Hans-Peter Wipplinger: Kulturpolitik à la carte. Ingrid Reichel

Hans-Peter Wipplinger
Kulturpolitik À la carte

 

Ingrid Reichel besuchte am 6.4.2010 Hans-Peter Wipplinger, den Geschäftsführer der Kunstmeile Krems, aus der Kunsthalle Krems, dem Karikaturmuseum Krems, der Factory, dem forum frohner, dem Kunstraum Stein sowie dem Artist in Residence-Programm besteht. Gemeinsam sprachen sie über den Kunstgenuss und das Jahresprogramm der Kunsthalle Krems: Von Paula Modersohn-Becker (Frühjahrsausstellung)[1], einer wichtigen Wegbereiterin der Moderne, über „Lebenslust & Totentanz“, der bislang umfangreichsten Präsentation einer der renommiertesten Sammlungen Europas, der Olbricht Collection (Juli bis November)[2] bis zu den beiden Winterausstellungen „Nouveau Réalisme“ [3] und Daniel Spoerri.

 

 

 

 

 

 

 

 

Lieber Hans-Peter Wipplinger, auf Ihrem Programmangebot zu Beginn des Jahres 2010 steht in großen Lettern „KUNSTGENUSS MIT ALLEN SINNEN“. Was genau verstehen Sie unter Kunstgenuss?

Als ich nach Niederösterreich gekommen bin und diese spannende Aufgabe angetreten habe, existierte diese äußerst zutreffende Begrifflichkeit bereits. Als Kunstrezipient und den Genüssen des Lebens aufgeschlossener Zeitgenosse finde ich diese Konstellation auch sehr reizvoll, da bin ich sicherlich nicht der Einzige. Was mir – um über unsere Ausstellungen zu sprechen – wichtig erscheint, ist, dass die Besucher Inhalte vermittelt bekommen und dies auf eine angenehme, wenn man so will, unterhaltsame Art.
Die Museen werden immer stärker zu Infotainement-Institutionen.
Damit dies funktioniert, ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Elementen notwendig: Zum einen die Art der Präsentation, also die Inszenierung, d.h. von der passenden Wandfarbe bis hin zur perfekten Beleuchtung der Objekte oder Bilder, von der inhaltlichen Präsentation der Werke bis hin zu den Wandbeschriftungen als entsprechendes Vermittlungstool etc. Ziel sollte es sein, dass die Besucher begeistert aus der Ausstellung gehen und sagen: Da habe ich etwas dazu gelernt, etwas Neues erfahren. Bei Kunstpersönlichkeiten, wie bei der von uns präsentierten „Paula Modersohn-Becker“, sind die Besucher darüber hinaus, ob des dramatischen Lebensverlaufs, emotional sehr berührt. Um eine Ausstellung zu einem erfolgreichen Kunstbesuch zu machen, gehören also viele Komponenten dazu.
Die genießerische Ebene, sozusagen mit vielen Sinnen, das Eintauchen in eine andere, stimulierende Erlebniswelt ist dabei von großer Bedeutung.

Oft hat man das Gefühl, dass Museumsbesuche unter einem gewissen Vorwand stattfinden. Ist der Museumsbesuch ein Umweg zu leiblichen Genüssen? Im Nestroyschen Sinn: ein Umweg ins Wirtshaus?

Sie betrachten den Begriff Genuss zu sehr auf das Kulinarische bezogen. Ich genieße, wenn ich in eine Ausstellung gehe. Wenn Sie in einen opulenten Film oder in ein dramatisches Theaterstück gehen, dann kann es, vorausgesetzt es handelt sich um große Kunst, etwa trotz einer Tragödie sich um einen Kunstgenuss handeln, z.B. wegen wunderbarer Schauspieler, außergewöhnlicher Kostüme, eines beeindruckenden Bühnenbildes etc. Auch wenn der Inhalt abstoßend, unangenehm oder was auch immer ist. Gehen wir also einmal weg von der ausschließlichen Betrachtung: Kunstgenuss ist gleich Essen oder Trinken. Natürlich gehört Kulinarik auch als wichtiger Bestandteil dazu, der kann sozusagen dem Kunstgenuss auf andere Weise noch die Krone aufsetzen.

Irving wies daraufhin, dass Genuss in seiner primitivsten (ursprünglichen) Art und Weise die Kulinarik ist.

Das Essen und ihre genussvolle Zubereitung ist eine hoch zivilisierte und eine der ältesten Kulturformen der Menschheit überhaupt. Wenn man mit Peter Kubelka [3] oder mit dem Erfinder der Eat Art, Daniel Spoerri über das Essen redet, dann holen die Herren 2000 Jahre und mehr aus, um bewusst zu machen, wie sehr die Kultur des Essens die Entwicklung der Menschheit beeinflusst hat. Wichtig ist – um es mit Beuys zu sagen – dass man etwas mit Leidenschaft und Liebe macht. So ist es in allen Bereichen, ob bei der Zubereitung eines Mahls oder der Präsentation einer Ausstellung.

Damit man aber endlich auch die Dramaturgie genießen kann, bedarf es noch vieler Schritte…

Genau. Aber für mich ist das Essen als Genuss jetzt eine von vielen Varianten, die zu einem gelungenen Museumsbesuch gehören kann. Die von mir vorhin erwähnten Aspekte müssen einfach stimmen.

Sind wir nicht sehr verwöhnt, was Kunst anbelangt? Ganz speziell hier in Niederösterreich?

Nicht nur was die bildende Kunst anbelangt, sondern die gesamte Palette an Kulturangeboten in Niederösterreich ist beeindruckend. Ob im Bereich der Musik, des Theaters, der Literatur, Architektur und natürlich auch in der bildenden Kunst. Gute, ausgezeichnete Kunst in all diesen Bereichen kann man gar nicht genug haben. Sicherlich begegnet man immer wieder auch Unterdurchschnittlichem, umso wichtiger ist es, dass man als Rezipient Differenzierungsinstrumentarien ausbildet, Gutes vom Schlechten unterscheiden lernt. Da geht es um Erfahrung, die Bereitschaft einer inhaltlichen Auseinandersetzung, um eine Mündigkeit des betrachtenden Bürgers. Dafür gibt es auch konkrete Kriterien und die haben nicht immer etwas mit Quote zu tun. Es bedarf also – gerade in der multimedialen Überflussgesellschaft – einer selektiven, kritischen Wahrnehmung, um differenzieren zu lernen.

In der Ausstellung „Lebenslust & Totentanz“ aus der Sammlung Olbricht sind alte Meister mit Werke der Moderne und der zeitgenössischen Kunst gemischt präsentiert.

In dieser Ausstellung spielt der epocheüberschreitende Dialog zwischen den Kunstwerken eine sehr große Rolle. Wir versuchen Kunstgeschichte über ihre historischen Quellen verstehbar zu machen. Im Oberlichtsaal beginnen wir mit dem Thema Wunderkammer. Als Idee entstand sie in der Spätrenaissance, sozusagen als Vorreiter der heutigen Museen. Die damaligen Fürsten, die damit begonnen hatten, waren - ob Gelehrte oder nicht – interessiert, die Wunder des Lebens verstehen zu lernen und über die Erscheinungen der Welt zu staunen. Sie haben Wissensgebiete in Natur, der Kunst- bzw. des Kunsthandwerks, in wissenschaftliche, künstlerische, geologische Bereiche ganz eigenwillig miteinander vermischt. Wir wollen eine Wunderkammer der letzten 400 Jahre erzeugen, also nicht den strengen Wunderkammer-Begriff des 16. Jahrhunderts verwenden, sondern Objekte von Künstlern, die sich gerade in den letzten 10 – 20 Jahren wiederum auf frühere Epochen beziehen.
Es gibt eine Tendenz, in der sehr viele Zitatarbeiten produziert werden und man eigentlich stilistisch kaum Unterscheidungen zu vergangenen Zeitphasen feststellen kann, sogar thematisch gibt es – denken Sie an apokalyptische Darstellungen – Parallelitäten etwa mit Bosch.

Für österreichische zeitgenössische Künstler gilt das weniger. Oder sind Sie da fündig geworden?

Nein, es sind interessanterweise vornehmlich amerikanische, kanadische und englische Künstler, die sich hier auf historische Verweise beziehen. Etwa Barry X-Ball, der mit seinen Marmorskulpturen Interpretationen auf barocke oder gotische Vorlagen macht. Wir zeigen also in dieser Wunderkammer-Schau progressive Gegenüberstellungen von historischen und zeitgenössischen Exponaten, jeweils in Themeninseln wie Krieg, Religion, Lust, Liebe, Tod etc. zusammengefasst. Im Kriegsraum treffen etwa Goya auf Callot-Radierungen, Werke der Chapman-Brüder auf Gerhard Richters „Onkel Rudi“, oder einer Malerei der jungen deutschen Künstlerin Alex Tennigkeit, die eine Paraphrase auf Konzentrationslager präsentiert. Das heißt: Wir gehen durch die Ausstellung wie durch eine Geschichte, die die existentiellen Themen des Menschseins bedeuten.

So sind also konkrete Werke zu speziellen Themen gegenübergestellt.

Unser Ansinnen ist in erster Linie ausgezeichnete Kunstwerke von spannenden KünstlerInnen zu zeigen, sie thematisch gut einzubinden und verständlich zu inszenieren. Die Ausstellung wird in gewisser Weise zur Bühne des Lebens, in der man sich selbst erfährt, Grenzerfahrungen nachvollziehen kann und bestenfalls Erkenntnisse über diese – wie Thomas Bernhard sagte, kleine lächerliche Existenz – zu erfahren.

Sie haben anschließend die Ausstellung „Nouveau Réalisme“, eine Kunstrichtung, die ja desillusionierend ist. Kann diese auch ein Fest der Sinne sein?

Warum sollte der „Nouveau Réalisme“ desillusionierend sein?

Da er nichts Beschönigendes hat und die Dinge so darstellt, wie sie sind, wird er gern im Zusammenhang der Desillusion genannt.

Das sehe ich anders. Den „Nouveau Réalisme“ muss man im zeitlichen Kontext sehen. Zur selben Zeit fand in Amerika die Entwicklung von Action Painting statt, in Frankreich erlebte die informelle Kunst ihren Höhepunkt. Dagegen begehrten die jungen Künstler der Gruppe auf, deren Kunst war geradezu üppig und lebensnah. Die Künstler wollten den Alltag, das Leben in die Kunst holen. Gegen Ende der 50er Jahre bricht eine Gruppe junger Künstler in Paris mit der Kunst der Nachkriegszeit. Die lose Gruppe verband weniger ein gemeinsamer Stil bzw. eine ästhetische Formensprache, sondern vielmehr eine bestimmte Geisteshaltung zur Kunst wie zum Leben. Die Künstler hatten vor allem Interesse, einen neuen Zugang zur Welt und einen anderen Blick für den ästhetischen Wert vergänglicher Alltags-, Industriekultur oder Massenwaren zu zeigen. Viele der Künstler waren auch keine ausgebildeten Künstler. Daniel Spoerri etwa war Tänzer, Pantomime, Regisseur und ist nach wie vor ein neugieriger, wahrnehmender und denkender Mensch, der sich seinen Reim über die Kunst und sein Dasein gemacht hat. Immer erfinderisch in seiner Weltdeutung ist er im Grunde genommen ein Geschichtenerzähler.

Dennoch kann man auch hier, speziell bei Daniel Spoerri eine Schönheit und Ästhetik erkennen, betrachtet man etwa seine Eat-Art-Arbeiten, die sogenannten Fallentische, die damals im Restaurant nachdem die Gäste gespeist hatten, unverändert montiert worden sind. Ich glaube schon, dass noch heute viele Leute damit Schwierigkeiten haben.

Dass das Kunst ist…? Vielleicht in einer ersten Betrachtung, beim zweiten Blick und beim Denken über die Arbeiten bemerkt man, dass die Fallenbilder als Erinnerungsbilder fungieren, mit Hilfe derer die Atmosphäre und Stimmung der jeweiligen Situation in all ihrer Alltäglichkeit und Banalität dem Vergessen entrissen wird. So gesehen sind sie sehr schöne, sehr poetische Memento Mori-Werke.

Das schon, aber ich meine wegen ihrer Ästhetik. Der vorher schön gedeckte Tisch mündet in ein Schlachtfeld. Die meisten verbinden mit Kunst nach wie vor Ästhetik.

Mag sein. Wie überhaupt in der Kunstbetrachtung, vor allem in der zeitgenössischen, muss man, damit man selbst auch etwas für sich destillieren kann, einen zweiten Blick wagen und um die Ecke denken. Daniel Spoerri geht es nicht darum einen Tisch als Schlachtfeld zu präsentieren, sondern um die Zeit, die er damit festhält. Zugleich sagt er damit, dass dieser Augenblick für ewig verloren ist. Im Grunde genommen ist diese Methodik dem Medium der Fotografie nicht unähnlich: Die Sehnsucht der Menschen zu fotografieren und Zeit damit vermeintlich zum Stillstand zu bringen, aus Angst der Vergänglichkeit anheim zu fallen.
Wenn man diese Isolierung eines Augenblicks, eines Moments des Lebens betrachtet, in dem Freunde zusammen gesessen sind und gefeiert haben, dann geht es vornehmlich um Erinnerung und nicht um ein ästhetisches schönes Objekt. Als Kunstvermittler sind wir gefordert, den Besuchern die Intentionen der Künstler zu verdeutlichen, hier also die Vergänglichkeit zu thematisieren, ein Nachdenken über einen Moment auszulösen, der unwiderruflich verloren gegangen ist. Dieses Erweckungserlebnis kann uns Daniel Spoerri bieten. Auch andere Beiträge wie jene der Affichisten [4], die alte Plakate von den Wänden herunterlösen und diese als Bild an die Wand hängten, wirken oft nicht sehr ästhetisch, aber die darauf eingeschriebene Geschichte macht daraus ein ästhetisches Werk. Es geht hier also vornehmlich um die Umsetzung einer Idee, eines Konzepts, um die Aura und die Philosophie, die in diesen Exponaten steckt.

Eigentlich leben wir, vom Künstler aus gesehen, in einer Zeit der Narrenfreiheit. Alles ist erlaubt, man ist keinen Regeln mehr unterworfen.

Das sehe ich nicht so. Es war ja schon fast alles da. Das heißt: Die Leute, die heute Künstler werden wollen, brauchen außergewöhnlich gute Ideen, um sich von der Geschichte abzuheben bzw. diese nicht zu wiederholen. Und die, die sich wiederholen, fallen der Lächerlichkeit anheim, weil das vielleicht schon ein Kollege vor 50 oder 100 Jahren gemacht hat. Daher ist Narrenfreiheit nicht gegeben. Wenn Sie und ich heute hergehen und wir machen ein Essen, kleben die Reste an, dann werden wir es als Künstler nicht schaffen, da sich mit dieser Erfindung bereits Daniel Spoerri in die Kunstgeschichte eingeschrieben hat. Alles andere wäre Wiederholung und bringt die Kunst- und Menschheitsgeschichte nicht weiter. Gegenwärtig produzieren weltweit vermutlich 100.000 Künstler Kunst. Ich weiß nicht wie viele davon Beachtung finden, es sind wohl nur ein paar Tausend, noch weniger gehen in die Kunstgeschichte ein. Mit Narrenfreiheit hat das nichts zu tun, sondern mit großem Talent, Intellekt, Kreativität, Schaffenswillen und Verzicht.

Ist dies vielleicht der Grund, warum es eine Renaissance der altmeisterlichen Techniken gibt? Lange Zeit galt in der Moderne die Idee als wesentlich. Nun scheint die Technik - mit neuen Inhalten wohlgemerkt - auf vorderster Front zurückzukehren.

Es ist davon abhängig von welcher Ausbildungsstätte wir sprechen. In Amerika gibt es Schulen, die sich darauf konzentrieren, gute Handwerker aus ihren Künstlern zu machen, andere wiederum konzentrieren sich auf das Konzept, wieder andere intendieren mündige Persönlichkeiten bzw. Denker heranzubilden. Die perfekte Beherrschung des Pinsels oder der Kamera ist eine gute Basis, aber noch lange nicht der Schlüssel zum Erfolg. Denken sie an Franz Graf [5] als er noch Professor war, der hat DJs oder Handwerker aus den verschiedensten Nationen aufgenommen und mit ihnen versucht, das Leben zu erfassen und zu begreifen. Was ich sagen will, ist: Wir leben glücklicherweise in einer pluralistischen Zeit, in der viele Wege möglich sind. Was letztendlich von der laufend entstehenden Kunstproduktion an die Öffentlichkeit schwappt, ist natürlich minimal gegenüber den vielen produzierenden Künstlern. Die einen schaffen es über außergewöhnlich „künstlerisch-handwerkliche“ Fähigkeiten, die anderen über ein Konzept. Ich glaube, dass sich nur die ganz nach oben durchsetzen, die in ihrem Werk die von mir kurz angedeuteten Aspekte vereinen.

Gehen wir ein bisschen zur Kulturpolitik. Sie verhält sich wie der Sparefroh im Speckmantel. Wie gehen Sie mit dieser Kontroverse um, speziell in Ihrer Funktion als Geschäftsführer der Kunsthalle? Neben Ihren umfangreichen Aufgaben als Geschäftsführer, kuratieren Sie auch die großen Ausstellungen in der Kunsthalle. Eine Aufgabe, die Ihnen offensichtlich liegt, und die dennoch neben Ihren vielen Tätigkeiten die Frage aufwirft, ob dahinter finanzielle Einsparungen liegen?

Nein, keineswegs. Als Leiter eines Hauses bin ich für die programmatische Ausrichtung verantwortlich und kuratiere selbstverständlich auch Projekte, die mir am Herzen liegen. Darüber hinaus gibt es seit 2010 zwei neue Kuratorinnen im Haus, die mit mir künstlerische Konzepte entwickeln, Künstler betreuen, Ausstellungen machen, Texte schreiben etc, weil das alleine nicht zu bewältigen ist. Ich habe mir bewusst Zeit gelassen, um ausgezeichnete Leute ins Haus zu holen. Darüber hinaus arbeiten wir auch mit externen Kuratoren.
Aber zur Frage Speckmantel: Ohne Übertreibung, wenn ich mir ein Bundesland und eine Institution aussuchen könnte, dann kann man sich glücklich schätzen, in Niederösterreich zu arbeiten. Ich kenne das Budget anderer Länder, ich kenne die Ankaufsbudgets, weil ich selbst oft Beiratsfunktionen habe; da muss man konstatieren, dass wir in Niederösterreich in einem weltoffenen kulturinteressierten Land leben, dem Kultur beträchtliche Investitionen Wert sind. Dahinter stecken durchaus auch andere Strategien im Konnex Tourismuswirtschaft, d.h. es ist sicherlich nicht alles Altruismus. Man hat in Niederösterreich früh erkannt, dass Kulturbetriebe selbst Wirtschaftsbetriebe sind und damit viele Arbeitsplätze schaffen, darüber hinaus den Standort attraktiv aufladen, einen Bildungsauftrag erfüllen, die Identität eines Landes fördern etc. Die vielen Touristen kommen sicherlich auch deswegen, weil sie in Niederösterreich nebst der tollen Landschaft, dem guten Essen, dem Wein etc. kulturelle Highlights erleben können, eben einen umfassenden Kulturgenuss genießen können. Die Investitionen kommen also nicht nur auf ideeller Ebene zurück, etwa in Form von Image und Reputationsgewinn des Landes, sondern dieses Engagement rechnet sich auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht.

Das war ein schönes Plädoyer für Niederösterreich. Danke!

Ausstellungen in der Kunsthalle Krems:
Nouveau réalisme 21.11.2010 – 20.02.2011
Daniel Spoerri: Ein Augenblick für eine Ewigkeit 21.11.2010 – 20.02.2011
www.kunsthalle.at
(LitGes Ausstellungskritik)

[1] Paula Modersohn-Becker: Kunsthalle Krems 14.03 – 04.07.10 (LitGes Kritik)
[2] Lebenslust & Totentanz: Kunsthalle Krems 18.07 – 07.11.10
[3] Peter Kubelka: Österr. Experimentalfilmer und Künstler
[4] Von den Nouveaux Réalistes angewendete Methode, das Abreißen und Freilegen von z. B. übereinander geklebten Werbeplakaten als künstlerisches Mittel einzusetzen. Meist konsumkritische Vertreter: F. Dufrêne, R. Hains, J. Villeglé und W. Vostell. Gleichzeitig gab es die Kunstrichtung Décollage als deklarierte «Antikunst».
[5] Franz Graf unterrichtete von 1997 bis 2006 an der Akademie der bildenden Künste, Wien.
Ausstellung: Kunsthalle Krems 28.03 – 27.06.10 (LitGes Kritik)

Hans-Peter Wipplinger
Geb. 1968 in OÖ. Studium der Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Kulturmanager und Kurator von rund 70 Ausstellungen im In- und Ausland. Zuletzt Direktor des Museum Moderner Kunst Passau (2003-2007). Seit 2009 Programmleiter und Geschäftsführer der Kunstmeile Krems. Autor und Herausgeber zahlreicher Ausstellungskataloge und Buchpublikationen zur Kunst der Moderne und zur zeitgenössischen Kunst.
mehr...

Hans-Peter Wipplinger: Kulturpolitik à la carte. Ingrid Reichel

Ulrich Berger: Das Wunder der Lichtnahrung. Ingrid Reichel

Ulrich Berger
Das Wunder der Lichtnahrung
oder Wo viel Licht, ist starker Schatten (Goethe)

 

Am 17.09.2010 hatte der Film „Am Anfang war das Licht“ des österreichischen Filmkritikers P. A. Straubinger Kinopremiere. Der Kinostreifen wird als Dokumentarfilm gehandelt, der sich mit der Lichtnahrung beschäftigt. Straubinger bereiste die Welt, um nach Menschen zu suchen, die sich vorwiegend oder ausschließlich von Licht ernähren und interviewte Wissenschaftler über das Phänomen. Ingrid Reichel recherchierte und fand im Internet im ScienceBlog „Kritisch gedacht“ über Pseudowissenschaft und verwandte Themen von ao. Univ.-Prof. Dr. Dr. Ulrich Berger, Mathematiker und Wirtschaftwissenschaftler an der Wirtschaftsuniversität Wien, eine Filmkritik [1] und einen offenen Brief [2] an den geschäftsführenden Leiter der Jugendmedienkommission des BMUKK gegen die Positivkennzeichnung [3] des Films. Ulrich Berger ist seit Frühjahr 2010 als Nachfolger von Astrophysiker Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer der neue Präsident der GkD (Gesellschaft für kritisches Denken) sowie Mitglied der GWUP (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften). Ulrich Berger gab bereitwillig Auskunft über diese mysteriöse kalorienarme Wundernahrung. (September 2010)

Lieber Ulrich, Du bezeichnest den Film als wertlos. Außerdem schwanke er zwischen naiv und manipulativ. In der ORF Sendung Konkret vom 24.09.2010 [4] betitelst Du ihn als „anti-aufklärerisches Machwerk“. Der Kabarettist Martin Puntigam sprach in derselben Sendung von einem „esoterischen Propagandafilm“. P. A. Straubinger meinte, er habe ein Drittel des Filmes zur Warnung vor Lichtnahrung verwendet. Den Film hätte er gemacht, damit die Wissenschaft sich endlich mit der Lichtnahrung beschäftige. Ist ihm dies gelungen?

