Heide Kouba: Einstweilen wird es Mittag... . Reinhard Müller

 
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Heide Kouba
Einstweilen wird es Mittag…

Aus dem Gespräch der Drehbuchautorin Heide Kouba mit Reinhard Müller. Café Prückel in Wien, am 3. Februar 2010*

Frau Dr. Kouba, wie kam es zu diesem Film? Wer hatte überhaupt die Idee zu dem Film „Einstweilen wird es Mittag…“?

Die Idee zu dem Film stammt von mir. Sie entstand aus unterschiedlichen Überlegungen und Erfahrungen. Ich selbst habe nicht Soziologie studiert, habe aber Ende der siebziger Jahre die organisatorische Leitung des Forschungsprojekts Multinationale Konzerne und Gewerkschaften übernommen. Dadurch habe ich viele junge Soziologen kennengelernt, die an dieser europäischen Studie beteiligt waren. Und durch diese bin ich auf die Marienthal-Studie aufmerksam geworden. Es herrschte damals in Österreich eine beginnende Altersarbeitslosigkeit.
Und in Deutschland gab es sogar eine veritable Welle von Arbeitslosigkeit. Das heißt, „Arbeitslosigkeit“ war schon ein Thema. Mein Hauptinteresse lag jedoch eigentlich in der Situation der Menschen: der Arbeitslosen wie der Forschenden.
Es wird ja immer sehr verkürzt gesagt: Hier wurde die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ verfilmt. Das ist für mich in vielerlei Hinsicht eine falsche Aussage und eine unzulässige Verkürzung. Erstens glaube ich nicht, dass man eine wissenschaftliche Studie wirklich verfilmen kann.

Zweitens war mein Ansatz von Anfang an, das Setting dieser Studie zu „verfilmen“ beziehungsweise dieses als Grundlage für den Film herzunehmen. Das heißt, ich wollte mich nicht primär, nicht ausschließlich mit dem Thema „Arbeitslosigkeit“ beschäftigen. Diese war nur ein Aspekt.
Ich wollte mich zusätzlich mit einem für mich damals sehr interessanten Aspekt beschäftigen: Wie funktioniert die Interaktion zwischen den Forschern, oder generell, zwischen Forschern und Beforschten? Ich erkannte bei der Feldforschung Parallelen zu Dingen, die ich selbst erlebt habe, jedoch nicht in einem Forschungszusammenhang.

Ich habe mehrmals und längere Zeit als Regieassistentin gearbeitet. Da ist es – ähnlich wie bei den Forschern der Marienthal-Studie – natürlich so, dass ein Filmteam, das heißt, Menschen aus einer ganz anderen Welt, in eine geschlossene Welt „einbrechen“, dort sehr intensiv mit den Menschen vor Ort arbeiten und danach wieder gehen, so, als wären sie nie da gewesen. Diese Situation, denke ich, ist vergleichbar mit einer anderen, aber ähnlichen Situation:

Ein Forscherteam „beforscht“ ein Dorf. Es waren also auch andere Aspekte als nur die Marienthal-Studie, die mich zu diesem Film bewegten. Wenn Sie den Film aufmerksam betrachten, werden Sie in ihm auch andere Themen als „Arbeitslosigkeit“ und die Situation von Arbeitslosen entdecken, z.B. die Frage: Wie hilft man? Was ist eigentlich „richtige“ Hilfe? Ist individuelle Hilfe sinnvoll?
Dient sie nicht nur dem Helfenden, damit er sich hinterher besser fühlt? Oder kann man nur strukturell helfen? Ist die beste, die vielleicht einzige Möglichkeit der Unterstützung strukturelle und politische Unterstützung?

Gibt es noch andere zentrale Themen, die, aufbauend auf der Situation der Marienthal-Studie, in dem Film problematisiert worden sind? Etwa die Konfrontation von Menschen aus der Stadt mit einem kleinen ländlichen Lebensraum?

