Alfred Goubran
„VERORTEN IST FÜR MICH VERWURSCHTEN“
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Alfred Goubran:
© Gerhard Maurer
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Im Frühjahr 2010 hat Alfred Goubran seinen vielgelobten Erzählband ‚Ort‘ vorgelegt. Grund genug, den Autor, Übersetzer und Verleger im Rahmen des etcetera Ort-Heftes nach seinen Überlegungen zum Thema zu befragen. Cornelia Hülmbauer war am 19. Juli 2010 für die LitGes direkt an ‚seinen Ort’, in seine Wohnung im 9. Wiener Gemeindebezirk, zum Gespräch geladen.
Herr Goubran, das aktuelle etcetera-Heft und Ihr aktueller Erzählband haben sich dem gleichen Überthema verschrieben, nämlich dem Ort.
Darüber gäbe es viel zu sagen. Was ist ein Ort, was ist ein Unort? Hat ein Ort ein Schicksal? Ist man an diesem Ort so, an jenem Ort anders? Also man benutzt diese Worte sehr selbstverständlich. Ort ist für mich ein genauso wesentlicher Begriff wie Gestalt. Gestalt ist ein sehr wichtiger Begriff, wo es sich auch lohnt, ein bisschen weiter zu denken...
Für mich geht es auch um die Unterscheidung: Was ist ein Ort, was ist ein Platz?
Ein Ort hat sehr viel mit Identität zu tun. Ein Ort ist ohne Identität nicht denkbar. Ein Platz schon. Und Ort ist für mich schon ein Buch, in dem es um Identität geht. Mir ging es auch darum, dass ich durch die Geschichten einen Ort schaffe. Die spielen ja auch ineinander... Sie kennen ja vielleicht das Gefühl, dass man an seinem Ort ist. Es gibt einfach solche Orte, wo man sich wohl und zuhause fühlt.
Wobei das nicht immer mit dem Ort selber zu tun hat, oder?
Natürlich, es ist ja ein Zwischenspiel. Aber es gibt einfach Orte, da geht man hin und: Ach! Kennen Sie das nicht?
Doch, natürlich.
Genau. Und das ist Ihr Ort. Da schwingt etwas zusammen. Und deswegen, glaube ich, hat das auch immer etwas mit Identität zu tun. Das Idente. Irgendetwas reagiert da. Und auf solche Sachen draufzukommen, was ist ein Ort, was ist ein Gefüge, das ist, glaube ich, sehr schwierig. Wir hatten vor kurzem mit Freunden eine Diskussion über Eichendorff und da ging es eigentlich darum, dass das Gefüge verloren ist. Diese Gefüge, die Eichendorff noch beschreibt, die kennen wir überhaupt nicht mehr. Der Geiger – die Linde – der Baum, das kennt man nur noch von Ansichtskarten. Dieses Gefüge und dieses Aufgehoben-Sein in einem Gefüge, nicht in einem sozialen Gefüge, sondern in einem Gefüge von Welt, das ist schon ein Daseinsgefühl, das verloren ist und nach dem man sich auch sehnt.
Also eine Art von Ordnung?
Ja, ein Eingebettet-Sein. Und deshalb ist es so schwierig zu beurteilen: Menschen im Mittelalter, was hatten die für eine Daseinsempfindung? Das ist, glaube ich, für uns heute unmöglich. Die wissen ja welche Gaumenfarbe ein Dinosaurier gehabt hat, wenn sie einen Oberschenkelknochen finden, angeblich. Aber mir ist das etwas ganz Fremdes. Und dieses ‚an seinem Ort Sein’, ‚seinen Ort Haben’ – da geht eine große Sehnsucht hin. Auch wegen der Entfremdung.
Was ist denn ‚Ihr Ort’?
Mein Ort. Mein Ort, was ist mein Ort? Also einen Ort habe ich nicht in dem Sinn. Ich würde sagen, mein Ort ist die Welt.
Aber Sie sind auf der Suche nach Ihrem speziellen Ort?
Es ist kein Suchen. Es hat mit Dasein zu tun, mit Gegenwart, mit einem Daseinsgefühl. Diese Wohnung ist sicher mein Ort. Hier fühle ich mich zuhause. Das ist diese Sehnsucht nach Identität – dass das, was man tut, was man sagt, mit einem zu tun hat, und nicht irgendwelche angelesenen oder gehörten Sätze sind, die man wiedergibt. Gegenwart – dahin geht die Sehnsucht. Insofern ist Ort auch ein Sehnsuchtsbuch. Ich glaube als Kind erleben wir alle die Welt als Ort. Und deshalb geht auch später, wenn man Identitätskrisen oder Probleme hat, die Sehnsucht zurück zu diesen Plätzen der Kindheit. Viele Leute fahren ja dann wieder dorthin.
Den Erzählungen in ihrem Buch ist ein Zitat aus Ovids Tristia vorangestellt, die ja gemeinhin als erste Exilliteratur gehandelt werden. Soll uns das als Leser Hinweis sein, dass auch Ihre Texte in gewisser Weise als Exilliteratur zu verstehen sind?
Naja, das ist mir zu programmatisch. Aber es ist schon so, dass man seinen Text in die Fremde schickt. Man schickt das irgendwohin, und man weiß nicht, wo es ankommt. Das Büchlein geht hinaus. Man weiß nichts über das Schicksal. Was mich betrifft als Schreibenden, ich begreife mich nicht im Exil. Also ich finde, das Exil ist auch eine Form von Zugehörigkeit.
Ist es wichtig, sich in irgendwelchen dichterischen Traditionen zu verorten, an etwas anzuknüpfen?
Ja, das ist immer gegeben. Das kann man bewusst nachvollziehen, aber die Affinität, das was schwingt, das was anspricht, das hat immer sehr viel mit der eigenen Eignung oder mit eigenen Möglichkeiten zu tun, die man hat, und das kann man sich nur bedingt aussuchen.
A propos Eignung - wie steht es mit der Verortung in Genres. Ihr aktueller Band besteht aus Erzählungen, Ihr nächstes Buch wird ein Roman. Ist der Erzählband auch chronologisch als Vorstufe zum Roman zu verstehen?
Nein, überhaupt nicht. Also ich finde auch das Wort ‚Verortung‘ schrecklich, weil es das nicht gibt – für mich. ‚Verorten‘ ist für mich so wie ‚verwurschten‘. Also es ist eher abwertend… Das Erzählen geht verschiedene Wege, und ob ich einen Roman schreibe oder eine Erzählung schreibe, der Anspruch ist derselbe. Also auch das suche ich mir nicht aus, die Form. Es kann sein, dass man an einem Text arbeitet und denkt, das wird jetzt 60 Seiten haben, und nach 30 Seiten ist er aus. Und er ist wirklich aus. Dann ist es eine Erzählung. Natürlich muss man, wenn man einen Roman vorbereitet, schon Vorarbeiten machen. Aber es erweist sich dann sehr oft, dass die Vorarbeiten eigentlich nur dafür da sind, um etwas in sich zu beruhigen, weil man dann ja eh ohne Netz arbeitet. Ein Freund hat mir erzählt – ich weiß nicht, ob es stimmt – er hat sich mal die Arbeit gemacht, die Romanpläne und Vorarbeiten von Doderer anzusehen und sie zu vergleichen mit dem, was er tatsächlich geschrieben hat, und das war sehr divergierend.
Man landet dann also doch immer wieder woanders, als man geplant hat.
Ich finde das auch wichtig. Sonst wäre es kein lebendiger Prozess, sonst wäre es nur ein Erfüllen von Aufträgen.
Die Erzählungen in Ort handeln ja gewissermaßen vom Aufbrechen oder vom Zurückkehren. Ihr nächstes Buch, der Roman Aus, wird sich dann vor allem auf – zum Beispiel durch den Tod – Abwesende konzentrieren. Ist das eine logische Folge?
Nein, das Ganze ist nicht so sehr gedacht, das ist organisch, lebendig. Also da gibt es keinen Masterplan und auch kein Kalkül in dem Sinn.
Sie bewegen sich auch an den Grenzen der Disziplin Schreiben. Sie sind neulich beispielsweise zusammen mit Musikern auf den Spuren Gustav Mahlers gewandelt. Es sind auch Gedichte vertont worden. Ist es Ihnen wichtig, solche disziplinübergreifende Arbeit zu machen?