Nein. Das Problem ist, dass sich P. A. Straubinger sehr viel mit Lichtnahrung beschäftigt hat, aber sehr wenig mit Wissenschaft. Der wissenschaftliche Diskurs findet in Fachzeitschriften und auf Fachkonferenzen statt, teilweise auch in Fachbüchern. Eine absolute Minimalforderung ist dabei, dass die Diskussionsbeiträge einen Filter durchlaufen, das sogenannte peer-review. Das heißt, diese Beiträge werden von unabhängigen Gutachtern geprüft, ob sie wissenschaftliche Standards erfüllen. Zur Thematik „Lichtnahrung“ gibt es in der gesamten wissenschaftlichen Literatur nur eine einzige Studie, auf die dies zutrifft. Dabei handelt es sich um den Bericht zu einem Test der Behauptungen des Lichtnahrungs-Anhängers Michael Werner, der angab, ohne feste Nahrung zu leben. Bei diesem Test ist Werner grandios gescheitert. Für die Wissenschaft ist Lichtnahrung kein Thema, bevor nicht saubere und ernstzunehmende Hinweise auf deren tatsächliche Existenz auftauchen.
Straubingers einziger angeblicher Beweis für Lichtnahrung ist der Untersuchungsbericht über den Inder Prahlad Jani, der 2003 in einem indischen Spital getestet wurde. Dieser Bericht ist aber nie wissenschaftlich publiziert worden und wird daher von der Fachwelt ignoriert. Dass der Bericht nicht publiziert wurde, hat aber einen ganz einfachen Grund: Er genügt den wissenschaftlichen Standards in keinster Weise. So wird etwa der aussagekräftigste Parameter, nämlich das täglich gemessene Körpergewicht Janis, im Bericht einfach verschwiegen. Andere Messungen sind unvollständig und es fehlen sämtliche Referenzwerte.
Zusätzlich unterliegt der Erstautor des Berichts einem massiven Interessenskonflikt, da er ein aktiver Anhänger der Religion des Jainismus ist, die Nahrungslosigkeit als Ziel propagiert.

Wir erleben besonders in Österreich einen Esoterik-Boom. Nicht nur Otto Normalverbraucher sondern auch Akademiker werden zunehmend von diesem, ich möchte sagen, Virus befallen. Die Esoterik beginnt die Universitäten und somit die Wissenschaft zu unterminieren.
Haben die Universitäten keine Schutzmaßnahmen?

Im Grunde schon, aber diese Schutzmechanismen sind stellenweise zu schwach. Ein Problem liegt im ehemaligen universitären Dienstrecht. Bis vor wenigen Jahren waren die meisten Wissenschaftler an österreichischen Unis spätestens mit Ende 30 pragmatisierte Beamte und damit unkündbar.
In so einer Position kann man sich so gut wie alles erlauben und jeden denkbaren Unsinn verzapfen, ohne dass dies dienstliche Folgen hat. Mir hat ein Rektor über einen pragmatisierten Pseudowissenschaftler einmal sinngemäß gesagt, er würde diesen liebend gerne feuern, dürfe das aber leider nicht.
Ein zweites Problem ist der zunehmende kommerzielle Druck, dem die Unis ausgesetzt sind. Da vom Staat zuwenig Geld kommt, werden ständig Lehrgänge etabliert, die kostenpflichtig sind und sich an Berufstätige wenden. Die Ausrichtungen und Inhalte dieser Lehrgänge werden natürlich großteils durch die Nachfrage bestimmt. Im Bereich der Medizin gibt es eine starke Nachfrage nach esoterischen Therapiemethoden und deshalb bildet sich langsam ein entsprechendes Angebot. An Volkshochschulen und am WIFI ist das ja längst etabliert, doch jetzt erreicht es auch die Unis.
Um diesen Unfug abzustellen, muss man diese Unis an ihrem wunden Punkt erwischen, nämlich bei ihrer Reputation. Das heißt, man muss dieses Unwesen öffentlich machen und in die Medien bringen. Erst wenn sie den guten Ruf ihrer Uni gefährdet sehen, reagieren die Verantwortlichen meist. Das war beim Feng-Shui-Kurs der Donau-Uni nicht anders als jetzt in Deutschland beim Energiemedizin-Modul der Universität Frankfurt/Oder.

Warum lassen sich, Deiner Ansicht nach, Akademiker, Ärzte … zu unwissenschaftlichen Äußerungen, wie sie im Film gezeigt wurden, vor laufender Kamera hinreißen?
Ist dies nicht Rufschädigung der Wissenschaft? Wer ist seitens der Wissenschaft verantwortlich und könnte etwas dagegen unternehmen? Oder handelt es sich, wenn wir von der Wissenschaft sprechen, um einen handlungsunfähigen, erlahmten Körper?

Manche der Protagonisten ziehen schon seit Jahrzehnten mehr oder weniger als one-man-show durch die Lande. Sie klammern sich an widerlegte Theorien, weil diese ihr Lebenswerk darstellen. Die Freiheit der Wissenschaft ist ein wichtiges Gut, und daher sollte man gar nicht versuchen, diesen Leuten den Mund zu verbieten. Die Selbstreinigungsmechanismen der Wissenschaft funktionieren in dieser Hinsicht noch gut genug. Da diese Personen ihre Theorien ohnehin nie belegen konnten, werden sie innerhalb der Wissenschaften schlicht nicht ernst genommen.

Wissenschaft ist ein kollektives Unternehmen, das nach ganz bestimmten Regeln funktioniert. Sie ist aber völlig dezentral, es gibt weder einen Hauptverantwortlichen noch ein zentrales Amt oder einen Geschäftsführer für „die Wissenschaft“. Das hat immense Vorteile, zum Beispiel ist die Wissenschaft als Ganzes – im Gegensatz zu einzelnen Wissenschaftlern – nicht korrumpierbar. Andererseits muss sie dafür gelegentlich auch Nachteile in Kauf nehmen. Wenn ich heute etwa verkünde, Almdudler sei krebserregend, dann werde ich vermutlich – und zu Recht – von der Firma Almdudler Limonade wegen Rufschädigung verklagt. Wenn ich dagegen verkünde, die Wissenschaft habe bewiesen, dass Lichtnahrung real ist, dann kann sich „die Wissenschaft“, selbst wenn sie wollte, dagegen nicht wehren, weil sie keine juristische Person ist. Das Manipulative am Film liegt jetzt genau darin, dass eine Reihe von Außenseitertheorien als state-of-the-art der modernen Wissenschaft präsentiert werden. Wenn zum Beispiel der Salzburger Mediziner Prof. Hacker im Film das mittels Kirlianfotographie vermessene „Energiefeld“ einer russischen angeblichen Nahrungslosen analysiert, dann bekommt der Zuschauer den Eindruck, die moderne medizinische Wissenschaft beschäftige sich mit der menschlichen „Aura“ und könne diese dank neuester Technologie messen und daraus sogar Diagnosen ableiten. Die Wahrheit, die der Zuschauer freilich nicht erfährt, ist, dass die Kirlianfotographie wissenschaftlich als nutzloses Spielzeug eingestuft wird, das nur in Quacksalberkreisen vermarktet wird. Oder wenn der längst emeritierte Prof. Jahn von der Princeton-Universität im Film davon spricht, dass der „Geist“ die Materie beeinflussen könne, dann klingt das im Kontext der Lichtnahrung so, als habe ein Professor der Elite-Uni Princeton gesagt, Lichtnahrung sei durchaus plausibel, wenn der Geist nur stark genug ist. Tatsächlich wissen nur Eingeweihte, dass Jahn von seinen vergangenen Experimenten zur „Mikro-Psychokinese“ spricht. Dabei sollen Zufallsgeneratoren durch Gedankenkraft so beeinflusst worden sein, dass sie Abweichungen von der Zufallsverteilung von einem Bruchteil eines Promilles erzeugen. Das ist erstens ebenfalls in der Fachwelt nicht anerkannt und hat zweitens nicht das Geringste mit Lichtnahrung zu tun.