Ja. Zu den Menschen aus der Stadt in der dörflichen Umgebung gibt es eine bezeichnende Einstellung.
Es schüttet in Strömen, und die Psychologin Ruth Weiss geht durch diesen Regen. Sie geht in sehr städtischer Kleidung, mit hohen Stöckelschuhen, durch die Hinterhöfe und wirkt in diesem Ambiente völlig fremd und unangepasst. Und dann findet sie auch noch Reste des toten Hundes, den die eine Familie gerade gegessen hatte. Das sind Dinge, die werden vielleicht wenigen Menschen auffallen, aber es sind beabsichtigte und inszenierte Dinge.

Auch folgende Situation: Da gibt es den Wutausbruch des Arbeitslosen Rudolf Jindracek, als er von den jungen Forschern Kurt Schrader und Philipp Strauss gefragt wird, wie viele Bewerbungsschreiben er geschickt habe. Und: „Wo haben Sie sich beworben? … Was haben Sie eigentlich früher gemacht?“ und so weiter und so fort. Das ist eine Szene, in der sich die Hilflosigkeit des Arbeitslosen immer weiter steigert und dann umschlägt in Aggression. In seinem Wutausbruch wirft er die beiden Forscher raus. Die beiden gehen dann unten auf der Straße, und Schrader, trotz des eben erlebten Wutausbruchs ganz in seinem Forschungsdesign behaftet, fragt Strauss, ob es nicht interessant wäre, zu erheben: „Ist das eine Charaktereigenschaft oder ein Aggressionsschub, hervorgerufen durch die Arbeitslosigkeit?“ Und Strauss antwortet:
„Geh zurück. Frag ihn.“ Das sind diese Reibungspunkte, die Karin und ich einfach mit drin haben wollten. Wir wollten zeigen, dass bei aller Sympathie doch auch eine Fremdheit und Distanz zwischen den beiden Gruppen existiert.

Das betrifft ja einen der Hauptkritikpunkte von Marie Jahoda, der Hauptautorin der Marienthal-Studie. Diese Widerspenstigkeit und später Aggression gegen die Forschenden habe es nicht gegeben.

Wenn Sie den Film anschauen, sind das Einzelfälle.
Und es ist ja nicht so, dass da ein Aufstand ausgebrochen ist, oder dass die Arbeitslosen unkooperativ gezeigt werden. Die Arbeitslosen sind alle kooperativ mit all ihren Kräften. Aber es soll mir niemand erzählen, auch Frau Jahoda nicht, dass es einer Frau, einer Arbeiterfrau, nicht unangenehm ist, wenn ein junger Mann „aus der Stadt“ den Schrank aufmacht und ihre Unterhosen zählt. Das glaube ich einfach nicht! Und es soll mir auch niemand erzählen, dass ein verzweifelter Mann nicht explodiert, wenn er gefragt wird, was er gegen die Arbeitslosigkeit unternommen habe, und so weiter. Ich glaube, dass es da einfach unangenehme Gefühle, ja, auch Aggressionen geben muss. Selbst wenn es im konkreten Fall nicht so war, gehört das für mich zum Bild solcher Situationen.
Vielleicht war es bei der Marienthal-Studie ein bloßer Zufall, dass es keinerlei Aggressionen gab, aber vielleicht sind diese den Forschern auch einfach nicht aufgefallen.

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle über einen weiteren wichtigen Aspekt des Films sprechen, der in der Marienthal-Studie nur angedeutet wird: Der Konnex von Arbeitslosigkeit und politischer Bewegung, insbesondere der nationalsozialistischen.