Ich empfinde das gar nicht so. Das ist ja nicht so wie beim Schwimmen, dass man sagt, das ist Brustschwimmen und das andere ist Kraulen. Was konkret das mit der Musik betrifft: Das kommt eigentlich von den Gedichten. Und das hat eine Geschichte: Ich liebe Lieder, nämlich in den letzten Jahren vermehrt sogenannte Volkslieder, das heißt Dylan, Cash, das sind amerikanische Volkslieder, und die speisen sich aber eben alle aus dem Volksliedgut aus dem Irischen, aus dem Amerikanischen. Das geht Jahrhunderte zurück. Diese Tradition war mir überall auffindbar, nur im Österreichischen und Deutschen nicht. Also hier gibt es seit 1945 einen Bruch. Ich war vor einem Jahr eingeladen zu einem Poesiefestival bei der Biennale in Venedig und da habe ich sehr viele Autoren aus Russland, Italien, und so weiter, getroffen. Und die konnten alle ihre Gedichte singen. Wir haben dann alle zusammen gesungen, und weil ich nichts anderes konnte, haben wir dann zusammen auch die Sozialistische Internationale gesungen. Es ist einfach auch die Freude am Singen. Man weiß auch, dass Hölderlin seine Gedichte gesungen hat. Es gab - jetzt abgesehen von diesen Wandervogelliedern – das berühmte Liederbuch der Zupfgeigenhansl. Darin finden sich teilweise Lieder aus dem Dreißigjährigen Krieg. Und diese Lieder sind wiederum so ähnlich wie jene Lieder, die ein Bob Dylan und ein Johnny Cash singt. Das heißt, hier auch vom Inhalt – diese Quellen gibt es. Sie werden bei uns nur nicht genutzt. Oder es ist eine Verbindung abgebrochen, ich weiß es nicht. Ich kann auch keine Lieder, keine Liedtexte schreiben, weil ich in mir keine höre. Ich kann Gedichte schreiben. Aber wenn ich dann ein Lied machen will, dann klingt das falsch, irgendetwas stimmt nicht. Und das Schöne war eben, dass ich mit drei Musikern gearbeitet habe, Jazzern, und sofort wurden aus den Gedichten Lieder. Man musste nur ein bisschen umstellen, dann hatte man einen Refrain. Und das sehe ich schon als Gemeinschaftsleistung – allein konnte ich das nicht machen. Das ist für mich ein großes Glück. Und wir sind ja auch aufgetreten, und die Menschen singen mit, und es ist nicht diese verkrampfte, verkopfte Geschichte, sondern es sind einfach Lieder, die etwas erzählen, die poetisch sind, die zwar aus der Literatur kommen, aber doch dann woanders hingehen.
Kommen wir trotzdem zurück zu Ihren Erzählungen. Der Protagonist Ihrer zweiten Geschichte in Ort, ‚Terra Nullius‘, lamentiert über das Verschwinden der Vielfalt. Er meint, dass durch die neuen Kommunikationstechnologien der Unterschied zwischen Stadt und Land faktisch aufgehoben ist. Sind Sie da ähnlicher Meinung?
Ich würde fast sagen, da müssten wir ihn fragen. Ich war eine Zeitlang am Land und es ist schon so, dass in jedem Fall Entwicklungen schneller am Land sind – sagen wir mal so. Ich weiß nicht, in den 70er-Jahren gab es halt ein Kino, wo man Woodstock gesehen hat. Heute sieht jeder MTV, also jeder Bauernhof ist verkabelt. Auch schon, weil sie ihre Kühe anmelden müssen. Die haben ein eigenes System, damit man auch nachverfolgen kann, wo das Fleisch herkommt. Dann haben die diese gelben Klipse, wenn die geboren werden, wird das eingegeben ins Internet. Also die sind alle im Internet. Nicht mehr so hinterwäldlerisch.
Früher gab es ja Orte, da gab es kein Fernsehen und kein Radio. Das gibt es nicht mehr.
Also es gibt nicht nur gläserne Menschen überall, sondern mittlerweile auch gläserne Kühe?
Natürlich. Ich glaube auch in Wien ist jeder Baum gezählt, der irgendwo steht. Aber das ist jetzt keine Kritik in dem Sinn. Man bemerkt das halt.
