Der männliche Körper. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Der männliche Körper
Zwei Ausstellungen unter die Lupe genommen

 
   
 

„Nackte Männer von 1800 bis heute“ im Leopold Museum, Museumsquartier Wien (19.10.12 - 28.01.13)
„Der nackte Mann“ im Lentos Kunstmuseum Linz (26.10.12-17.02.13)

Innerhalb nur weniger Tage eröffneten im Oktober 2012 zwei renommierte österreichische Museen Ausstellungen mit beinahe wortidenten Titeln, die sich mit dem männlichen Körper - also in seiner Nacktheit - von Grund auf befassten: Das Leopold Museum im Museumsquartier Wien und das Lentos in Linz.
Ein Vergleich der beiden Ausstellungen bietet sich daher an und wurde von einigen Kritikern auch in diversen Zeitungen gebracht. Was zunächst aussah wie ein Wettstreit zwischen den Museen, stellte sich bald als vielfaltige Aufarbeitung eines schon langst überfälligen, brisanten Themas heraus.
Warum die beiden Museen sich nicht zusammengeschlossen hatten?, mochte man sich zunächst fragen. Erst als Direktorin Stella Rollig für die Ausstellung im Lentos Tobias G. Natter, Direktor des Leopold Museums um Leihgaben u.a. eines Schieles bat, wurde man des gleichen Vorhabens gewahr.
Eine nachträglich angebotene Kooperation mit dem Museum Leopold schlug das Lentos aus, da es bereits mit dem Ludwig Museum der Gegenwart in Budapest gemeinsame Sache machte.
Interessant bei den beiden Ausstellungen ist, dass, obwohl etliche gleiche Künstler - jedoch mit verschiedenen Werken - zur Aufarbeitung des Themas herangezogen wurden, dennoch ein völlig andere Perspektive zum Thema geboten wurde.
Es ließe sich kurz und bündig zusammenfassen, dass das Museum Leopold eine seriöse, sachliche Basis eines kunsthistorischen Blickwinkels vermittelte, wahrend das Lentos seinen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung des gesellschaftlichen Tabus im sozialgesellschaftlichem Background des männlichen Körpers an sich legte und gleichzeitig die irritierende Frage hinterließ: Was ist männlich?
Beide Ausstellungen stellten somit eine Ergänzung zueinander dar. Hierzu lieferten die Museen Lentos und Leopold jeweils für sich einen bemerkenswerten Ausstellungskatalog mit aussagekräftigen Textbeitragen.*
Bei genauerer Betrachtung konnte man schon in den geringfügigen Titelabweichungen einen klaren Unterschied feststellen. „Nackte Männer. Von 1800 bis heute“ weist bereits grammatikalisch auf eine undefinierte Subjektwahl.

Es geht also um die generelle Analyse des nackten männlichen Körpers in einem bestimmten Zeitabschnitt. Mit dem Titelattribut „Von 1800 bis heute“ druckten die Kuratoren Elisabeth Leopold und Tobias G. Natter ein klares Understatement aus. Befanden sich in der Schau doch Skulpturen wie die ägyptische „Standfigur des Hofbeamten Snofruneter“ um 2400 vor Chr. [1] oder der Abguss des „Jüngling vom Magdalensberg“ aus dem 16. Jahrhundert [2] sowie auch Gemälde aus dem Klassizismus „Der Aktsaal der Wiener Akademie im St. Anna-Gebäude“ (1787) von Martin Ferdinand Quadal und „Dädalus und Ikarus“ (1799) von Charles Paul Landon, die die Zeit des Klassizismus und der Aufklärung weit übertrafen. Die ausgezeichneten Exponate aus der eigenen Sammlung - wie Meisterwerke von Anton Kolig und Richard Gerstl, und natürlich