Ich muss weiter ausholen. Ich habe das Projekt um 1984 begonnen. Karin Brandauer und ich haben es dem ORF angeboten: „Nein, danke!“ Wir haben es dem WDR und dem NDR in Deutschland angeboten: „Danke, nein!“ Und plötzlich kam man 1987 beim ORF drauf: „Ah, nächstes Jahr ist ja 1988, das ‚Bedenkjahr‘!“ Es hieß nicht „Gedenkjahr“, sondern „Bedenkjahr“. „Da müssen wir was machen!“ Und plötzlich hieß es: „Da wurde ja etwas eingereicht, und könnte man nicht…“. Karin und ich haben uns natürlich gefreut, aber wir fanden es auch sehr absurd vom ORF. Wir haben lange darüber geredet und beschlossen, dass wir auf keinen Fall einen Film machen wollten, in welchem die Heimwehr ausrückt und gegen alle möglichen bewaffneten und unbewaffneten Schutzbündler antritt. Wir wollten auch keine nationalsozialistischen Marschkolonnen, keine Fahnen und derartiges.

Es gibt natürlich in „Einstweilen wird es Mittag…“ ganz eindeutige Verweise auf den Nationalsozialismus: vor allem in der Figur eines jungen Burschen, der ehemalige Maschinenarbeiter und nunmehr arbeitslose Walter Holub. Dem steckt der Feldforscher Philipp Strauss Geld zu, damit er nach Wien gehe, weil vielleicht…: also die individuelle Hilfe. Und ich finde, folgende Szene ist besonders gut gelungen, wird aber vielleicht von vielen Menschen gar nicht so verstanden, wie wir sie inszeniert haben: Bahnhof Weißenberg.** Walter Holub kehrt von Wien nach Weißenberg zurück und erzählt, er habe zwei super Typen kennengelernt, und die hätten ihm geholfen. Es ist die Art und Weise, wie Holub sagt, „Weil, so kann’s ja nimmer weitergehen“, und wie er dann sozusagen in der Mitte von diesen beiden Typen geht. Und diese beiden, Willi und Otto, sind eindeutig als Nationalsozialisten gekennzeichnet: nämlich durch ihre Knickerbockerhosen und weißen Kniestrümpfe. Das war ja die angesagte „Tracht“, das Erkennungszeichen. Die brauchten kein Parteiabzeichen oder etwas Ähnliches: Die Knickerbockerhosen und Strümpfe waren es. Und Holub geht zwischen den beiden fast so, als ob er von diesen abgeführt würde. Das war für uns einfach auch ein Signal!

Diese Szene ist ja auch an sehr wichtiger Stelle positioniert: knapp vor dem Schluss des Films. Das bleibt einfach in Erinnerung.

KOUBA: Dazu muss ich allerdings sagen, dass Karin und ich lange darüber diskutiert haben, ob dies tatsächlich das Schlussbild sein sollte. Wir haben dann entschieden:
Das darf nicht das Schlussbild sein! Natürlich wollten wir optisch, aber auch verbal aufzeigen, wie nah der Nationalsozialismus schon war. Und von daher war uns dann auch das Schlussbild wichtig. Soll die Schlusseinstellung wirklich die sein, dass der junge Bursche Holub mit den beiden Nationalsozialisten quasi ins Dorf hineingeht? Sozusagen: „Jetzt kommt der Nationalsozialismus!“ Oder ist es nicht notwendig, auch noch eine Information darüber zu geben, was dann aus dieser Studie, aus den Forschern geworden ist. Und deshalb ist nunmehr am Ende des Films die Szene mit dem Brief, den Ruth Weiss an Robert Bergheim in die USA schreibt. Ein Brief, in dem geschildert wird, dass die Studie verboten wurde und was aus den jungen Forschern geworden ist.

Historisch gesehen ist ja das Schlussbild des Films ein korrektes. Das Schicksal der Marienthal-Forscher war das Exil, von dem, mit Ausnahme von Lotte Schenk-Danzinger und Elfriede Czeija-Guttenberg, alle betroffen waren.