Übers Aufwachsen in einer Kleinstadt meint derselbe Protagonist, dass er eben der Rückständigkeit dieser Umgebung seine Erfahrungen zu verdanken hat. Insgesamt scheint er ambivalente Gefühle gegenüber diesem Ort oder Ortstyp zu haben. Sie selbst sind in Graz geboren, in Kärnten aufgewachsen, leben jetzt in Wien. Wie ist denn rückblickend Ihre Position zur Kleinstadt? Ist das auch eine Art Hassliebe?
Nein, überhaupt nicht. Also ich empfinde keinen Hass. Man hat dort halt gelebt. Jetzt ist das sowieso etwas anderes. Diese Stadt, in der ich gelebt habe, gibt es ja nicht mehr. Das ist eine Erfahrung, die man ohnehin macht. Das ist jetzt etwas Anderes. Ich bin jetzt auch immer wieder sehr gern in Klagenfurt, weil ich auch sehr viele Leute dort kenne. Es kommt halt darauf an, es ist zum Beispiel im Sommer wunderbar. Im Herbst, wenn es kalt wird, ist es ein bisschen schwierig, weil die Leute auch sehr viel trinken, und da merkt man ein bisschen von der Enge, also von dem Nicht-Hinaus-Können. Aber ich muss dort ja nicht sein. Ich bin Besucher.
Der Held der vierten Geschichte, ‚Straßen‘, ist ja die meiste Zeit unterwegs – in mehrerlei Hinsicht, könnte man sagen. Er meint, unterwegs sein ist aus der Welt sein. Wie ist denn Ihre Position zum Reisen? Ist das etwas Angenehmes, etwas Lästiges oder, einfach etwas Notwendiges?
Das ist eine gute Frage. Ich bin viel gereist, vor allem viel alleine gereist. Ich glaube, das hat auch mit der Absicht, mit der man reist, zu tun. Ich versuche, wenn ich in eine fremde Stadt komme, dort ganz normal zu leben. Ich habe mein Hotel oder mein Zimmer, und dann fi nde ich mir ein, zwei Lokale, wo ich dann leben kann, und dann versuche ich meinen Alltag dort zu haben. Das ist für mich Reisen. Das Mit-dem-Bus Fahren oder mit dem Zug, Flugzeug ist etwas anderes. Ich bin kein Tourist in dem Sinn. Ich versuche, normal zu leben dort.
Also das Wohnen in einem Hotel kann trotzdem Teil vom Alltag sein?
Ja. Das kommt ja auch auf das Hotel an. Also die Hotels, die ich mir leisten kann, da kann man wohnen. In den großen Hotels hingegen ist ja auch ein bisschen eine Aufdringlichkeit, diese Geputzte und Gewienerte, und alle diese Leute, die immer etwas wollen. Und wenn man halt in Brasilien in irgendeinem Hotel sitzt, Belo Horizonte, und ein Raum hat 40 Quadratmeter und das Badezimmer zwei und die ganze Front ist verglast, dann ist das schon wieder so interessant, dass man dort ein bisschen leben kann.
Entstehen auf Reisen auch neue Texte? Oder brauchen Sie zum Schreiben einen festen Ort oder einen Ortstyp?
Ich schreibe überall und immer.
Sie haben es schon angesprochen, Sie sind auch Mitglied des Moscow Poetry Club und waren im Rahmen dessen mit einer ganz spannenden Performance bei der letztjährigen Biennale in Venedig vertreten. Nicht nur, dass bildnerische Kunst und Literatur verbunden wurde, auch die verschiedensten Sprachen waren vertreten. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit, wenn die Dichter aus unterschiedlichen Sprachheimaten stammen und die Sprachen in einen Dialog treten?
Es gab dort einen, der hieß Rodionov, vor dem haben sich alle gefürchtet. Der hatte eine Glatze und ein schiefes Gesicht, ein Geburtsfehler und sah aus wie irgendein Skinhead aus London. Und der war so kraftvoll, ich habe zwar kein Wort verstanden, von dem was er gesagt hat, aber es waren einfach die Intensität und die Anwesenheit so stark. Und ich habe ihn gefragt, ob wir etwas machen zusammen, und er hat ja gesagt. Ich habe etwas auf Deutsch gemacht und er auf Russisch. Und das hat anscheinend – ohne dass man jetzt bewusst den Text kannte – es hat so zusammengepasst, dass wir dann noch dreimal eingeladen wurden, das zu wiederholen. Das ist so ein Sein, das ist schwer zu erklären. Das ist auch viel Intuition.