Schiele - sowie Leihgaben inländischer und ausländischer Institutionen und privater Sammlungen, die man in dieser Schau sehen konnte, beweisen die ausgezeichnete historische Recherche zur Klassischen Moderne, dem zweiten Schwerpunkt der Schau. Als Raritäten konnte man die „Sieben Badende“ [3] von Paul Cézanne oder auch „Badende Männer“ [4] von Edvard Munch anfuhren, als Kuriosität der „Heilige Sebastian“ [5], ein Selbstportrait des Malers Alfred Courmes (1934) u.v.a.m. Aufschlussreich präsentiert sich der kurze Essay des Kurators Tobias G. Natter und Stefan Kutzenberger „Geschlechterkampf und Verweigerung“ (Katalog Leopold: S. 261), in dem mit nur wenigen Ausnahmen wie Alfred Kubins „Krampf“ (1900) oder Gustav Klimts „Kuss“ (Studie, 1902) darauf hingewiesen wird, dass vor und noch um 1900 die Sexualität des Mannes immer hinter dem „schonen Geschlecht“, also den Frauenkörpern versteckt wurde und somit der Mann die Rolle eines Statisten einnahm.

Der dritte Schwerpunkt der Ausstellung im Leopold Museum richtete sich auf die Zeit nach 1945. Besonders dabei hervorzuheben ist die Perspektive des weiblichen Blicks. Alexandra Matzner analysiert in ihrem Essay (S. 271), diesen und zwar jüngsten Blick in der Kunstgeschichte, da Frauen der Zugang zu den Akademien Europas jahrhundertelang verwehrt blieb. Ausnahme blieb die Malerin Angelika Kaufmann, die bei der Tätigkeit einen männlichen Gipstorso abzeichnend malerisch von Nathaniel Dance festgehalten wurde (1764-66). Anhand von Louise Bourgeois und Maria Lassnig [7] beschreibt Matzner, wie sich erst in den 1970er Jahren eine neue Perspektive des weiblichen Blicks auf den Mann, seinen Körper und dessen männliche Attribute entwickelte.
Einerseits entfaltete sich eine Art weiblicher Beschützerinstinkt, andererseits eine Identifizierung der Frau mit dem um sein Schicksal ringenden Mann.

Viel selbstverständlicher konnten Künstlerinnen aus der spateren Generation, wie Matzner am Beispiel der 1970 geborenen österreichischen Künstlerin Elke Krystufek zeigt, mit der männlichen Nacktheit umgehen und damit das weibliche Begehren in Zusammenhang bringen. Die zwischen Voyeurismus und heimlicher Überwachung tendierende Videoinstallation der 1963 geborenen Polin Katarzyna Kozyra, welche bereits 1999 auf der Biennale in Venedig präsentiert worden war, wurde im Museum Leopold wie auch im Lentos aufgebaut. In einem intimen achteckigen Raum zeigt Kozyra vielmehr dokumentarisch als sinnlich die Situation eines männlichen Dampfbades in Budapest. Ein Video bezeugt, wie sie sich hierfür mühsam als Mann verkleidete, um vor Ort männliche Körper jenseits des üblichen Schönheitsideals bei der Routine der Körperpflege versteckt zu filmen.
Die US-Fotografin Nan Goldin hingegen dokumentierte die exzessiven 1980er Jahre der New Yorker Subkultur. Mit dem Stonewall-Aufstand und der Aids-Krise thematisierte sie die Schwulen- und Transsexuellen-Szene.

Als Gegenpart zeigte das Leopold Museum auch den männlichen Blick, der jedoch nur von der homoerotischen Perspektive wahrgenommen wird/wurde. So sind Werke von Jean Cocteau, Pierre Molinier, David Hockney, Gilbert & George, Andy Warhol und als absolutes Highlight „Man at a washbasin“ (1989/90) von Francis Bacon zu sehen. Der vom Lentos gewählte Titel „Der nackte Mann“ ging hingegen mit seinem sich im Singular befindenden definiten Artikel eindeutig auf die Konkretisierung des Individuums ein. Dementsprechend zerstückelten die drei Kuratorinnen Sabine Fellner, Elisabeth Nowak-Thaller und Stella Rollig den männlichen Körper in „Einzelteile“ und gaben damit einen viel intensiveren emotionellen Zugang zum Thema ab. So zergliederten sie den nackten Mann subtil in all seine Kontroversen. Einerseits wurde das männliche Ich, die künstlerische Darstellung des Aktes, das Posieren, das männliche Machtstreben samt Bizeps- und Penis-Fixiertheit, der Adam als Urbild der Menschheit mit der fragilen Seite des hüllenlosen Mannes durch den Knaben, das Alter, die Homosexualität und den Schmerz konfrontiert.

