout, Lektorat, Büroausgaben, Porto, Umsatzsteuer und Tantiemen. An jedem Jahresende ergibt sich eine Bilanz und die darf zumindest nicht negativ sein. Umgerechnet auf die eigenen Arbeitsstunden ist der Überschuss natürlich so wenig, dass man durchaus schon mal ans Aufgeben denkt. Seit 1990 haben ja tatsächlich viele Kleinverlage das Handtuch geworfen.

Ab und zu kommen im Arovell-Verlag Anthologien heraus, 2011 waren es aufgrund des Jubiläums gleich zwei. Wenn Du eine Anthologie zum Thema „Traum“ zusammenstelltest, welche Art von Texten würdest du da erwarten? Was müsste aus Deiner Sicht unbedingt in eine solche Anthologie hinein und was möchtest Du ganz draußen lassen?

Ich denke, die Texte sollten so sein, dass sie von allen bekannten Traumtexten stark abweichen und eine „eigene Erfindung“ darstellen, und zwar nach Möglichkeit in Form und Inhalt. Darin sollten auf keinen Fall persönlich erlebte oder durchlebte Krankheitsgeschichten, keine billigen Horrorerzählungen und keine rosaroten Wölkchen auf blauem Hintergrund vorkommen. Auch Anleihen aus der Psychologie sehe ich eigentlich als verpönt an. Ich stelle mir starke Geschichten vor, die der Wirklichkeit sehr nahe kommen, aber keine Phantastereien sind, und natürlich niemals ein „und dann wachte ich auf“!

Damit sprichst Du die Schwierigkeit an, als Autor aus einem quasi geträumten Text wieder herauszukommen.

Oder eben deutlich zu machen, dass es sich um einen Traum handelt. Gerade ungeübte Autoren greifen da leicht zu Erklärungen, und das wirkt dann sehr plump. Dazu kommt noch, dass Einleitung und Schlusssatz bei Traumtexten überaus heikel sind.

Du selbst hast Bücher in anderen Verlagen veröffentlicht, auch in Deutschland, publizierst aber zudem im eigenen Arovell-Verlag. Wie kommt es zu dieser Aufteilung?

Ursprünglich wollte ich meine Texte ausnahmslos in anderen Verlagen herausbringen, damit nicht der Eindruck entsteht, ich hätte den Verlag gegründet, um mich selber darin als Autor zu verwirklichen. Meine ersten Bücher erschienen beim blackink Verlag in München. Aber der Gedanke, dass ich diese Texte später nie in einem anderen Verlag drucken könnte, ohne dass Zahlungen für die Rechte anfallen, sowie die Tatsache, dass viel Aufwand wegfällt, wenn ich sozusagen von der Texterstellung bis zum fertigen Produkt alles selber machen und entscheiden kann, haben mich bewogen, meine Texte selber zu verlegen.

Wie verhält es sich mit der Bindung von Autoren an den Verlag? Arbeitet Arovell mit „Hausautoren“ wie große Verlage oder gibt es jedes Jahr neue Autoren?

Rund die Hälfte der neuen Bücher stammt immer von Autoren oder Autorinnen, die schon im Arovell-Verlag publiziert haben. Unser Credo lautet aber: Neuzugänge sind sehr wichtig. Arovell möchte neuen Autoren, wenn sie gute Bücher schreiben, die Möglichkeit geben, ihre ersten Schritte im Literaturbetrieb zu setzen.

Immer wieder wird Kleinverlagen vorgeworfen, am Lektorat zu sparen und dadurch an der Gesamtqualität des Buches. Wie stehst Du dazu?

Es ist grundsätzlich schwierig, Lyrik- und Erzählbände herauszubringen, ohne diese durch höhere Auflagen und Verkaufserlöse aus anderen Sektoren wie Heimat-, Koch- und Bilderbücher querzufinanzieren. Das beschränkt die finanziellen Möglichkeiten. Man muss bedenken, dass ein externes Lektorat – und erst recht ein eigener Mitarbeiter – bei zwanzig Büchern eine Menge Geld kostet; mit dem Verkaufserlös und den bescheidenen Subventionen lassen sich diese Kosten nicht decken. Ich halte es hinsichtlich des Lektorats folgendermaßen: Viele Texte lektoriere ich selber, da ich ohnehin ausgebildeter Hauptschullehrer für Deutsch bin. Bei manchen Manuskripten verlasse ich mich aber allein auf die Sorgfalt und Durchsicht der Autoren und Autorinnen und deren Freunde.

