Matthias Jügler: Die Verlassenen

Cornelia Stahl

Matthias Jügler:
Die Verlassenen

München: Penguin-Verlag
2021, 176 Seiten.
ISBN: 978-3-328-60161-6

Vom Verschwinden und dem ruhelosen Versuch, Leerstellen im Lebenslauf zu füllen, erzählt Matthias Jügler in seinem Roman „Die Verlassenen“, sein zweiter nach dem 2015 erschienenen Debüt „Raubfischen“. Johannes, Anfang der 1980er Jahre in der DDR aufgewachsen, blickt auf eine Kindheit zurück, die alles andere als glücklich war. Vom Vater verlassen, holt ihn die Wucht zurückliegender Ereignisse im Erwachsenenalter ein, Momente, die er jahrelang verdrängte und vergessen wollte. Nach dem Tod der Mutter und Großmutter, bei der er nach Verschwinden des Vaters lebte, hat er mit der Vergangenheit abgeschlossen, hat sich eingerichtet in seinem Leben als Eigenbrötler, meidet Kontakte, zieht sich zunehmend in sich zurück. Als er beim Aufräumen einen Brief, adressiert an den Vater, findet, bricht die Vorstellung seines konstruierten Lebens zusammen und er beginnt, Kindheitsjahre wie Puzzleteile neu zusammenzusetzen.
Teilweise gelingt es ihm, doch mit seiner Reise nach Norwegen entdeckt er das Doppelleben seines Vaters, welches dieser jahrzehntelang führte. Ein Haus aus schillernden Fassaden, Lügen und Verrat zerbricht. Der Ich-Erzähler memoriert DDR-Geschichte und lässt Gedanken einfließen, die stellvertretend für mehrere Generationen stehen und bis in die Gegenwart hineinwirken: „Ich habe mich längst mit der Gewissheit angefreundet, dass ich nie alles verstehen werde und dass es Dinge gibt, die für immer im Verborgenen bleiben“. (S.160). Ein mitreißender Roman, der durch Tiefe besticht und nach Lesepausen verlangt. Unbedingt lesen! Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Oslo und Greifswald sowie am Literaturinstitut Leipzig. Jügler zählt neben Peter Wawerzinek und Birgit Vanderbeke zu den wichtigsten literarischen Stimmen erzählter DDRGeschichte und erobert somit die Herzen der Lesenden.

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