Shelly Kupferberg: Isidor

Cornelia Stahl

Shelly Kupferberg:
Isidor

Ein jüdisches Leben
Zürich: Diogenes Verlag AG.
2022, 250 Seiten
ISBN: 978-3-257-07206-8

Schatten der Vergangenheit im Spiegel gegenwärtiger Familiengeschichten. Shelly Kupferberg erzählt die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihres Urgroßonkels Isidor (Ignaz) Geller (1890 -1938), der einst als Kommerzialrat und Multimillionär in Wien agierte. 1938, als Jude von den Nazis gequält, starb Isidor im November 1938 an den Folgen seiner Haft.
In der Tel-Aviver Wohnung, die den Großeltern Kupferbergs gehörte, fand die Autorin Briefe und Fotos aus dem Familienbesitz, die bis ins Jahr 1920 zurückreichen. Kupferberg gibt Einblicke in ihre Herkunftsfamilie, die im Umkreis von Czernowitz beheimatet war. Jede Familiengeschichte enthält Facetten von Weltgeschichte.
Die Autorin hat in Archiven recherchiert und ihre Familiengeschichte für Leser*innen aufgeschrieben. Mitunter erzählt sie sehr privat, individuell und lässt den Gesamtzusammenhang am Rand. Kupferbergs Großvater Walter verabschiedet sich 1938 vor der Abreise nach Palästina von seinem Onkel Isidor: „Zu gern hätte der junge Mann Isidor gefragt, warum er die Zeichen der Zeit nicht gesehen hatte, nicht hatte sehen wollen (…). Doch Walter wagte es nicht, Isidor darauf anzusprechen“, S. 209.
Spannend liest sich das Interview am Ende des Buches. „Die Recherche hat ein detektivisches Gen in mir geweckt“, gesteht Kupferberg. Im Österreichischen Staatsarchiv Wien stieß sie auf zahlreiche Fundstücke, die sie in den Text einfließen lässt. Melancholisch stimmt die Erzählung um David, den älteren Bruder Isidors. Im Ersten Weltkrieg bekam seine wohlgeordnete Welt Risse.
Nach der Diagnose paranoider Schizophrenie verbrachte David seinen Lebensabend in der Landespflegeanstalt Mauer-Öhling, wo er 1935 starb. Eine spannend geschriebene jüdische Familiengeschichte.
Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, wuchs in West-Berlin auf, wo sie Publizistik, Theater- und Musikwissenschaft studierte. Sie arbeitet als Journalistin und beim Radio.

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