Elke Steiner: Die Frau im Atelier

Cornelia Stahl

Elke Steiner:
Die Frau im Atelier

Graz: Edition Keiper
2021, 174 Seiten
ISBN: 9783903322394

Wie viel Wahrheit ist dem Menschen zumutbar?
Die Aussage Ingeborg Bachmanns „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ begleitete mich beim Lesens des vorliegenden Romans und verwandelte die Aussage in eine Frage, die sich auf den Protagonisten Marius bezieht.
Marius lebt als Künstler zurückgezogen in seinem Atelier, meidet Publikum, Ausstellungen, bleibt der Öffentlichkeit fern. Das Mischen besonderer Farben, insbesondere des Dunkelgold, gelingt nur ihm. Doch wer verbirgt sich hinter dem wiederkehrenden Sujet, die er stets in verschiedenen Positionen malt, jedoch den Blick auf ihr Gesicht vermeidet. Und was hat es mit seiner Mütze auf sich, die er täglich trägt, selbst nachts.
Warum Marius Begegnungen meidet, bleibt dem Lesenden lange verborgenen. Als Colette eines Tages auftaucht, ist es vielleicht ihre Unvoreingenommenheit, die es ermöglicht, Marius Vertrauen zu gewinnen und sein Schweigen zu brechen.
Rückblickend lässt er sein Leben Revue passieren, das Leben mit Adele, seiner Mutter, die ihn eines Tages verlässt, nicht mehr erwacht. Marius, damals noch ein Kind, fühlt sich schuldig. „Die Mutter ist immer noch nicht wach, das Kind weint und weiß nicht mehr, ob das alles ein böser Traum ist“ (S.123).
An die kindliche Deutung des Todes als einen langen Schlaf erinnert sich Marius und fühlt eine brennende Schuld bis ins Erwachsenenalter hinein. Colette, der er seine Lebensgeschichte anvertraut, widerspricht ihm: „Kein Kind hat jemals Schuld“ (S.171).
In einfühlsamer Sprache erzählt Steiner von den Langzeitwirkungen traumatischer Lebensereignisse, und von deren Überwindung.
Elke Steiner, geboren 1969, lebt in Wien und im Burgenland. Nach ihrem Debüt 2018 „Über das Licht gedreht“ ist vorliegende Veröffentlichung ihr zweiter Roman.

Mehr Kritiken aus der Kategorie: