Michel Nedjar: Galerie Gugging. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel
Der Puppenmacher und Seelenfänger in Gugging
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Michel Nedjar
Galerie Gugging
Vernissage: 05.06.13, 19 Uhr
Ausstellung: 06.06. - 03.11.2013
Nach der Retrospektive „Michel Nedjar - animo.!“ im Museum Gugging 2008 sind nun einige Werke des großen französischen Art Brut Künstlers Michel Nedjar in der Galerie Gugging wiederzusehen und können dort auch erworben werden. Dreißig Arbeiten auf Papier bzw. Karton in diversen Formaten und sieben kleinere Puppen wurden für diese kleine aber ausgezeichnete Schau ausgewählt. Die Bilder sind vorwiegend auf wiederverwertetem Karton entstanden, wie etwa auf der Rückseite einer Cornflakes- oder Reispackung. Schicht um Schicht malt Nedjar in den verschiedensten Materialien, klebt, übergießt mit Wachs, zerknittert und bügelt wieder glatt. In erdig und naturbelassenen Farben sind Tiere, Menschen, Masken und Fetische in ihrer Ursprünglichkeit abgebildet. Die Reichhaltigkeit Nedjars Mixed Media ist kaum zu überbieten, die Werke bleiben jedoch immer im Primitivismus verhaftet, erinnern einerseits an Fels- oder Höhlenmalereien aus dem Paläolithikum, andererseits an mexikanische oder afrikanische Eingeborenen-Kunst. Trotz der erstklassigen Bilder bleiben jedoch Nedjars außergewöhnliche Puppen die Hauptattraktion.
Michel Nedjar wurde 1947 in Soisy-sous-Montmorency (Val-d'Oise/Frankreich) als Sohn jüdischer Immigranten geboren. Sein Vater stammte aus Algerien, seine Mutter aus Polen. Der Großteil der Familienmitglieder wurde jedoch während des Dritten Reichs ermordet. Der Film „Nuit et brouillard“ (Nacht und Nebel) von Alain Resnais aus dem Jahr 1955 verschaffte Nedjar nicht nur Zugang zur eigenen Familiengeschichte, sondern vermittelte ihm das Ausmaß des Genozids. Als Kind nahm er sich der Teile der kaputten Puppen seiner Schwestern an und band sie zu eigenwilligen Gebilden zusammen mit denen er ungestört agieren konnte. Damals war es generell in traditionellen Familien, Buben nicht erlaubt mit Mädchenspielzeugen wie Puppen zu spielen. So entstand bereits im frühen Kindesalter ein sinnlicher Bezug mit symbolischen Charakter zu Stoffen. Mit 15 Jahren trat Michel Nedjar in die Fußstapfen des Vaters und begann eine Schneiderlehre, vermutlich auch, um später den familiären Betrieb zu übernehmen. Nach seinen Lehrjahren arbeitete Nedjar in verschiedenen Modeateliers und trug sich auch mit dem Gedanken Modezeichner zu werden. Eine Lungenkrankheit jedoch gab seinem Leben eine andere Richtung. Zwischen 1970 und 1975 begann er große Reisen zu unternehmen, die ihn von Marokko nach Mexiko und über Asien führten. Die Reisen waren Quelle einer Flut von Inspiration, und Nedjar begann sich mit dem Totenkult verschiedenster Kulturen künstlerisch auseinanderzusetzen. Die ersten „Poupées“ mit künstlerischer Qualität entstanden aus einer Mischung von gesammelten Lumpen und anderem Abfall, die zur Vollendung in Schlamm und Tierblut getränkt wurden und nach dem Austrocknungsprozess eine harte, raue, brüchig erscheinende fragile Konsistenz aufweisen. Nedjars Puppen und Masken besitzen keine Augen, alleine ihre tiefen Augenhöhlen geben Einblick in ihre Seelenwelten. Es war Madeleine Lommel (Gründerin und Direktorin - 1982-2009 - der Art-Brut-Sammlung l’Aracine), die ihn bei seiner ersten Ausstellung in Paris entdeckte und ihn an Jean Dubuffet, den „Erfinder“ der Art-Brut weitervermittelte. Dies war der Beginn einer großen künstlerischen Karriere im Sinne der Art-Brut-Tradition, eine Kunst, die nicht nur Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung zugeschrieben wird, sondern auch Autodidakten, die sich wider einer akademischen Ästhetik in einer unkonventionellen aber originären Kunstform künstlerisch betätigen.
Mittlerweile sind Nedjars Puppen luftiger und bunter, man könnte sagen lebensfroher geworden. Als Grund gibt Nedjar die Vorbereitung zu einer Ausstellung im Musée d’Art et d’Histoire du Judaïsme, Museum für jüdische Kunst und Geschichte in Paris anlässlich des jüdischen Festes Purim, das an die Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr in der persischen Diaspora erinnert, aber laut Nedjar im Katalog Seite 28 als ein Kostümfest vor allem für Kinder beschrieben wird. So fand Nedjar wieder einen Zugang zu den Puppen seiner Kindheit.
Sehr empfehlenswert ist der umfassende zweisprachige (englisch-deutsch) Katalog Animo.! zur Retrospektive im Museum Gugging 2008 mit von Sylvia Kummer zusammengestellten Statements von Michel Nedjar. Markus Landert lieferte eine detaillierte Analyse.
Ein Besuch nach Gugging lohnt sich! Im Foyer wird übrigens der höchst interessante Video-Dokumentarfilm aus dem Identitäts-Projekt der Künstlerin Sylvia Kummer „Michel Nedjar, wer bist du?“ (2007) gezeigt. Dafür sollte man sich Zeit nehmen!
LitGes, Juni 2013