Die Bewertung [3] der Jugendmedienkommission (JMK) des BMUKK ist erschütternd! Wie, denkst Du, konnte es zu solch einer positiven Bewertung des Films kommen? Hat Dein offener Brief etwas bewirkt …(Wie beabsichtigst Du weiter vorzugehen?)

Der Film ist ja handwerklich geschickt gemacht und das gilt auch für die Manipulation. Wenn man selbst kein Naturwissenschaftler ist oder sich in der Grenzwissenschaftsszene nicht auskennt, dann fällt man sehr leicht darauf herein. Genau das ist der JMK offenbar passiert, wie man aus der Begründung der Bewertung schließen kann. Aber immerhin – da muss ich dem Geschäftsführer der JMK Recht geben – hat der Film nur die schwächste aller Positivkennzeichnungen erhalten und ist ausdrücklich als „Diskussionsfilm“, also als Basis für eine kritische Auseinandersetzung empfohlen. Ich wurde jedenfalls eingeladen, die Filmbeschreibung konstruktiv umzuformulieren, und man hat angeboten, auf der Webseite kritisches Material zum Film zu verlinken.

Was würdest Du raten, jemandem zu antworten, der es mit Menschen zu tun bekommt, die diesem Phänomen Glauben schenken? Bzw. wie kann sich ein unerfahrener Mensch vor angeblich wissenschaftlichen Beweisen, die aber nie erbracht wurden, schützen?

Wer daran glaubt, weil er daran glauben will, der wird sich durch rationale Argumente auch nicht davon abbringen lassen. Man sollte ihn oder sie jedenfalls auf die dokumentierten Todesfälle hinweisen und eindringlich davor warnen. Wer aber eigentlich kritisch denkt und nur auf die Masche des Films hereingefallen ist, den kann man durch Hinweise auf die zahlreichen verschwiegenen Fakten durchaus zur Vernunft bringen. Auf den Webseiten der GWUP findet man eine Menge seriöses Material zum Bereich Wissenschaft vs. Pseudowissenschaft, Aberglaube und Esoterik. Aber auch das Wiki von Esowatch.com bietet dazu eine riesige Sammlung von kritischen Artikeln, inzwischen übrigens auch zum Film von P. A. Straubinger. Unbescheidenerweise empfehle ich natürlich auch meinen eigenen ScienceBlog namens „Kritisch gedacht“ zum Stöbern.

Eine spekulative Frage noch: Kannst Du Dir als Wirtschaftstheoretiker vorstellen, warum diese Lichtnahrung in unserer Zeit zum Thema geworden ist?

Ich sehe das recht profan: Jasmuheen hat in Australien in den 1990ern damit begonnen, Lichtnahrung populär zu machen. Bei uns hier war es kein Thema, bis im Frühjahr 2010 Berichte zum zweiten Test an Prahlad Jani als Kuriosum in den Medien auftauchten. Momentan gibt es einen Hype um den Film, aber bis vor ein paar Wochen dachte doch noch jeder vernünftige Mensch bei „Lichtnahrung“ an einen dummen Scherz.

Könnte eine Politik der falschen Hoffnung in der Verbreitung solcher Filme wie „Am Anfang war das Licht“ stecken, indem man behauptet: Wenn du nur auf der richtigen geistigen Ebene bist, dann brauchst du nur Licht, um zu überleben?

Ich würde da nicht zu viel hinein interpretieren. Der Film ist, glaube ich, in erster Linie einem unglücklichen Zufall zu verdanken. Mit dem Esoterik-Virus sind ja schon viele Menschen infiziert. Nun hat es eben auch einmal einen Filmexperten auf der Suche nach einem Filmstoff erwischt, der damit leider zum Superspreader geworden ist. So etwas passiert einfach hin und wieder.

 

[1] www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2010/09/am-anfang-war-das-licht.php
[2] www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2010/09/lichtnahrung-unterrichtsministerium.php
[3] www.bmukk.gv.at/schulen/service/jmk/detail.xml?key=12657E48DFC64E49B7A4B24CA804727A
(Stand: Sept. 2010)
Positivkennzeichnung: „P. A. Straubinger hat sich eines sehr interessanten Themas angenommen und es von jeder Seite beleuchtet und detailliert erklärt. Dabei ergeben sich Botschaften, sodass die Form der Weltbetrachtung der letzten 400 Jahre ins Wanken gerät, weil durch Versuche bewiesen wurde, dass wir mit unserem Bewusstsein mehr bewirken können, als wir glauben, und somit die Gesellschaft mitgestalten können. Annehmbar als Diskussionsfilm ab 12 Jahren.“
Alterskennzeichnung: „Es konnten keine jugendschutzrelevanten Inhalte festgestellt werden, daher jugendfrei.“
[4] www.youtube.com/watch?v=7hNmwryuGs

Ulrich Berger
Geb. 1970, studierte Mathematik und Volkswirtschaft. Lehrt und forscht als ao. Univ.-Prof. auf dem Gebiet der Spieltheorie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Als Mitglied im Wissenschaftsrat der GWUP und als Präsident der GWUP- Regionalgruppe Wien („Gesellschaft für kritisches Denken“) plädiert er für wissenschaftlichkritisches Denken und wehrt sich gegen die Anmaßungen von Pseudowissenschaftlern und Scharlatanen.
mehr...

Ulrich Berger: Das Wunder der Lichtnahrung. Ingrid Reichel

Alfred Goubran: Verorten ist für mich verwurschten. Cornelia Hülmbauer

Alfred Goubran
„VERORTEN IST FÜR MICH VERWURSCHTEN“

 

Alfred Goubran:
© Gerhard Maurer

 

Im Frühjahr 2010 hat Alfred Goubran seinen vielgelobten Erzählband ‚Ort‘ vorgelegt. Grund genug, den Autor, Übersetzer und Verleger im Rahmen des etcetera Ort-Heftes nach seinen Überlegungen zum Thema zu befragen. Cornelia Hülmbauer war am 19. Juli 2010 für die LitGes direkt an ‚seinen Ort’, in seine Wohnung im 9. Wiener Gemeindebezirk, zum Gespräch geladen.

 

 

Herr Goubran, das aktuelle etcetera-Heft und Ihr aktueller Erzählband haben sich dem gleichen Überthema verschrieben, nämlich dem Ort.

 

Darüber gäbe es viel zu sagen. Was ist ein Ort, was ist ein Unort? Hat ein Ort ein Schicksal? Ist man an diesem Ort so, an jenem Ort anders? Also man benutzt diese Worte sehr selbstverständlich. Ort ist für mich ein genauso wesentlicher Begriff wie Gestalt. Gestalt ist ein sehr wichtiger Begriff, wo es sich auch lohnt, ein bisschen weiter zu denken...
Für mich geht es auch um die Unterscheidung: Was ist ein Ort, was ist ein Platz?
Ein Ort hat sehr viel mit Identität zu tun. Ein Ort ist ohne Identität nicht denkbar. Ein Platz schon. Und Ort ist für mich schon ein Buch, in dem es um Identität geht. Mir ging es auch darum, dass ich durch die Geschichten einen Ort schaffe. Die spielen ja auch ineinander... Sie kennen ja vielleicht das Gefühl, dass man an seinem Ort ist. Es gibt einfach solche Orte, wo man sich wohl und zuhause fühlt.