Wo siehst Du den Arovell-Verlag in 20 Jahren? Und wo siehst Du Dich als Künstler in 20 Jahren?

Der Arovell-Verlag wird wohl noch einige Jahre von mir im derzeitigen Umfang weiter betreut werden; das macht noch immer Spaß. Vielleicht wird eines meiner Kinder den Verlag einmal weiterführen. Und auch künstlerisch wird es weitergehen, denn ich habe in meiner Schublade noch viele Träume!

Vielen Dank für das Gespräch.

Paul Jaeg
Geb. 1949 in Gosau, Oberösterreich. Ausgebildeter Hauptschullehrer. Er beschäftigt sich mit Komposition, Bildender Kunst und Literatur. 1999 und 2011 Landesstipendium des Landes Oberösterreich. Jaeg ist Herausgeber des Arovell-Verlages und Kurator des Kunsthauses Deutschvilla in Strobl am Wolfgangsee. Er ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung. Jüngste Publikationen: „Dachstein und Gosautal“, Sachbuch; „hochmotiviert & niederträchtig“, Lyrik und „abtasten oder zuwarten“, Lyrik.

LitGes, etcetera Nr. 48/Traum/Mai 2012 mehr...

Paul Jaeg: Der Traum von intensiver Arbeit. Klaus Ebner

Clemens J. Setz: Von elektrisierenden Vorstellungen. Ingrid Reichel

Clemens J. Setz
Von elektrisierenden Vorstellungen

 
Foto: Paul Schirnhofer  

Nach „Söhne und Planeten“, „Frequenzen“ folgte der Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“, wofür der junge Grazer Autor den Belletristik Preis der Leipziger Buchmesse im März 2011 erhielt. Ingrid Reichel führte das Interview mit Clemens J. Setz per E-Mail im Mai desselben Jahres.

Lieber Clemens Setz, wenn man Ihre Bücher liest, verbindet man damit unweigerlich die Adjektive skurril, surreal, abgedreht bis krank. Ihr letztes Werk „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“, welches aus 18 Erzählungen besteht, scheint hierfür repräsentativ. Sind Sie mit diesen zu Ihrem Werk assoziativen Adjektiven einverstanden?

Es sind sicher keine irreführenden Adjektive, aber sie beleuchten nur eine Seite des Vielecks.

Wie sieht es mit den restlichen drei Ecken aus?

VieLeck.

Ah, ja …

Aber: Ich finde die Geschichten wirklich nicht besonders skurril oder krank. Zumindest sind sie nicht deswegen geschrieben worden. Manchmal sehe ich in ihnen auch kleine best case scenarios. Viele (nicht alle natürlich) haben auch happy ends, in einem gewissen Sinn.

Ihre Protagonisten erweisen sich alle als Anti-Helden, denn sie leiden an Handlungsunfähigkeit - Handlungsunfähigkeit im Sinne der Maßstäbe unserer Gesellschaft. Umso lebendiger werden die alltäglichen Gegenstände. Bin ich richtig in der Annahme, dass das Objekt für das Subjekt steht? (Wie kommt es Ihrer Ansicht nach dazu, dass der Mensch sich selbst eher über Dinge wahrnimmt als über andere Menschen?)

Ich glaube, sehr viele Menschen betrachten sich selbst als Dinge und beziehen aus dieser Vorstellung eine gewisse Stärke, einen gewissen Trost. Einem Ding kann man nicht so leicht Gewalt antun. So ähnlich wie man früher an uneinnehmbare und unberührbare Seelenkerne in Menschen geglaubt hat – auch aus dieser Vorstellung konnte man Kraft schöpfen. Wir hanteln uns eben von einer tröstlichen Vorstellung zur anderen. Irgendwann wird eine dieser Vorstellungen zu albern, zu lächerlich, und wir brauchen eine neue.

Als Leser bekommt man eine sehr persönliche aber konkrete Vorstellung ihrer Protagonisten. Ein Phänomen, wie ich meine, das in Kurzgeschichten selten erreicht wird. Auch wenn Sie diese Figuren an sich nicht beschreiben, werden sie durch die Objekte, die sie umgeben, eingegrenzt. Ich habe den Eindruck, dass Sie diese Personen über diese Objekte festhalten. Damit lassen Sie dem Leser einen ungeheuren Spielraum an Vorstellung. Ist Ihnen das bewusst?