Das ist also spontan entstanden.
Ja, klar. Das muss man halt können. Das ist so wie improvisieren in der Musik, anstatt nur Stücke vom Blatt spielen. Nein, also das geht schon. Das hat etwas mit Rhythmus, mit Gefühl, mit am Ort Sein, da Sein zu tun.
Wie ist generell ihre Beziehung zu anderen Sprachen? Nehmen wir zum Beispiel das Englische. Sie haben aus dem Englischen übersetzt und auch in London gelebt. Wie empfinden Sie die Konfrontation mit anderen Sprachen - gibt es eine Wechselwirkung, Interaktion zwischen den Sprachen, oder auch eine gegenseitige Beeinflussung des Sprachgebrauchs?
Ich habe ganz bewusst übersetzt, um Deutsch zu lernen. Man lotet einfach die verschiedenen Schichten und Bedeutungen aus. Und der Parfümierte Garten war für mich sehr wichtig, weil es mir einfach darum ging: Es gilt für die geschlechtliche Liebe in der Literatur, sie ist eigentlich heute nur noch gültig, wo es entweder pornografisch oder obszön ist. Da hat sie eine gewisse Gültigkeit. Sonst ist es romantisch verkitscht. Und mich hat es eben interessiert, ob es dafür eine andere Sprache gibt. Und da habe ich diesen Parfümierten Garten übersetzt und versucht, gültig, aber ohne obszön und pornografisch zu werden, zu übersetzen. Das ist aber inhaltlich ein ähnlicher Prozess wie bei Henry Miller. Und zwar kippt das ganze ins Pornografische in dem Moment, wo ich die Poesie draußen lasse. Wenn ich die Poesie übersteigere, wird es blumig, ist es auch falsch. Es war ganz interessant, ich habe dann eine Übersetzung des Textes gesehen, also nach dem Original, ganz orientalistisch, und das war wie ein technisches Anweisungsbuch und dadurch wie Pornografie. Das wird dann so grauenhaft, wenn man solche Prozesse beschreibt. Was hinzukommt, ist natürlich, dass früher nichts ohne Poesie gedacht wurde.
Also wenn man gebildet oder gelehrt war, war es eine Selbstverständlichkeit, dass man sich auch poetisch ausdrückt oder rhetorisch korrekt. Und wenn ich einen Text aus dem 16. Jahrhundert nur korrekt übersetze, dann wird etwas fehlen. Poesie ist ja auch ein Wissen um das Ganze, um die Stimmigkeit. Wenn ich das draußen lasse, geht es daneben. Insofern war es für mich Übung, Deutschübung.
Und wenn man längerfristig von einer anderen Sprache umgeben ist, beeinflusst das das eigene Deutsch?
Bei mir nicht. Oder vielleicht beeinflusst es schon, aber nicht für mich merkbar. Ich war sehr lange in Portugal oder in Brasilien – vielleicht wird man weicher, aber es ist nicht bewusst.
Um noch einmal auf Kommunikationstechnologien zurückzukommen – Wie ich scheinen Sie zumindest zeitweiliger Leser von Blogs zu sein. Ich habe einen Kommentar von Ihnen im Literaturgeflüster gefunden. Was halten Sie denn von diesen virtuellen Räumen?