 

Wobei das nicht immer mit dem Ort selber zu tun hat, oder?

 

Natürlich, es ist ja ein Zwischenspiel. Aber es gibt einfach Orte, da geht man hin und: Ach! Kennen Sie das nicht?

 

Doch, natürlich.

 

Genau. Und das ist Ihr Ort. Da schwingt etwas zusammen. Und deswegen, glaube ich, hat das auch immer etwas mit Identität zu tun. Das Idente. Irgendetwas reagiert da. Und auf solche Sachen draufzukommen, was ist ein Ort, was ist ein Gefüge, das ist, glaube ich, sehr schwierig. Wir hatten vor kurzem mit Freunden eine Diskussion über Eichendorff und da ging es eigentlich darum, dass das Gefüge verloren ist. Diese Gefüge, die Eichendorff noch beschreibt, die kennen wir überhaupt nicht mehr. Der Geiger – die Linde – der Baum, das kennt man nur noch von Ansichtskarten. Dieses Gefüge und dieses Aufgehoben-Sein in einem  Gefüge, nicht in einem sozialen Gefüge, sondern in einem Gefüge von Welt, das ist schon ein Daseinsgefühl, das verloren ist und nach dem man sich auch sehnt.

 

Also eine Art von Ordnung?

 

Ja, ein Eingebettet-Sein. Und deshalb ist es so schwierig zu beurteilen: Menschen im Mittelalter, was hatten die für eine Daseinsempfindung? Das ist, glaube ich, für uns heute unmöglich. Die wissen ja welche Gaumenfarbe ein Dinosaurier gehabt hat, wenn sie einen Oberschenkelknochen finden, angeblich. Aber mir ist das etwas ganz Fremdes. Und dieses ‚an seinem Ort Sein’, ‚seinen Ort Haben’ – da geht eine große Sehnsucht hin. Auch wegen der Entfremdung.

 

Was ist denn ‚Ihr Ort’?

 

Mein Ort. Mein Ort, was ist mein Ort? Also einen Ort habe ich nicht in dem Sinn. Ich würde sagen, mein Ort ist die Welt.

 

Aber Sie sind auf der Suche nach Ihrem speziellen Ort?

 

Es ist kein Suchen. Es hat mit Dasein zu tun, mit Gegenwart, mit einem Daseinsgefühl. Diese Wohnung ist sicher mein Ort. Hier fühle ich mich zuhause. Das ist diese Sehnsucht nach Identität – dass das, was man tut, was man sagt, mit einem zu tun hat, und nicht irgendwelche angelesenen oder gehörten Sätze sind, die man wiedergibt. Gegenwart – dahin geht die Sehnsucht. Insofern ist Ort auch ein Sehnsuchtsbuch. Ich glaube als Kind erleben wir alle die Welt als Ort. Und deshalb geht auch später, wenn man Identitätskrisen oder Probleme hat, die Sehnsucht zurück zu diesen Plätzen der Kindheit. Viele Leute fahren ja dann wieder dorthin.

 

Den Erzählungen in ihrem Buch ist ein Zitat aus Ovids Tristia vorangestellt, die ja gemeinhin als erste Exilliteratur gehandelt werden. Soll uns das als Leser Hinweis sein, dass auch Ihre Texte in gewisser Weise als Exilliteratur zu verstehen sind?

 

Naja, das ist mir zu programmatisch. Aber es ist schon so, dass man seinen Text in die Fremde schickt. Man schickt das irgendwohin, und man weiß nicht, wo es ankommt. Das Büchlein geht hinaus. Man weiß nichts über das Schicksal. Was mich betrifft als Schreibenden, ich begreife mich nicht im Exil. Also ich finde, das Exil ist auch eine Form von Zugehörigkeit.

 

Ist es wichtig, sich in irgendwelchen dichterischen Traditionen zu verorten, an etwas anzuknüpfen?

 

Ja, das ist immer gegeben. Das kann man bewusst nachvollziehen, aber die Affinität, das was schwingt, das was anspricht, das hat immer sehr viel mit der eigenen Eignung oder mit eigenen Möglichkeiten zu tun, die man hat, und das kann man sich nur bedingt aussuchen.

 

A propos Eignung - wie steht es mit der Verortung in Genres. Ihr aktueller Band besteht aus Erzählungen, Ihr nächstes Buch wird ein Roman. Ist der Erzählband auch chronologisch als Vorstufe zum Roman zu verstehen?

 

Nein, überhaupt nicht. Also ich finde auch das Wort ‚Verortung‘ schrecklich, weil es das nicht gibt – für mich. ‚Verorten‘ ist für mich so wie ‚verwurschten‘. Also es ist eher abwertend… Das Erzählen geht verschiedene Wege, und ob ich einen Roman schreibe oder eine Erzählung schreibe, der Anspruch ist derselbe. Also auch das suche ich mir nicht aus, die Form. Es kann sein, dass man an einem Text arbeitet und denkt, das wird jetzt 60 Seiten haben, und nach 30 Seiten ist er aus. Und er ist wirklich aus. Dann ist es eine Erzählung. Natürlich muss man, wenn man einen Roman vorbereitet, schon Vorarbeiten machen. Aber es erweist sich dann sehr oft, dass die Vorarbeiten eigentlich nur dafür da sind, um etwas in sich zu beruhigen, weil man dann ja eh ohne Netz arbeitet. Ein Freund hat mir erzählt – ich weiß nicht, ob es stimmt – er hat sich mal die Arbeit gemacht, die Romanpläne und Vorarbeiten von Doderer anzusehen und sie zu vergleichen mit dem, was er tatsächlich geschrieben hat, und das war sehr divergierend.

 

Man landet dann also doch immer wieder woanders, als man geplant hat.

 

Ich finde das auch wichtig. Sonst wäre es kein lebendiger Prozess, sonst wäre es nur ein Erfüllen von Aufträgen.

 

Die Erzählungen in Ort handeln ja gewissermaßen vom Aufbrechen oder vom Zurückkehren. Ihr nächstes Buch, der Roman Aus, wird sich dann vor allem auf – zum Beispiel durch den Tod – Abwesende konzentrieren. Ist das eine logische Folge?

 

Nein, das Ganze ist nicht so sehr gedacht, das ist organisch, lebendig. Also da gibt es keinen Masterplan und auch kein Kalkül in dem Sinn.

 

Sie bewegen sich auch an den Grenzen der Disziplin Schreiben. Sie sind neulich beispielsweise zusammen mit Musikern auf den Spuren Gustav Mahlers gewandelt. Es sind auch Gedichte vertont worden. Ist es Ihnen wichtig, solche disziplinübergreifende Arbeit zu machen?

 