Im Film geht es auch, ich möchte fast sagen, vor allem um die Forscher. Für mich war das Thema von „Distanz und Nähe“ besonders interessant. Einerseits stehen diese Forscher ja außerhalb, haben den Außenblick. Andererseits sind sie im Grunde genommen in einer ganz ähnlichen Situation wie die Arbeitslosen. Es gibt ein Gespräch zwischen den beiden jungen Forschern Kurt Schrader und Philipp Strauss: „Was wirst du eigentlich machen, wenn das Projekt fertig ist?“, fragt Strauss, und Schrader antwortet: „Ich weiß nicht.“ Und auf Strauss’ Frage „Bleibst du in der Wissenschaft?“ meint Schrader:
„Da gibt es keinen Posten. Aber woanders gibt es auch keinen.“ Strauss ist ja ein Sohn aus gutem Hause, reich, ja, er kann in den Betrieb seines Vaters gehen. Aber im Grunde genommen hängen sie alle in der Luft. Das war ja damals nicht viel anders als heute. Als wir das Drehbuch schrieben, begann es schon, dass sich viele Akademiker von Projekt zu Projekt hanteln mussten, und dass nur wenige einen fixen Job hatten. Und so ist in der Marienthal-Studie wie auch im Film „Einstweilen wird es Mittag…“ der Blick der Forschenden von außen im Grund genommen auch ein Blick auf sie selbst, ein Blick auf die eigenen Perspektiven. Es gibt im Film eine Szene mit Kurt Schrader, der aus einfachem Milieu kommt, nämlich diese Szene im Gänsehäufel. Vater Schrader klagt: „Da hat man Opfer gebracht und dich studieren lassen, damit du einmal einen guten Posten bekommst bei der Bank oder im Finanzministerium“. Und der Sohn antwortet: „Als wenn das heutzutage so einfach wäre, ohne Beziehungen kommt man nirgends mehr rein.“ Herr Schrader: „Aber du hast doch ein Doktorat in Wirtschaftswissenschaft! Und was fängst du damit an? Arbeitslosen beim Nichtstun zuschauen.“ Also diese Rolle der Forscher, die eigentlich involviert und in einer ähnlichen Situation sind, war mir immer ganz wichtig.

Sie haben dann in den Film auch die Bevölkerung eingebunden, als Statisten vor Ort.

Ja. Das war eine ganz merkwürdige Erfahrung. Da waren damals sehr viele arbeitslose Menschen, die dann als Statisten gearbeitet haben. Und da gab es bei einigen eine ganz ähnliche Situation – natürlich nicht so krass –, wie damals in den Dreißigerjahren. In der Marienthal-Studie wie im Film wurde einer Frau die Notstandshilfe gestrichen, weil sie für das Austragen der Milch ein paar Groschen bekommen hat. Bei den Dreharbeiten zu „Einstweilen wird es Mittag…“ erhielten die Arbeitslosen ein Taggeld als Statistenlohn. Das hat sich damals ja schnell herumgesprochen: Film in Gramatneusiedl! Und die Arbeitslosen, die als Statisten mitwirkten, erlitten nun durch das Arbeitsamt Abzüge von ihrem Arbeitslosengeld.
So wiederholt sich dann schon irgendwo die Geschichte.

Heide Kouba
Geb. 1941 in Potsdam als Heidemarie Roth; Studium der Germanistik, Anglistik und Theaterwissenschaft in Heidelberg, Berlin und Wien, hier 1971 Dr. phil.; Verlagsredakteurin, Regieassistentin, seit 1975 Drehbuchautorin, enge Zusammenarbeit mit Karin Brandauer (1945–1992); seit 1998 Programmleiterin des Internationalen Jugend Medien Festivals YOUKI in Wels; lebt in Wien.

Anmerkungen
* „Einstweilen wird es Mittag… Nach der Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel.“ Regie: Karin Brandauer; Drehbuch: Heide Kouba und Karin Brandauer. Produktion: ORF und ZDF. Gedreht: 1987; Erstsendung: ORF, 1. Mai 1988. Dauer: 95 Minuten. Der Film ist als DVD erhältlich: Der österreichische Film. Edition Der Standard, 154; EAN 9006472015628.
Das vollständige Interview mit Heide Kouba erscheint als Einleitung zum Drehbuch auf der Marienthal-Website des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ):
http://agso.uni-graz.at/marienthal/film/1988_einstweilen_wird_es_mittag/00.htm.
** Das Weißenberg des Films entspricht weitgehend dem Marienthal der Marienthal-Studie, welches größtenteils in der Marktgemeinde Gramatneusiedl liegt. Anm. R.M.