Ist das bewusst, hm... Es hört sich zumindest nicht falsch an. Ob mir dieser Effekt, den Sie beschreiben, immer bewusst war, weiß ich nicht. Es ist natürlich eine oft verwendete Technik: Bevor man Figuren in Aktion erlebt, teilen sie sich (dem Autor und dann dem Leser) in gewissen rätselhaften Details mit, die oft mit Gegenständen, Kleidern, Accessoires etc. zu tun haben.

Meist sind Ihre Protagonisten mit Zwängen behaftet. Zunächst geht es um eine banale Alltagssituation, die Sie bis an die äußersten Grenzen ausreizen. Ist es für Sie ein psychologisches Spiel oder schreiben Sie sich in diese Empfindungen rein?

Na ja, ich glaube nicht, dass man das trennen kann. Ich möchte natürlich gern Erfahrungen machen, die ich noch nicht kenne, aber gleichzeitig kann man keine Literatur machen, die völlig abseits der eigenen Obsessionen und Besessenheiten spielt.

Die 18 Erzählungen verursachen ein Gefühl des Unbehagens… arbeiten Sie Ihr eigenes Unbehagen auf?

Nein, ich arbeite mit meinen Geschichten nichts auf. Ich erzeuge und verstärke vieles, das mir unheimlich ist, mich auf eine elektrisierende Weise verwirrt und mir in der Folge geeignet scheint, eine Offenbarung, vielleicht auch eine Epiphanie zu erzeugen, nach der die Welt kurz ein wenig heller und dichter und rätselhafter ist. Um Aufarbeitung irgendwelcher unbehaglichen Dinge geht es in der erzählenden Literatur generell nicht, sondern eher in der Politik, in der Geschichtsschreibung und natürlich in der Psychotherapie. Diese drei Dinge können durchaus einen Anteil an einem Stück Literatur haben, aber sie bilden doch nie dessen Essenz.

Bei Ihrer letzten Erzählung „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ schenkt ein Künstler dem Volk ein Kunstwerk – ein Kind aus Ton – welches die Bevölkerung zur Vollendung bringen soll. In Ihrer Kurzgeschichte mutiert die Aufgabe zu einem Ergebnis, welches mich persönlich an den Beginn des Nationalsozialismus erinnert. War das Ihre Intention?

Nein, nicht wirklich. Aber dieser Gedanke ist verständlich, da Massenbewegungen, die mit einer Zunahme der Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung zu tun haben, fast immer daran erinnern. Die Menschen in meiner Erzälhung haben ein Ventil für ihre Grausamkeit bekommen, das im Dienste einer an sich ganz wunderbaren Sache steht: der Schaffung eines ästhetischen Gegenstandes. Dieses Konzept unterscheidet sich natürlich schon sehr von dem Gewaltprinzip, das dem Nationalsozialismus innewohnt.

Natürlich, ich meinte auch das Ergebnis und nicht die Aufgabe als solche. Dennoch verarbeiten Sie in dieser Erzählung bis zur letzten Konsequenz die gedankliche Frage: Was passiert, wenn ich der Bevölkerung (Hinweis: Pöbel - populus!) uneingeschränkte Macht gebe?

Uneingeschränkt ist diese Macht ja nicht, sie beschränkt sich sogar auf einen sehr kleinen Bereich, eine einzelne Statue am Ende einer kurzen Sackgasse neben einem Park.

Das Ergebnis hat nicht viel mit dem Nationalsozialismus zu tun, mit täglichen Verdächtigungen, Denunziationen, mit dem plötzlichen Gewaltausbruch bezüglich bestimmter Teile der Bevölkerung usw. Meine Geschichte denkt wahrscheinlich eher über die Frage nach, ob man, wenn man Gewalt irgendwie neu kontextualisiert, tatsächlich irgendwann etwas Neues erhält oder bloß immer wieder Gewalt.

Sie meinen, wenn Menschen die Chance bekommen, gemeinsam etwas zu perfektionieren, wie es ja in Ihrer Erzählung der Fall ist, dann würde dies ein Ventil zu einer neuen Art der Gewaltausübung öffnen?

