Alexander Estis: Legenden aus Kalk

Gerald Jatzek

Alexander Estis:
Legenden aus Kalk

Nach Erzählungen der Menschen
eines Kölner Veedels
Parasitenpresse, Köln 2023,
94 Seiten
ISBN: 978-3-947676-81-1

Von unten. Vorausgeschickt sei im Sinn der Transparenz, dass ich mich Köln und besonders seinen weniger begüterten Bewohnern seit den frühen 1970ern verbunden fühle. Da war ich in der Stadt einige Zeit als Straßenmusiklehrling, angeleitet von ansäßigen Helden des Genres wie Fliege und Klaus dem Geiger.
Was wir damals oft nebenbei an Geschichten zu hören bekamen, ist der Stoff, aus dem Alexander Estis seine Miniaturen über das Veedel (Grätzl) Kalk formt. Er hat dort urbane Legenden gesammelt, eine Gattung, die wie Märchen gemeinsamen Ängsten, Wünschen und Träumen entspringt; C.G. Jung würde sagen: dem kollektiven Unterbewussten. Im ersten Text bringt dieses eine Frau ohne Augen und Nase hervor, die trotzdem alles beobachtet, eine Erfahrung, die jeder nachvollziehen kann, der Wiener Wohnungen mit Rückspiegeln an den Fenstern kennt. Solche Geschichten aus dem Weichbild der Wirklichkeit können auch witzig sein, wenn es etwa um türkische TV-Sendungen geht, deren Ton durch Rohrleitungen in alle Wohnungen eines Hauses übertragen wird.
Immer wieder dringt freilich der naturalistische Hintergrund durch. Vergewaltigung, Prostitution, Drogen, Altersarmut. Dem muss man sich stellen: „Wenn der Mann noch einmal meine Töchter anguckt, dann schneide ich ihm mit dem Fischmesser den Penis ab.“ (S. 54).
In der Ära überschwappender Soaps wirken die Protagonisten dieser Texte seltsam gelassen, wenn sie täglichen Ärgernissen und existiellen Problemen ohne Pathos und oft selbstironisch begegnen. Vermutlich verfügen Drama Kings und Queens über Energie, die viele Menschen in Quartieren wie Kalk brauchen, um nicht in die Gräben zwischen Einkommen und Miete oder zwischen Leistung und Gesundheit zu fallen.
Der Autor erzählt Alltagsgeschichte und Skurrilitäten, Tragisches und Weggetretenes, Romantisches und Kriminelles, weshalb es schade ist, dass es nach kanpp 90 Seiten schon zu Ende ist.

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