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Heide Kouba: Einstweilen wird es Mittag... . Reinhard Müller

Josef Krejcar: Arbeitsdruck – arbeitslos – Wege aus der Krise. Brigitta Broeske

 
Foto: © Josef Krejcar  

Josef Krejcar
Arbeitsdruck – arbeitslos – Wege aus der Krise

Ein Gespräch von Brigitta Broeske mit Prim. Dr. Josef Krejcar vom Landesklinikum Mauer, geführt am 10. Juni 2011.

Welche Arten von Belastungen in der Erwerbsarbeit führen am häufigsten zu Einweisungen in das Landesklinikum Mauer?

Ich möchte vielleicht so beginnen: Da gibt es das Modell von Prof. Hilarion Gottfried Petzold, Die Säulen der Identität, das die Persönlichkeit eines Menschen seine Identität auf fünf Säulen stellt. Dies sind die Säulen des Körpers, der sozialen Sicherheit, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Werte sowie der Arbeit. Das heißt: zur Identitätsbildung, zur Selbstverwirklichung ist Arbeit ein wesentliches und wichtiges Merkmal. Es gibt ja die Untersuchungen von Marie Jahoda und Paul F. Lazarsfeld vor über 80 Jahren, die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal, in der die Autoren untersuchten, was Arbeitslosigkeit mit Menschen macht, wie sie die Persönlichkeit, den Lebens- und den Alltagsrhythmus verändert. Derzeit ist es so, dass neben der Arbeitslosigkeit auf Grund veränderter wirtschaftlicher Strukturen – Zunahme von Produktivität, Technisierung, aber auch von Globalisierung – der Druck am Arbeitsplatz immer mehr wird. Im Sinne von Optimierung, Evaluation von Arbeit, Produktionsdruck, weltwirtschaftlichem Klima erhöht sich dieser Druck und bringt den einzelnen Menschen auch immer mehr an Grenzen.

Es gibt jetzt das Schlagwort des Burn-out. Also Burn-out ist ja keine medizinische oder psychiatrische Diagnose, beschreibt aber einen Vorgang, der dazu führt, dass Menschen unter bestimmten Arbeitsbedingungen psychisch oder körperlich krank werden. Dieses Burn-out kann verschiedene Ursachen haben. Im Wesentlichen kann man es auch in Verbindung setzen mit dem Begriff Arbeitsstress.

Dieser Arbeitsstress kann ein äußerer sein, das heißt Stress, der bedingt ist durch vermehrte Anforderung von außen. Es kann aber auch ein innerer sein. Dieser hängt von der Persönlichkeit, vom Lebensstil des Einzelnen ab, z.B. Menschen, die alles sehr genau, perfekt und leistungsorientiert machen möchten oder Ängste vor Versagen haben. Verbinden sich diese beiden Stress-Faktoren wird die Symptomatik dann noch weiter verstärkt.

Zu welchen Krankheitssymptomen führen diese Belastungen?

Wenn ich vorher Burn-out angesprochen habe, ist es ja so, dass dessen Entwicklung oft verbunden ist mit einem Bis das es nicht mehr geht! Das heißt, die ersten Zeichen von Überforderung und Überlastung werden entweder übersehen, oder nicht im richtigen Maße wahrgenommen.

Der/die Betroffene versucht, in einem ersten Schritt das selbst zu kompensieren, das heißt, es zu schaffen. Das führt manchmal dazu, dass er/sie noch mehr arbeitet, noch in einen größeren Druck kommt, um die Dinge, die nicht so gut laufen, die er spürt, aber nicht genau wahrnimmt, wieder ins Reine zu bringen. Das heißt, der Organismus und auch die Person versuchen sich anfangs selbst zu regulieren. Diese Regulation, wenn die Problematik weiterhin nicht wahrgenommen wird, kann zu einem Stresskreislauf, allmählich zur Erschöpfung führen.