Ich empfinde das gar nicht so. Das ist ja nicht so wie beim Schwimmen, dass man sagt, das ist Brustschwimmen und das andere ist Kraulen. Was konkret das mit der Musik betrifft: Das kommt eigentlich von den Gedichten. Und das hat eine Geschichte: Ich liebe Lieder, nämlich in den letzten Jahren vermehrt sogenannte Volkslieder, das heißt Dylan, Cash, das sind amerikanische Volkslieder, und die speisen sich aber eben alle aus dem Volksliedgut aus dem Irischen, aus dem Amerikanischen. Das geht Jahrhunderte zurück. Diese Tradition war mir überall auffindbar, nur im Österreichischen und Deutschen nicht. Also hier gibt es seit 1945 einen Bruch. Ich war vor einem Jahr eingeladen zu einem Poesiefestival bei der Biennale in Venedig und da habe ich sehr viele Autoren aus Russland, Italien, und so weiter, getroffen. Und die konnten alle ihre Gedichte singen. Wir haben dann alle zusammen gesungen, und weil ich nichts anderes konnte, haben wir dann zusammen auch die Sozialistische Internationale gesungen. Es ist einfach auch die Freude am Singen. Man weiß auch, dass Hölderlin seine Gedichte gesungen hat. Es gab - jetzt abgesehen von diesen Wandervogelliedern – das berühmte Liederbuch der Zupfgeigenhansl. Darin finden sich teilweise Lieder aus dem Dreißigjährigen Krieg. Und diese Lieder sind wiederum so ähnlich wie jene Lieder, die ein Bob Dylan und ein Johnny Cash singt. Das heißt, hier auch vom Inhalt – diese Quellen gibt es. Sie werden bei uns nur nicht genutzt. Oder es ist eine Verbindung abgebrochen, ich weiß es nicht. Ich kann auch keine Lieder, keine Liedtexte schreiben, weil ich in mir keine höre. Ich kann Gedichte schreiben. Aber wenn ich dann ein Lied machen will, dann klingt das falsch, irgendetwas stimmt nicht. Und das Schöne war eben, dass ich mit drei Musikern gearbeitet habe, Jazzern, und sofort wurden aus den Gedichten Lieder. Man musste nur ein bisschen umstellen, dann hatte man einen Refrain. Und das sehe ich schon als Gemeinschaftsleistung – allein konnte ich das nicht machen. Das ist für mich ein großes Glück. Und wir sind ja auch aufgetreten, und die Menschen singen mit, und es ist nicht diese verkrampfte, verkopfte Geschichte, sondern es sind einfach Lieder, die etwas erzählen, die poetisch sind, die zwar aus der Literatur kommen, aber doch dann woanders hingehen.

 

Kommen wir trotzdem zurück zu Ihren Erzählungen. Der Protagonist Ihrer zweiten Geschichte in Ort, ‚Terra Nullius‘, lamentiert über das Verschwinden der Vielfalt. Er meint, dass durch die neuen Kommunikationstechnologien der Unterschied zwischen Stadt und Land faktisch aufgehoben ist. Sind Sie da ähnlicher Meinung?

 

Ich würde fast sagen, da müssten wir ihn fragen. Ich war eine Zeitlang am Land und es ist schon so, dass in jedem Fall Entwicklungen schneller am Land sind – sagen wir mal so. Ich weiß nicht, in den 70er-Jahren gab es halt ein Kino, wo man Woodstock gesehen hat. Heute sieht jeder MTV, also jeder Bauernhof ist verkabelt. Auch schon, weil sie ihre Kühe anmelden müssen. Die haben ein eigenes System, damit man auch nachverfolgen kann, wo das Fleisch herkommt. Dann haben die diese gelben Klipse, wenn die geboren werden, wird das eingegeben ins Internet. Also die sind alle im Internet. Nicht mehr so hinterwäldlerisch.
Früher gab es ja Orte, da gab es kein Fernsehen und kein Radio. Das gibt es nicht mehr.

 

Also es gibt nicht nur gläserne Menschen überall, sondern mittlerweile auch gläserne Kühe?

 

Natürlich. Ich glaube auch in Wien ist jeder Baum gezählt, der irgendwo steht. Aber das ist jetzt keine Kritik in dem Sinn. Man bemerkt das halt.

 

Übers Aufwachsen in einer Kleinstadt meint derselbe Protagonist, dass er eben der Rückständigkeit dieser Umgebung seine Erfahrungen zu verdanken hat. Insgesamt scheint er ambivalente Gefühle gegenüber diesem Ort oder Ortstyp zu haben. Sie selbst sind in Graz geboren, in Kärnten aufgewachsen, leben jetzt in Wien. Wie ist denn rückblickend Ihre Position zur Kleinstadt? Ist das auch eine Art Hassliebe?

 

Nein, überhaupt nicht. Also ich empfinde keinen Hass. Man hat dort halt gelebt. Jetzt ist das sowieso etwas anderes. Diese Stadt, in der ich gelebt habe, gibt es ja nicht mehr. Das ist eine Erfahrung, die man ohnehin macht. Das ist jetzt etwas Anderes. Ich bin jetzt auch immer wieder sehr gern in Klagenfurt, weil ich auch sehr viele Leute dort kenne. Es kommt halt darauf an, es ist zum Beispiel im Sommer wunderbar. Im Herbst, wenn es kalt wird, ist es ein bisschen schwierig, weil die Leute auch sehr viel trinken, und da merkt man ein bisschen von der Enge, also von dem Nicht-Hinaus-Können. Aber ich muss dort ja nicht sein. Ich bin Besucher.

 

Der Held der vierten Geschichte, ‚Straßen‘, ist ja die meiste Zeit unterwegs – in mehrerlei Hinsicht, könnte man sagen. Er meint, unterwegs sein ist aus der Welt sein. Wie ist denn Ihre Position zum Reisen? Ist das etwas Angenehmes, etwas Lästiges oder, einfach etwas Notwendiges?

 

Das ist eine gute Frage. Ich bin viel gereist, vor allem viel alleine gereist. Ich glaube, das hat auch mit der Absicht, mit der man reist, zu tun. Ich versuche, wenn ich in eine fremde Stadt komme, dort ganz normal zu leben. Ich habe mein Hotel oder mein Zimmer, und dann fi nde ich mir ein, zwei Lokale, wo ich dann leben kann, und dann versuche ich meinen Alltag dort zu haben. Das ist für mich Reisen. Das Mit-dem-Bus Fahren oder mit dem Zug, Flugzeug ist etwas anderes. Ich bin kein Tourist in dem Sinn. Ich versuche, normal zu leben dort.

 

Also das Wohnen in einem Hotel kann trotzdem Teil vom Alltag sein?

 

Ja. Das kommt ja auch auf das Hotel an. Also die Hotels, die ich mir leisten kann, da kann man wohnen. In den großen Hotels hingegen ist ja auch ein bisschen eine Aufdringlichkeit, diese Geputzte und Gewienerte, und alle diese Leute, die immer etwas wollen. Und wenn man halt in Brasilien in irgendeinem Hotel sitzt, Belo Horizonte, und ein Raum hat 40 Quadratmeter und das Badezimmer zwei und die ganze Front ist verglast, dann ist das schon wieder so interessant, dass man dort ein bisschen leben kann.

 

Entstehen auf Reisen auch neue Texte? Oder brauchen Sie zum Schreiben einen festen Ort oder einen Ortstyp?

 

Ich schreibe überall und immer.

 

Sie haben es schon angesprochen, Sie sind auch Mitglied des Moscow Poetry Club und waren im Rahmen dessen mit einer ganz spannenden Performance bei der letztjährigen Biennale in Venedig vertreten. Nicht nur, dass bildnerische Kunst und Literatur verbunden wurde, auch die verschiedensten Sprachen waren vertreten. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit, wenn die Dichter aus unterschiedlichen Sprachheimaten stammen und die Sprachen in einen Dialog treten?

Es gab dort einen, der hieß Rodionov, vor dem haben sich alle gefürchtet. Der hatte eine Glatze und ein schiefes Gesicht, ein Geburtsfehler und sah aus wie irgendein Skinhead aus London. Und der war so kraftvoll, ich habe zwar kein Wort verstanden, von dem was er gesagt hat, aber es waren einfach die Intensität und die Anwesenheit so stark. Und ich habe ihn gefragt, ob wir etwas machen zusammen, und er hat ja gesagt. Ich habe etwas auf Deutsch gemacht und er auf Russisch. Und das hat anscheinend – ohne dass man jetzt bewusst den Text kannte – es hat so zusammengepasst, dass wir dann noch dreimal eingeladen wurden, das zu wiederholen. Das ist so ein Sein, das ist schwer zu erklären. Das ist auch viel Intuition.

 

Das ist also spontan entstanden.

 

Ja, klar. Das muss man halt können. Das ist so wie improvisieren in der Musik, anstatt nur Stücke vom Blatt spielen. Nein, also das geht schon. Das hat etwas mit Rhythmus, mit Gefühl, mit am Ort Sein, da Sein zu tun.

 

Wie ist generell ihre Beziehung zu anderen Sprachen? Nehmen wir zum Beispiel das Englische. Sie haben aus dem Englischen übersetzt und auch in London gelebt. Wie empfinden Sie die Konfrontation mit anderen Sprachen - gibt es eine Wechselwirkung, Interaktion zwischen den Sprachen, oder auch eine gegenseitige Beeinflussung des Sprachgebrauchs?

 

Ich habe ganz bewusst übersetzt, um Deutsch zu lernen. Man lotet einfach die verschiedenen Schichten und Bedeutungen aus. Und der Parfümierte Garten war für mich sehr wichtig, weil es mir einfach darum ging: Es gilt für die geschlechtliche Liebe in der Literatur, sie ist eigentlich heute nur noch gültig, wo es entweder pornografisch oder obszön ist. Da hat sie eine gewisse Gültigkeit. Sonst ist es romantisch verkitscht. Und mich hat es eben interessiert, ob es dafür eine andere Sprache gibt. Und da habe ich diesen Parfümierten Garten übersetzt und versucht, gültig, aber ohne obszön und pornografisch zu werden, zu übersetzen. Das ist aber inhaltlich ein ähnlicher Prozess wie bei Henry Miller. Und zwar kippt das ganze ins Pornografische in dem Moment, wo ich die Poesie draußen lasse. Wenn ich die Poesie übersteigere, wird es blumig, ist es auch falsch. Es war ganz interessant, ich habe dann eine Übersetzung des Textes gesehen, also nach dem Original, ganz orientalistisch, und das war wie ein technisches Anweisungsbuch und dadurch wie Pornografie. Das wird dann so grauenhaft, wenn man solche Prozesse beschreibt. Was hinzukommt, ist natürlich, dass früher nichts ohne Poesie gedacht wurde.
Also wenn man gebildet oder gelehrt war, war es eine Selbstverständlichkeit, dass man sich auch poetisch ausdrückt oder rhetorisch korrekt. Und wenn ich einen Text aus dem 16. Jahrhundert nur korrekt übersetze, dann wird etwas fehlen. Poesie ist ja auch ein Wissen um das Ganze, um die Stimmigkeit. Wenn ich das draußen lasse, geht es daneben. Insofern war es für mich Übung, Deutschübung.

 

Und wenn man längerfristig von einer anderen Sprache umgeben ist, beeinflusst das das eigene Deutsch?

 

Bei mir nicht. Oder vielleicht beeinflusst es schon, aber nicht für mich merkbar. Ich war sehr lange in Portugal oder in Brasilien – vielleicht wird man weicher, aber es ist nicht bewusst.

 

Um noch einmal auf Kommunikationstechnologien zurückzukommen – Wie ich scheinen Sie zumindest zeitweiliger Leser von Blogs zu sein. Ich habe einen Kommentar von Ihnen im Literaturgeflüster gefunden. Was halten Sie denn von diesen virtuellen Räumen?

 

Da habe ich nur etwas klargestellt. Ansonsten lese ich keine Blogs. Ich lese auch keine Zeitungen. Das Problem ist, dass das keine Gegenwart hat. Das ist wie ein Film. Ein Film hat auch keine Gegenwart, denn ein Film bezieht die ganze Gegenwart von mir, aber ein Film hat so wenig Gegenwart wie ein Untoter meinetwegen. Das Problem bei diesen Technologien ist, dass sie eigentlich ihre ganze Gegenwart oder ihre Präsenz oder ihr ganzes Leben – unter Anführungszeichen – von dem beziehen, der sie bedient, und derjenige merkt das aber nicht. Der denkt, es geht wirklich da etwas vor sich. Es geht aber nichts vor sich – nichts, was er nicht tut. Diese Räume sind sehr gefährlich, weil man sich eigentlich in Räumen aufhält, die ohne Gegenwart sind. Das ist jetzt vielleicht schwer verständlich, weil für mich Gegenwart, Dasein erfüllt ist. Das lebt, da passiert etwas von selber. Ich bin kein Internetgegner in dem Sinn, ich bin aber auch kein Internetbefürworter. Das ist eben nun einmal hier. Es ist ein Medium und man geht damit um.
Ich kann auch ohne Internet, mich stört das nicht. Ich komme ja noch aus einer Zeit, wo man das nicht kennt. Das ist ein bisschen so wie mit Fernsehen. Wenn man einmal zwei Monate weg ist, man hat zwei Monate nicht Nachrichten geschaut, nicht ferngeschaut, dann merkt man eben, man hat nichts versäumt. Es ist nichts passiert.

 

Noch einmal kurz zurück zu realen Orten. Vielen sind Sie ja als Gründer und Verleger der edition selene bekannt. Wie steht es denn um den Verlagsstandort Wien, der, man könnte sagen, einzigen ‚richtigen’ Stadt Österreichs?

 

Ich weiß nicht, ob Wien eine Stadt ist in dem Sinn (lacht)…

 

Der Verlag ist seit 2006 quasi eingefroren. Es gibt nur mehr Lagerabverkauf und er wird – so wie es aussieht – Ende des Jahres geschlossen. Ich habe das halt jetzt – vor allem auch wegen der Autoren – weiter angeboten. Aber jetzt werden dann schon die Kosten ein bisschen größer als die Einnahmen. Ich versuche, die Autoren bei anderen Verlagen unterzubringen. Es fehlt mir ein bisschen die Zeit und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Für mich ist die Verlagszeit also definitiv zu Ende.

 
 

Und dass Sie selbst – schon fast kleinstädtisch – um die Ecke von Ihrem aktuellen Verlag Braumüller wohnen, ist Zufall, oder?

 

Ja. Ich habe das nicht gewusst, gar nicht damit gerechnet. Man denkt sich dann, wo wird der Verlag sein. Das war eben ein Zufall und ein wirkliches Glück.

 

Ich finde es noch immer höchst interessant, dass Sie mit ‚Verortung‘ ein solches Problem haben.

 

Es gibt ein sehr schönes Wort aus den 50er Jahren, das heute niemand mehr gebraucht, das heißt ‚vernutzen‘. Das ist deswegen so schön, weil es für mich auch das beschreibt, was mit uns im Moment passiert. Meine Definition des Systems ist: die optimale Vernutzung des Einzelnen.

 

Vernutzung ist: Man zieht soviel Nutzen wie möglich aus jemandem oder etwas und richtet das aber dabei gleichzeitig zugrunde. Also dieses Ver-, deswegen kann ich mir nicht vorstellen, was ein Verorten sein soll. Was ist das, ist das dann ein Verb?

 
 

Im Sinne von verankern, verwurzeln vielleicht?

 

Verankern gibt es sicher, aber verorten ist ja eine Tätigkeit, also verankert ist man oder, man verankert sich. Aber verorten ist irgendwie so wie vor Ort sein. Man kann nicht vor Ort sein. Die meisten Menschen glauben, wenn sie am Ort sind, sie sind vor Ort. Aber vielleicht ist das möglich, dass man am Ort ist, aber nicht im Ort. Nein, verorten – einen Platz zuweisen, das verstehe ich, aber verorten, ich glaube, dass das gar nicht geht.

 
 

Alfred Goubran

 

Geb.1964, in Graz, aufgewachsen in Kärnten, lebt in Wien. Umfangreiche  literarische Tätigkeit als Schriftsteller, Rezensent, Übersetzer (Der parfümierte Garten, Die gelbe Tapete), Herausgeber (Staatspreis. Der Fall Bernhard) und Verleger (edition selene). Mitglied des Moscow Poetry Club. Zahlreiche Publikationen: Der Pöbelkaiser, Ein Brief, 2002; Tor, Erzählung, 2008; Ort, Erzählungen, 2009; Aus. Roman, 2010

 
Alfred Goubran: Verorten ist für mich verwurschten. Cornelia Hülmbauer