Alice Harmer: Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin

Cornelia Stahl

Alice Harmer:
Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin

Oberwart: edition lex liszt
2020, 146 Seiten
ISBN: 978-3-99016-169-2

Blumen und Beziehungen. Menschen, Tiere und Blumen gedeihen am besten im liebevollen Miteinander. Dieses wechselseitige, beziehungsreiche Ineinandergreifen spiegelt die Autorin, Meisterin der Kurzform, im vorliegenden biographisch grundierten Roman. Umkreisungen menschlicher Beziehungen zwischen Eltern und Kind, Therapeutin und Klientin sowie zwischen Ärzten und Patienten loten, atmosphärisch aufgeladen, Schieflagen ungleicher Machtgefüge aus. Breiten Raum nimmt die Erzählung um die schwächelnde, namenlose, mit einer Nummer versehenen Greisin ein, die, gefangen im getakteten Krankenhausalltag, ihren Lebensabend in durchnummerierten Räumen verbringt.
Memorierte Erinnerungen fügen sich als Puzzleteile zu einem Bild: barfuß, ungeduldig, möchte sie es den älteren Geschwistern gleichtun oder diese überholen. Metaphorisch wirkt das Erklimmen der Dachschindeln. Träume vom weit fortfliegen leuchten auf. Liebevoll „Zizibe“, „Herzbinkerl“ und „mein Engerl“ genannt, durchbricht die Nachzüglerin Familienordnungen, stellt festgezurrte Gewissheiten infrage.
Innere Monologe und Tagebuchaufzeichnungen heben sich optisch in kursivem Schriftbild vom übrigen Prosatext ab. Montierte Wortfetzen verleihen dem Gesamtwerk Lebendigkeit. Mitunter überlagern sich Stimmen und Akteurinnen. Parallelen zu Marie Luise Kaschnitz gleichnamiger Erzählung „Haus der Kindheit“ sind erkennbar, ebenso Splitter burgenländischer Auswanderergeschichte (Theodora Bauer „Chicago“, 2017). Eigene Zeichnungen ergänzen das Werk idealerweise.
Ein tiefgründiger, fein komponierter Roman, der von den Besonderheiten burgenländischer Lebensart erzählt.

Alice Harmer, geboren 1945, gehört neben Karin Ivancsics, Petra Ganglbauer und Raoul Eisele zu den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen burgenländischer Literatur. Letzte Veröffentlichung: Die Farbe der Veränderung, edition lex liszt, 2018

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