Zu einer Erschöpfung, die sich ausdrücken kann, sei es jetzt in einer psychischen Symptomatik, also verbunden mit, wie man so sagt, depressiven Symptomen wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Antriebsverminderung. Man hat keine Lust mehr in die Firma zu gehen, zu arbeiten oder was man vielleicht früher gerne gemacht hat, wird jetzt zur Belastung – Schlafstörungen (Einschlaf-, Durchschlafstörungen), oft grübelndes Denken, immer wieder durchdenken Was ist alles nicht gelungen? Was hab´ ich noch zu tun? Es wird alles zu viel.

Zu dem kommt es häufig zu körperlicher Symptomatik. Der Körper ist ja auch ein Signal- und Orientierungsorgan des seelischen Bereiches, man spricht dann von psychosomatischen Zusammenhängen, indem der Körper, vor allem das Vegetativum, reagiert. Das kann zu Beschwerden im Magen-Darmbereich, im Herz-Kreislaufsystem, sprich hoher Blutdruck, zu Störungen der Temperaturregulation, Hitze-, Kälte- sowie erhöhte Schmerzempfindlichkeit, also zu einer Gesamtbelastung des vegetativen Systems führen.

Sind solche Patienten auch suizidgefährdet?

Ein weiterer Punkt des Bis das es nicht mehr geht!

ist verbunden mit Ängsten, mit Verzweiflung, oft mit Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Wenn man das Gefühl hat, ich hab alles getan jetzt, um das selbst zu regulieren und es selbst zu meistern, dann hat man oft Angst, Schwäche zu zeigen. Auch sagen zu können: ich hab` Grenzen, ich muss Stopp sagen. Sei es jetzt, es sich selbst einzugestehen, aber auch den Mitarbeitern, den Kollegen, vielleicht auch der Familie, wenn da die Erwartung besteht: Ich muss immer gut sein! und Ich hab` das bis jetzt geschafft und jetzt geht es nicht mehr! Das führt in manchen Entwicklungen natürlich zu diesem Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Das entspricht etwa dem, was auch depressive Menschen erleben.

Auf der einen Seite Zukunftsängste, auf der anderen Seite die Vorstellung, die Zukunft wird es womöglich nicht geben.

Und dann ist es auch möglich, dass man die ganzen Symptome mit Suchtmittel kompensiert, seien es jetzt Tabletten, die abhängig machen, vor allem Tranquilizer, naheliegend natürlich mit der legalen Hauptdroge, dem Alkohol.

Und in diesem Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit entsteht auch das Gefühl der Wertlosigkeit der Person. Wertlosigkeit bedeutet manchmal die Vorstellung In dieser Welt ist es nicht gelungen oder Ich gehe in eine andere Welt oder ganz einfach aus dieser Welt flüchten zu wollen. Das wäre dann ein Weg in eine suizidale Stimmung, eine suizidale Krise, möglicherweise auch dann in einen Suizidversuch.

Welche Behandlungsmethoden bieten Sie dafür an?

In Krisensituationen, sei es jetzt psychosomatische, depressive und/oder auch suizidale Krisen, besteht die Notwenigkeit jetzt nicht vordergründig Problembereiche anzusprechen oder diese ganze Situation schon therapeutisch zu thematisieren, sondern erst einmal Schutz, Sicherheit und einen festen Boden zu bieten. In einer Atmosphäre der Wertschätzung, der Begegnung mit der Möglichkeit, dass jemand Vertrauen findet in dieses therapeutische Angebot.

Wichtig ist natürlich die Gesprächssituation, um ein Beziehungsklima herzustellen, sei es jetzt von ärztlicher, psychotherapeutischer oder pflegerischer Seite.