Es scheint mir, als würde es sehr oft in diese Richtung tendieren. Es ist ja inzwischen eine Binsenweisheit, dass sich so etwas oft bei Revolutionen beobachten lässt. Die Atmosphäre kurz nach der Entfernung der alten Machthaber ist immer von Jubel und Aufbruch geprägt, endlich Freiheit, endlich neue Möglichkeiten etc. Und dann, nach ein paar Monaten, hocken die Revolutionsführer auf irgendwelchen offiziellen Posten und prüfen nur noch akribisch, welche Teile der Bevölkerung sich nach den Ideen der Revolution verhalten und welche nicht. – Das ist jetzt allerdings so stark vereinfacht, dass es schon fast wieder falsch ist...

Ist das Schreiben für Sie selbst ein Bedürfnis und/ oder schreiben Sie bewusst für ein bestimmtes Publikum? Welche Zielgruppe der Leser, glauben Sie, interessiert sich für Ihre Bücher schlussendlich?

Natürlich ist das Schreiben ein Bedürfnis für mich. Wenn es nur eine Verrichtung wäre, der man mit Disziplin nachzugehen hat, wäre das ja unerträglich. So lange das Schreiben mir Erlebnisse und Empfindungen verschafft, die ich noch nie hatte, werde ich es wohl auch betreiben. Der Gedanke an ein Publikum kommt erst ab dem Zeitpunkt dazu, wenn das jeweilige Werk (Gedicht, Geschichte, Roman) vollendet ist. Dann stellt sich manchmal die Frage: Sollte das überhaupt veröffentlicht werden? Wen könnte das interessieren? Usw. Allerdings: Diese Überlegungen sind nie besonders stark oder beherrschend. Denn da ich es ohnehin nicht steuern kann, welche Menschen meine Bücher lesen, ist es mir auch nie wirklich eingefallen, mir diese Leser irgendwie bildlich oder nach ihren idealen Eigenschaften vorzustellen.

Prinzipiell arbeiten Sie mit Assoziationsketten und verursachen damit neue Assoziationsketten beim Leser. Wie gehen Sie damit um?

Ich hoffe, dass ein Leser sich bei der Lektüre meiner Bücher seine eigenen Assoziationen macht. Es gibt allerdings keine Möglichkeit für mich, irgendwie mit diesen neuen Assoziationsketten umzugehen, da ich in nur ganz wenigen Fällen mit Lesern überhaupt Kontakt habe.

Viele Autoren suchen den Kontakt zu ihren Lesern. Facebook wird hierfür gerne verwendet. Sie sind nun auch in/auf (?) Facebook zu finden. Sind Sie ein ambivalenter Kontaktsucher zu Ihrer Leserschaft? (☺)

Ich bin auf Facebook, verwende es aber weniger für Werbung, Lesetermine usw. Dafür bin ich zu faul. Ich stelle einfach hie und da irgendein Fundstück rauf, etwas, das ich gelesen habe oder das mir irgendwo anders untergekommen ist. Inzwischen langweilt es mich auch ein bisschen.

Aus reiner Neugierde: Sie begannen 2001 mit dem Lehramtstudium der Mathematik und Germanistik. Es ist nun nicht ersichtlich, ob Sie das Studium abgeschlossen oder ad acta gelegt haben?

Ad acta, ja.

Worauf ich eigentlich hinaus will, ist die Kombination Mathematik und Sprache. Verzeihen Sie das Klischee, aber oft ist es doch so, dass sprachbegabte Menschen, für die Mathematik bzw. Naturwissenschaften nicht viel übrig haben. Umgekehrt, Menschen mit diesen Fähigkeiten sich oft als wortkarg erweisen. Die einstige Verbindung, dass Wissenschafter auch Philosophen waren, scheint in der Neuzeit verloren gegangen zu sein. Wie sehen Sie das?

Das Klischee ist tatsächlich sehr selten zu beobachten, eigenartig, dass es sich überhaupt noch hält. Meine Mathematik-Professoren auf der Uni waren überhaupt keine wortkargen, nerdigen Leute, sondern meist erklärte Ästheten, die auch ihre Liebe zu einem bestimmten Begriff oder einer Konstruktion suggestiv und mit Leidenschaft zum Ausdruck gebracht haben. Ich habe von den Germanisten viel seltener eine emotionale Aussage über ein bestimmtes Werk oder Konzept gehört.

Neben Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeiten Sie als Übersetzer. Sie haben von John Leake „Der Mann aus dem Fegefeuer. Das Doppelleben des Jack Unterweger“ (Entering Hades) vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Wie kam es dazu?

Das war relativ unspektakulär: Der Residenz-Verlag hat mich damals gefragt, ob ich das machen möchte, und ich habe mir gedacht, warum nicht.