Da habe ich nur etwas klargestellt. Ansonsten lese ich keine Blogs. Ich lese auch keine Zeitungen. Das Problem ist, dass das keine Gegenwart hat. Das ist wie ein Film. Ein Film hat auch keine Gegenwart, denn ein Film bezieht die ganze Gegenwart von mir, aber ein Film hat so wenig Gegenwart wie ein Untoter meinetwegen. Das Problem bei diesen Technologien ist, dass sie eigentlich ihre ganze Gegenwart oder ihre Präsenz oder ihr ganzes Leben – unter Anführungszeichen – von dem beziehen, der sie bedient, und derjenige merkt das aber nicht. Der denkt, es geht wirklich da etwas vor sich. Es geht aber nichts vor sich – nichts, was er nicht tut. Diese Räume sind sehr gefährlich, weil man sich eigentlich in Räumen aufhält, die ohne Gegenwart sind. Das ist jetzt vielleicht schwer verständlich, weil für mich Gegenwart, Dasein erfüllt ist. Das lebt, da passiert etwas von selber. Ich bin kein Internetgegner in dem Sinn, ich bin aber auch kein Internetbefürworter. Das ist eben nun einmal hier. Es ist ein Medium und man geht damit um.
Ich kann auch ohne Internet, mich stört das nicht. Ich komme ja noch aus einer Zeit, wo man das nicht kennt. Das ist ein bisschen so wie mit Fernsehen. Wenn man einmal zwei Monate weg ist, man hat zwei Monate nicht Nachrichten geschaut, nicht ferngeschaut, dann merkt man eben, man hat nichts versäumt. Es ist nichts passiert.
Noch einmal kurz zurück zu realen Orten. Vielen sind Sie ja als Gründer und Verleger der edition selene bekannt. Wie steht es denn um den Verlagsstandort Wien, der, man könnte sagen, einzigen ‚richtigen’ Stadt Österreichs?
Ich weiß nicht, ob Wien eine Stadt ist in dem Sinn (lacht)…
Der Verlag ist seit 2006 quasi eingefroren. Es gibt nur mehr Lagerabverkauf und er wird – so wie es aussieht – Ende des Jahres geschlossen. Ich habe das halt jetzt – vor allem auch wegen der Autoren – weiter angeboten. Aber jetzt werden dann schon die Kosten ein bisschen größer als die Einnahmen. Ich versuche, die Autoren bei anderen Verlagen unterzubringen. Es fehlt mir ein bisschen die Zeit und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Für mich ist die Verlagszeit also definitiv zu Ende.
Und dass Sie selbst – schon fast kleinstädtisch – um die Ecke von Ihrem aktuellen Verlag Braumüller wohnen, ist Zufall, oder?
Ja. Ich habe das nicht gewusst, gar nicht damit gerechnet. Man denkt sich dann, wo wird der Verlag sein. Das war eben ein Zufall und ein wirkliches Glück.
Ich finde es noch immer höchst interessant, dass Sie mit ‚Verortung‘ ein solches Problem haben.
Es gibt ein sehr schönes Wort aus den 50er Jahren, das heute niemand mehr gebraucht, das heißt ‚vernutzen‘. Das ist deswegen so schön, weil es für mich auch das beschreibt, was mit uns im Moment passiert. Meine Definition des Systems ist: die optimale Vernutzung des Einzelnen.
Vernutzung ist: Man zieht soviel Nutzen wie möglich aus jemandem oder etwas und richtet das aber dabei gleichzeitig zugrunde. Also dieses Ver-, deswegen kann ich mir nicht vorstellen, was ein Verorten sein soll. Was ist das, ist das dann ein Verb?
Im Sinne von verankern, verwurzeln vielleicht?
Verankern gibt es sicher, aber verorten ist ja eine Tätigkeit, also verankert ist man oder, man verankert sich. Aber verorten ist irgendwie so wie vor Ort sein. Man kann nicht vor Ort sein. Die meisten Menschen glauben, wenn sie am Ort sind, sie sind vor Ort. Aber vielleicht ist das möglich, dass man am Ort ist, aber nicht im Ort. Nein, verorten – einen Platz zuweisen, das verstehe ich, aber verorten, ich glaube, dass das gar nicht geht.
Alfred Goubran
Geb.1964, in Graz, aufgewachsen in Kärnten, lebt in Wien. Umfangreiche literarische Tätigkeit als Schriftsteller, Rezensent, Übersetzer (Der parfümierte Garten, Die gelbe Tapete), Herausgeber (Staatspreis. Der Fall Bernhard) und Verleger (edition selene). Mitglied des Moscow Poetry Club. Zahlreiche Publikationen: Der Pöbelkaiser, Ein Brief, 2002; Tor, Erzählung, 2008; Ort, Erzählungen, 2009; Aus. Roman, 2010