Es ist oft so, dass diese Krisensituation, oder die Schwere der Symptomatik nach einigen Tagen abnimmt – auch durch die Distanzierung von dem gewohnten Milieu draußen – in einem geschützten, therapeutischen Rahmen eben. Dass es dann möglich ist, über all das was auf der Seele liegt, sich aussprechen zu können, als erster therapeutischer Schritt, dorthin zu kommen, einmal schauen zu können: Was belastet so mein Leben? Wie geh` ich mit mir um? Wie ist mein Lebensstil? Wie geh` ich mit schwierigen Situationen im beruflichen Bereich um? Was hat das für eine Geschichte?

Lebensstil ist nicht etwas, was heute passiert, sondern Lebensstil entwickelt sich ein ganzes Leben und hat damit sehr viel mit Erfahrungen in Kindheit und Jugend sowie im späteren Erwachsenenalter zu tun. Dass man viele Situationen durchaus meistern kann, also wo man Ressourcen hat, aber, dass es dann auch wieder Situationen gibt, wo man diese Ressourcen, diese Fähigkeiten ganz einfach noch nicht erworben hat, oder noch nicht in diesem Maße erworben hat. Genau dann kommt es zu diesem Erleben von Schwäche: Ich kann das nicht! Das heißt, hier beginnt der Prozess der Umorientierung.

Wichtig ist auch, weil ja der Körper immer miteinbezogen ist und wesentliche Begleitsymptome zeigt, sowohl im kreativen als auch körperorientierten therapeutischen Bereich Hilfe anzubieten. Also das geht von Entspannung bis zur Körperwahrnehmung. Körperwahrnehmung jetzt auch im Sinne einer differenzierten Wahrnehmung: Was passiert im Körper? Was funktioniert eigentlich noch?

Oft haben die Leute das Gefühl, es funktioniert eigentlich überhaupt nichts. Also dieses positive Körpergefühl trotz der Krise allmählich finden zu können. Durchaus auch im Körperbereich gehalten und getragen zu werden, also beziehungsorientierte Körperarbeit.

Sehr oft ist es schwierig etwas auszusprechen, vor allem im Gefühlsbereich auszudrücken. Dies wird erfahrungsgemäß über kreative Medien oder über Bewegungen erleichtert. Deshalb werden auch Musik-, Mal- und Tanztherapie sowie Qi Gong, Feldenkrais, Wassershiatsu, gemeinsam mit Entspannungstechniken angeboten.

Ich habe bis jetzt vor allem beziehungsorientierte, körperorientierte, kreativorientierte und psychotherapeutische Angebote genannt, aber natürlich ist in der Medizin auch die medikamentöse Therapie durchaus hilfreich, im Sinne von Beruhigung, Entspannung, aber auch Besserung der Stimmung.

Antidepressiva sind nicht nur Medikamente, die den Stoffwechsel beeinflussen und regulieren, sondern die ein bestimmtes Verhalten auch fördern können, nämlich die Neugier, den Mut, ja, wenn Angst auf der einen Seite steht, sich etwas zuzutrauen, insgesamt die Stimmungslage und das Selbstwertgefühl zu verbessern. Deshalb sind Medikamente durchaus ein wichtiger Teil sowohl bei der Gesamtbehandlung als auch der Behandlung einer depressiven Symptomatik.

Was sind die langfristigen Ziele der Behandlung?

Das unmittelbare Ziel ist, die Krise zu bewältigen. Das ist klar. Das mittelfristige therapeutische Ziel ist es wieder ein gutes Selbstgefühl, ein Selbstwert-, Körpergefühl zu bekommen. Oft ist ja die Krise verbunden mit einer Selbstwertstörung, oder ich würde gar nicht sagen Störung, sondern einem Selbstwertdefizit – dass sich jemand wieder etwas zutraut, wieder was in die Hand nimmt, wieder was anpackt und das natürlich in Verbindung mit der Zukunftsorientierung. Das ist ähnlich, so wie bei depressiven Symptomen oder in einer depressiven Krise – wieder neugierig zu werden, wieder in Bewegung zu kommen in eine positive Vorwärtsbewegung.