Laut Buchcover sind Sie auch als Obertonsänger und Gelegenheitszauberer tätig. Wie kommt das? Und wo treten Sie auf? Ich meine, dass man als Literat während der kreativen Arbeit eher publikumsscheu ist. Abgesehen von den Lesungen als Schriftsteller ist das Singen und Zaubern doch eine sehr publikumsnahe Beschäftigung. Bedeuten diese Tätigkeiten für Sie einen Ausgleich? Oder gibt es eine Verbindung zwischen dem Schreiben und dem Zaubern?

Ich bin nicht publikumsscheu. Aber ich trete mit diesen Hobbys auch nicht (oder zumindest nicht oft) vor Publikum auf. Manchmal kann es ganz lustig sein, solche Spielereien in eine Autoren-Vita zu schreiben. Das liest sich ja sonst immer so trocken, hier geboren, das studiert, wohnte hier und da. Aber natürlich kann das lustige Verzieren dieses traditionell eher eintönigen Teils des Buchumschlags auch nach hinten losgehen, da jetzt natürlich alle immer bloß das sehen bzw. hören (Sing was vor, Mach mal einen Trick etc.) und das ist natürlich dumm, das hätte ich mir vorher überlegen sollen.

Was war der Grund, warum Sie vom Residenz Verlag zum Suhrkamp Verlag gewechselt sind? (Probieren darf ich die Frage, leider sehe ich Ihre Mimik nicht)

Obwohl ich eigentlich gar keine Grimasse schneide, wenn man mich nach dem Verlagswechsel Residenz-Suhrkamp fragt, glaube ich doch, dass es klüger ist, darüber nichts zu sagen.

Sie haben ein neues Skript bereits quasi fertig in Ihrer Schublade. Worum geht es in Ihrem nächsten Buch?

Zu meinem nächsten Buch mag ich nichts verraten. Erscheinen wird es voraussichtlich nächstes Jahr*, obwohl noch kein genauer Erscheinungstermin feststeht.

Ich erwarte mit Spannung Ihr nächstes Werk. Danke für das Interview.

*2012 (!)

Clemens Johann Setz
Geboren 1982 in Graz. 2001 begann er ein Lehramtsstudium der Mathematik und Germanistik an der Karl-Franzens-Universität. Neben dem Studium arbeitete Setz unter anderem als Übersetzer und veröffentlichte Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien. Sein 2007 erschienener Debütroman „Söhne und Planeten“ (Residenz Verlag) gelangte auf die Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Für ein besonders gelungenes literarisches Debüt wurde er 2008 vom österreichischen BUKK ausgezeichnet und zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen, wo er mit der Novelle „Die Waage“ den Ernst-Willner-Preis gewann. 2009 wurde sein zweiter Roman „Die Frequenzen“ (Residenz Verlag) für den Deutschen Buchpreis nominiert (Shortlist) und erhielt den Literaturpreis der Stadt Bremen. Für seinen Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (Suhrkamp Verlag, 2011) erhielt Setz 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik. Rezension auf www.litges.at

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Bettina Zorn: Ö.V.M. - Österreichs Verplante Museumspolitik. Marie-Therese Goiser

Bettina Zorn
Ö.V.M. - Österreichs Verplante Museumspolitik

Ein Gespräch über die aktuelle und vorherige Museumspolitik im Völkerkundemuseum mit Dr. Bettina Zorn, Leiterin der Ostasien-Abteilung des Wiener Völkerkundemuseums. Interview führte Marie-Therese Goiser im Juli 2011.

Frau Dr. Bettina Zorn, seit 1995 sind Sie Leiterin der Ostasien-Abteilung des Wiener Völkerkundemuseums. Seitdem musste das Museum bereits einige Veränderungen erfahren. Aktuell stand noch das Projekt „Museum Neu“ im Haus. Könnten Sie uns eine kurze Retrospektive geben?

Seit 1995 zieht sich die Diskussion der Neugestaltung und Neudefinition des Völkerkundemuseums durch unsere Museumsprojekte, bei welchen wir uns in den letzten Jahren auf die politische Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur verlassen müssen. Seit 1928 wurde das Museum weder inhaltlich noch technisch generalsaniert, es musste folglich an einen neueren Stand adaptiert werden. Seit 1995 war auch die Einrichtung des Depots im Gespräch, 2004 wurde sie dann auch umgesetzt. 1997 wurden die Sammlungen in ein externes Depot ausgelagert, womit auch kein direkter Zugang zu den Objekten bestand, und 2004 kamen sie dann wieder ins Haus zurück. Weitere Bedingungen für die Generalsanierung waren: Die Sanierung der Büroräume und die der Dauerausstellungsräume. die Dauerausstellungsräume wurden jedoch bis heute nicht saniert. Die Teilausgliederung begann Ende der 90er Jahre, die dann, aus wirtschaftlichen Erwägungen, in die Ausgliederung der Bundesmuseen und im Falle des Völkerkundemuseums zu einem Anhängen an das Kunsthistorische Museum münden sollte. Somit waren wir dem Kunsthistorischen Museum unterstellt.

Mit dem Regierungswechsel im Oktober 2008 wurde ein neues Konzept geboren. Das Projekt „Museum Neu“ entstand Ende 2008, welches eine Verschmelzung des Völkerkundemuseums mit dem Museum für Volkskunde vorsah. Mit meinem Eintritt ins Museum 1995, war zwar die Rede von Renovierung, jedoch nicht, dass ein weiteres Museum ins Haus kommen sollte. Diese Idee ist noch sehr neu.

Welches Image des Völkerkundemuseums will man verändern?

Das Wort Völkerkunde gibt es ja nur im deutschsprachigen Raum und fast alle Museen, die Völkerkunde heißen, benennen sich zu „Museum für Kulturen“ oder „Museum for World Cultures“ um. Dieser Trend möchte das Image des Kolonialdenkens des 19. Jahrhunderts - mit dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aspekts der Ausbeutung - verändern. Die Anschauung des Völkerkundemuseums war damals die Idee der „Anderen“ und diese galt es zu repräsentieren, aber wir waren es, die die Objekte gesammelt und ausgestellt haben. Dieser Sammeleffekt, sprich unser Tun zu hinterfragen, steht noch viel zu wenig zur Diskussion. Wir müssen uns noch mehr mit uns selbst auseinandersetzen.

Das Völkerkundemuseum wurde Ende der 90er Jahre von einem eigenständigen Bundesmuseum zu einem Teilmuseum des Kunsthistorischen Museums, der wissenschaftlichen Anstalt. Welchen Nutzen sah man in der Zusammenlegung?

Das deutsche System in Berlin, Stiftung preußischen Kulturbesitzes, schließt alle Museen unter der Leitung einer Institution, nicht der des Ministeriums, zusammen. Und ich denke, dass das die Idee war, von der man sich hat inspirieren lassen wollen. Die Idee war wohl die eines Schneeballeffektes, der klein anfängt und wächst und wächst und die anderen dann schluckt. Hier kommt die Position eines Direktors zu tragen, in wie weit er es schafft, sich von anderen abzusetzen. Und in diesem Fall waren die Weichen sehr gut gegeben, dass wir eben zu schlucken waren, genauso wie das ÖTM (Österreichisches Theatermuseum). Weiter lässt sich eine globale Veränderung sichtbar machen. Wie es auch das Humboldtforum in Berlin probiert, versucht man mit einem neuen Projekt, die Völkerkunde gesellschaftspolitisch gerechter zu präsentieren und dem 21. Jahrhundert entsprechend anzupassen.

Sozusagen der Versuch sowohl das Lokale wie das Globale in einer riesigen Museumslandschaft zusammenzufügen. Das war das Grundkonzept. Zudem fielen u.a. zusätzlich Renovierungen an.

In welchem Kontext wäre hier das Projekt „Museum Neu“, welches eine Verknüpfung der europäischen und außereuropäischen Völkerkunde ansteuert, zu sehen?

Wir versuchen, an das 21. Jahrhundert angepasst, ein Konzept zu entwickeln, welches nicht auf Abgrenzungen von Kulturen, „Wir“ und die „Anderen“, beruht. Es soll ein Dialog und Austausch sein. Und deswegen macht es auch Sinn, das Europäische und das Außereuropäische zusammenzuführen.

Das wäre das Argument mit der Volkskunde, weil vor allem im deutschsprachigen Raum nie eine Trennen dessen stattgefunden hatte, z.B. in Hamburg ist der europäische Teil immer im Völkerkundemuseum integriert gewesen. Und nicht zu vergessen: Das Völkerkundemuseum war im 19. Jahrhundert ein Teil des Naturhistorischen Museums! Sowohl die volkskundliche Abteilung wie die ethnographische Abteilung des Naturhistorischen Museums wurde ausgegliedert und zu eigenständigen Museen. Aber genau das war ja sozusagen der Köder, dass es eben funktionieren kann. Das Konzept war, dass es finanziell ein Ziel sein sollte, mit der Zusammenlegung der Museen, Synergieeffekte zu erzielen. In Frankreich hatte man auch diese zwei getrennten Institutionen gehabt: den Louvre, den kunstorientierten, europäischen Teil, und das Musée de l‘homme, den ethnographischen Teil.

Im Zuge der Auflösung des Musée de l‘homme hat man die außereuropäischen Kunstwerke in den Louvre integriert und für den Rest ein neues Museum gebaut: das Musée du quai Branly in den 1990er Jahren. Jedoch ist dies auch kein Konzept, das wirklich überzeugt. Alles hat Mängel. Gegenwärtig gibt es kein Konzept, welches wirklich überzeugend ist.

Aktuell scheint das Projekt „Museum Neu“ nicht mehr zur Diskussion zu stehen. Warum?

Das kann ich Ihnen sofort beantworten: Weil völlig falsch diskutiert und geplant wurde. Mir kommt es vor, als hätte man ein Schloss auf Wolken gebaut, anstatt auf ganz solidem Grund. Und dieser solide Grund ist die Finanzierung, ein äußerst wichtiger Faktor für ein Projekt und im musealen Fall zählt auch der politische Wille, von dem ich ausgehe.

Sehen Sie in der Zusammenlegung des Völkerkundemuseums und des Museums für Volkskunde überhaupt einen Sinn?

Das Museum für Volkskunde hat große finanzielle Probleme, da es kein Bundesmuseum mit nennenswerter staatlicher Unterstützung ist, sondern ein Verein. Zusätzlich befindet es sich in einem Palais, welches dringendst einer Sanierung bedürfte. Die Idee war nun hier diese zwei bedürftigen Museen, welche eine größere finanzielle Spritze benötigten, als kulturpolitisches Projekt zu einem größeren Museum zu vereinen. Weiter entspricht sich die Materialgruppe beider Museen: hauptsächlich organisches Material, Holz, alle Arten von Pflanzenmaterialien, Stein und Metall und Textilien. Wir hätten also eine zirka noch einmal so große Sammlung unterzubringen.

Sind die Räumlichkeiten im Völkerkundemuseum Ihrer Meinung nach für zwei Museen ausreichend?

Der Dachboden wäre zwar noch weiter ausbaubar, aber für eine weitere genauso große Sammlung ist der Platz nicht vorhanden. Im Keller wurde bereits ein Zwischenstock eingezogen, somit wurde die Depotfläche für das Völkerkundemuseum schon einmal verdoppelt, und dazu kamen eigentlich auch noch Teile eines zweiten Kellers. Dort sind allerdings nur Steine gelagert und ähnliches Material. Für die Objektgruppe im Haus sind die neuen Räumlichkeiten nicht geeignet. Auch für das Museum für Volkskunde wären sie das nicht. Viel wichtiger wäre es, die Ausstellungsräume zu sanieren und das gesamte Museum für die Besucher zugänglich zu machen.

Welchen Spielraum lässt die finanzielle Situation des Völkerkundemuseums zu?

Wir verfügten immer über Geld, doch in den letzten Jahren hatten wir ein verkürztes Budget. Mit einem Budget von 6 Millionen Euro stehen wir nicht ganz oben im Ranking. Das MAK (Museum für angewandte Kunst) steht mit 9 Millionen weit über uns. Dieses Problem betrifft aber auf jeden Fall nicht nur das Völkerkundemuseum. Seitdem wir nicht mehr eigenständig sind, ist unser Geld manipulierbar. Wir können nicht mehr bestimmen, wie wir unser Geld einsetzen. So sind z.B. unsere Ausstellungen für die zweite Hälfte des Jahres 2011, aus budgetären Gründen, auf 2012 verschoben und die Ausstellungen von 2012 teilweise auf 2013 verschoben worden. Mehr Geld als Unterstützung ist uns bereits vor 2007 versprochen worden, ist aber nie angekommen. Das ist dem Museum für Völkerkundekunde noch nie passiert! Und deswegen ist die finanzielle Frage auch sehr wichtig und daraus resultierend zu kalkulieren:

Was sind die Grundkosten? Was fallen für Kosten an? Somit führen wir eigentlich unseren politischen Auftrag nicht aus, denn wenn wir geschlossen sind, nicht renoviert wurden, fahren wir nicht mit 100 Prozent, sondern mit nur 75 Prozent! Wenn wir einmal annehmen, dass 75 Prozent eigentlich unserer Ziel ist, dann sind wir bei 30 Prozent ...