Der nackte Mann schien bis dahin unsichtbar. Die Lentos Ausstellung erzählt vom Mann, der sich von der jahrhundertalten Überlieferung des mythologischen Helden und christlichen Märtyrers entfernte, und sich durch die Dekonstruktion der traditionellen männlich orientierten Werte in eine Identitätskrise manövrierte. Die Suche nach Alternativen zeigt die Auseinandersetzung mit Schwache und Verletzlichkeit, weist auf Gefühle des Begehrens und Sinnlichkeit.
Die Schau enthüllt, wie sich der Mann seit dem letzten Jahrhundert neu erfindet, aber auch wie selbstbewusste Künstlerinnen sich ein Sujet eroberten, das ihnen lange verboten war. (Katalog Lentos: S. 6)
Besonders interessant bei der Eröffnung der Ausstellung bot sich der Raum mit dem Titel „Penis“. Der von außen bereits kaum übersehbare Videobeitrag „An Druck auf die Eier“ (1999) des 1971 in Fürstenfeld geborenen Franz Kapfer entmutigte schon viele Besucher den Raum zu betreten.
Ein nackter Mann mit einer Hoden-Badehaube am Kopf und einem um die Lenden umgeschnallten ein Meter langen schwarzen Penis muht sich im Kreis herumschwirrend mit der Last, die er zu ertragen hat, ab. In der finstersten Ecke des Raums befand sich eine Mini-Videoskulptur „On/ Off“ (1999) der 1970 in St. Petersburg geborenen Künstlerin Anna Jermolaewa. Das Video zeigt den Vorgang wie ein gewöhnlicher Lichtschalter ein- und ausgeschaltet wird. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es sich bei dem in Aktion befindenden vermeintlichen Finger, um einen erigierten (nackten) Penis handelt. Dieses 15 Sekunden Video verursachte besonderen Ekel bei den wenigen Betrachtern. So kann Jermolaewas ausgestellte Arbeit als symbolisch repräsentativ gewertet werden.
Das Körper- und Sexualbewusstsein bei Mann und Frau unserer heutigen Gesellschaft durfte sich noch bei der mehr in Pastellfarben angelegten Sexualität der Impressionisten aufhalten und zeigt eine absolute Gespaltenheit zwischen Theorie und Praxis und nicht ein befremdetes mit Abscheu gezeichnetes Abwenden.

Überhaupt konnte man während der von Besuchern überfüllten Eröffnung der Ausstellung allgemein feststellen, dass alles, was sich in Zusammenhang mit der Sexualität nur erahnen ließ, mit großem Abstand überhaupt wahrgenommen werden wollte oder gar gemieden wurde. Beispielhaft sind hierfür Fotografien der Wiener Aktionisten Rudolf Schwarzkogler und Gunter Brus (Kat. Lentos: S. 306/ S. 294), die auch im Museum Leopold mit anderen Fotografien vertreten und im Lentos unter dem Schwerpunkt „Schmerz“ zu sehen waren. In diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben ist die bekannte und detailfreudige Bleistiftzeichnung ohne Titel (1979) des finnischen Künstlers Tom of Finland (Katalog Lentos: S. 144). Sie wurde mit einem schwarzen Tüllstoff verhängt präsentiert. Um sie zu sehen, musste der Betrachter aktiv werden und selbst den Vorhang lüften. Dabei konnte allerdings der psychologische Effekt, als Voyeur enttarnt zu werden, eintreten. Konfrontiert mit den vielen Aspekten des nackten Mannes war die stetig wachsende Verunsicherung bei den Besuchern fühlbar. So verursachte die Mixed Media Skulptur „Mann in Decken“ (2001) des 1958 australischen Künstlers Ron Mueck, welche auf einem niedrigen Sockel präsentiert wurde, bereits Unbehagen aus. Dabei handelt es sich um einen mittelalterlichen erwachsenen nackten Mann, der wie ein Baby in Originalgroße in rosa Decken gehüllt in einem Körbchen in Embryostellung schlummert. Alleine der Ausbruch mancher Besucher: „Jo, schau wie niedlich“, loste bei den angehenden Betrachtern Argwohn aus und vermied hinzusehen oder gar hinzugehen. So in etwa ließe sich noch lange die Ambivalenz, die diese Schau verursachte, beschreiben.

Es liegt wohl an den drei Kuratorinnen, wie subtil sie in diesem Konzept vorgegangen sind. Letztendlich kann ich persönlich behaupten bei der Eröffnung eine doppelseitige Ausstellung präsentiert bekommen zu haben. Zum einen die Ausstellung der Werke an sich, zum anderen das Verhalten der Besucher, das bisweilen eigenartig befremdend wirkte, nicht aber die Künstler mit ihren Werken an sich.

Natürlich fehlten in beiden Ausstellung nicht die berühmten „Human locomotion photographs“ des britischen Fotografen und Pioniers der Fototechnik Eadweard Muybridge, dessen „Hauptaugenmerk dem menschlichen Körper und seiner Muskulatur galt. Seine Serienaufnahmen von nackten und angezogenen männlichen wie weiblichen Menschen, auch Kindern und Behinderten galten als revolutionär und ermöglichten vielen Menschen in den verschiedensten Berufssparten eine Weiterentwicklung. Nicht zuletzt galt und gilt er nach wie vor für Künstler als eine Ikone, seine Sammlung als Bibel, weil er ihnen verhalf, die Richtung zu einer neuen Betrachtungsweise einzuschlagen. Zuletzt war Francis Bacon einer der Maler, die diese Bewegungsablaufe am modernsten umzusetzen vermochten.“ [8]

Außerordentlich ist, dass sich beide Ausstellungen ebenfalls mit dem Körperkultur unter dem Nationalsozialismus befassten. Erwähnenswert ist hierbei der Essay von Paula Diehl im Lentos-Katalog S. 37 ff. Zwei bemerkenswerte Ausstellungen über die Entwicklung des männlichen Körpers und somit auch der weiblichen und männlichen Sexualität der Gegenwart, die bereits 100 Jahre zuvor mit Klimt, Schnitzler und Freud schon einmal in Osterreich ihren Anfang genommen hatte und für die Zukunft wegweisend war.

* Hg. Tobias G. Natter und Elisabeth Leopold: Nackte Männer von 1800 bis heute. München: Hirmer Verlag, 2012. 348 S.
Hg. Lentos Kunstmuseum Linz & Ludwig Museum der Gegenwart Budapest: Der nackte Mann - The naked man. Zwei Volumen. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2012.

[1] ägyptisch, Altes Reich, spate 5. Dynastie, um 2400 v. Chr. Kalkstein, bemalt. Kunsthistorisches Museum Wien mit MVK und OTM, Ägyptisch-Orientalische Sammlung.
[2] Abguss des 16. Jhdts. nach römischen Original. Bronze, Hohlguss. Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung.
[3] um 1900. Öl auf Leinwand. Fondation Beyeler, Riehen/Basel.
[4] 1915. Öl auf Leinwand. Munch Museum, Oslo
[5] 1934. Öl auf Leinwand. Centre Pompidou, Paris
[7] Louise Bourgeois: franz.-US-Bildhauerin (1911-2010); Maria Lassnig: österr. Malerin und Medienkünstlerin (geb. 1919)
[8] Aus der LitGes Rezension (Ingrid Reichel): Eadweard Muybridge.
The Human and Animal Locomotion Photographs. Hans Christian Adam (Ed.). Koln: Taschen Verlag, 2010.

Erschienen im etcetera Nr. 52/ Körper/ Mai 2013

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