Die Arbeitsplatzsituation, Möglichkeiten von Veränderungen der Arbeitsbedingungen, können wir natürlich von hier nicht regulieren, aber durch die Mitarbeit der Sozialarbeit, die ja bei uns eingebunden ist im stationären Behandlungsprogramm, kann man schon Orientierungshilfen geben. Orientierungen, die in Richtung Wiedereinstieg in den gewohnten Arbeitsplatz gehen, oder Umschulungen, bzw. Projekte die vom AMS angeboten werden.

Im Bereich der psychosozialen Versorgung bietet der psychosoziale Dienst (PSD der Caritas) unter dem Begriff Job-Coaching und Arbeitsassistenz auch eine Begleitung im Anschluss an die stationäre Behandlung an. Also da gibt es verschiedene Möglichkeiten, wobei natürlich die Arbeitsplatzsituation für Menschen, die verwundbarer oder verletzbarer sind, in dieser doch produktions- und leistungsorientierten Gesellschaft, schwierig ist.

Der wichtigste Aspekt aber bleibt: Die kritische Situation positiv aufzulösen, wieder mehr Vertrauen zu bekommen, in sich und auch in die eigene Zukunft – und vor allem auch als längerfristiges Ziel einen anderen Lebensstil zu entwickeln.

Josef Krejcar
Geb. 1947; Studium der Medizin, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie psychotherapeutische Medizin; arbeitet seit 1978 in der Psychiatrie in Mauer (Niederösterreich), seit 1983 auf der Station für Psychotherapie und Psychosomatik auf Pavillon VII, viele Jahre deren Leiter; seit 2009 Leiter der II. Psychiatrischen Abteilung für Stationäre Psychotherapie.

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Josef Krejcar: Arbeitsdruck – arbeitslos – Wege aus der Krise. Brigitta Broeske

Florian Mayer-König. Eva Riebler

Florian Mayer König

 

Um das Bild über den Künstler abzurunden, führte Eva Riebler im Mai 2011 zwei kurze Gespräche mit dem mittlerweile sechsjährigen Florian.

Lieber Florian, zeichnest Du lieber alleine oder gerne mit anderen Künstlern, wie z.B. vor drei Jahren mit Herbert Rosendorfer?

Lieber alleine.

Welche Erlebnisse, Eindrücke veranlassen Dich zum Stift zu greifen?

Wenn ich Burgen, Paläste oder das Meer sehe. Ich liebe Landschaften und beobachte Menschen. Gesichter sind auch Landschaften.

Warum nimmst Du meist den Stift und selten den Pinsel?

Mm...(überlegt) Ich habe immer einen Kugelschreiber bei mir, oft einen schwarzen und einen blauen. Aber Farbstifte liebe ich auch. Alles, was ich erlebe, lässt mich etwas anderes in die Hand nehmen. Mit dem Bleistift zittere ich durchs Bild. (Vaters Stimme aus dem Hintergrund: „Schraffieren!“) Ja, Grau, Schwarz und Weiß sind geheimnisvoll!

Welche Themen, was interessieren Dich am meisten?

Jetzt Ägypten, die Statuen, Obelisken oder auch Kamele, Krokodile und Nashörner. Wenn ich am Meer bin, zeichne ich Muscheln und Schnecken und die Meerungeheuer. Und in den Bergen suche ich in den Klüften und Höhlen Kristalle und im Freien Granaten und Steine. Ich liebe alles Geheimnisvolle. Ich zeichne oft Menschen, ja, den Sportler, den Bergsteiger oder viele tanzende Paare und den Geigenspieler.

Du siehst gerne Bücher an. Meinst Du, wenn du erst Lesen gelernt hast, dass Du auf das Zeichnen vergessen wirst?

Ich werde lesen und zeichnen, beides. Für mich sind Buchstaben wie Bilder. Hieroglyphen sind Geheimnisse.

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Florian Mayer-König. Eva Riebler