Bis jetzt planen wir mit Geld, das wir gar nicht haben. Das geht natürlich nicht. Auch das spiegelt das Phänomen unserer heutigen Gesellschaft wider. Wir pokern. Wir pokern zu hoch. Schlagwort: Griechenland. Wir tun so als ob, und eigentlich haben wir die Basis nicht. Also eigentlich gilt die Idee, wir müssen wieder zurück zur Basis kommen und erwirtschaften wir mehr, dann ist das unser Plus, womit wir unter Rücksprache mit den Abteilungen strategisch gewinnbringend irgendwo investieren könnten. Aber wir können nicht damit rechnen, weil erfahrungsmäßig ist das nie passiert. Leider wird aber so agiert.

Neben dem Projekt „Museum Neu“ der SPÖ kämpft FPÖ-Kultursprecherin Heidemarie Unterreiner gegen den „Schmelztiegel der Völker“ und verlangt die erneute Eigenständigkeit des Völkerkundemuseums und des Museums für Volkskunde als Bundesmuseen.
Bei solchen Aussagen könnte man sich denken, dass Migration scheinbar nichts mit der österreichischen Volkskunde zu tun hat... Wie wird im Völkerkundemuseum mit Migration umgegangen?

Wir tun uns sehr schwer. Wir sind eigentlich nur ein Spiegel der Gesellschaft, und wir müssten das aufbrechen. Und genau solche Aussagen der Politker bringen uns in aussichtslose Situationen. Der Begriff des Migranten ist natürlich zu überdenken! Dieses psychologisch-atmosphärische Bild, das immer wieder in unsere Gesellschaft gedrängt wird, ist zu hinterfragen. Die Migration ist die Bewegung, aber man ist nicht immer in Bewegung, irgendwann ist man auch sesshaft. Dann muss ein neues Konzept gefunden werden. Da tut sich jeder schwer, die Politik, unsere Gesellschaft. Wir auch! Denn wir benutzen noch immer den Begriff der Migration... Migration ist doch schon ein Widerspruch in sich! Hier wird sehr gut ersichtlich, dass die Politik unglaublich wichtig ist. Genau hier lässt sich erkennen, dass alles zusammenhängt. Es darf nicht das von außen aufgesetzte Konzept sein, sondern man muss sich selbst mit der Thematik auseinandersetzen. Und wir hier im Museum versuchen der Bevölkerung diese Möglichkeit zu geben.

Bei der Eröffnung des Völkerkundemuseums am 25. Mai 1928 hat der Direktor Fritz Röck gesagt: „Das Völkerkundemuseum ist völkerverbindend und völkerversöhnend.“
Mir geht hier der Begriff der „Völkeraufklärung“, sprich völkeraufklärend, im Sinne des Umgangs und der Auseinandersetzung mit kontroversen Themen in der Völkerkunde ab. Wie kommt es, dass immer nur Ägypter und japanische Kimonos und Fächer gepusht werden?

Wir stehen stark unter dem Erfolgszwang der Besucherzahlen. Hier gibt es auch die Schwierigkeiten, den Ansprüchen und Anforderungen der Besucher gerecht zu werden und mit Blockbuster-Ausstellungen die Besucher zu locken. Gold zieht immer... Das sind genau diese Konzepte, bei denen man sich fragen muss: Was ist Erfolg? Die Schwierigkeit ist hier sicherlich den Mittelweg zu finden. Wir sind daran etwas Neues aufzubauen, ein neues Image. Wir sind am Image schmieden und erhoffen uns Veränderung in den nächsten Jahren, auch was die Inhalte der Ausstellungen betrifft, um das Interesse der Besucher aufrecht zu erhalten. Zurzeit sind wir durch die fehlenden Räumlichkeiten in unserer Präsentation eingeschränkt.

Bettina Zorn
Geb. 1961. Studium der Sinologie, Urgeschichte, Ethnologie und Biologie in Freiburg, Basel und China (Wuhan University, Beijing University). Sie promovierte in Chinesischer Archäologie. Leiterin der Abteilung Ostasien des Museums für Völkerkunde seit 1995.

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