aufgleisen!: Bürgerproduktion 1.0. Rez.: Ernst Punz

Ernst Punz
„Zwischen Mariazell und St. Pölten …“

 

aufgleisen!
Bürgerproduktion 1.0

Landestheater NÖ, Theaterwerkstatt
28.03.2013, 19.30 Uhr
Premiere
Von und mit:
Simon E. Brader, Beate Getzinger, René Grabner,
Teresa Hassan, Julia Jobst, Alex Kaindl,
Daniela Megyesi, Hermann Rauschmayr, Sandra Royis,
Stephanie Schneider, Tanja Steinhauser
Regie: Renate Aichinger
Bühnenbild: Fritz Sochurek
Rollenstudium: Maria Zolda

„… fahrt a liabe kloane Eisenbahn.“
modifiziertes Traditional

Was ist der Unterschied zwischen der Steiermark und Niederösterreich?
Dort Arnold, hier Erwin.
Ja, sicher, aber es hat mit den Hauptstädten zu tun.
Dort Uhrturm, hier Klangturm.
Schon näher, aber es hat mit Theater zu tun.
Ach so: Dort Theater im Bahnhof, hier Bahnhof im Theater.
Pfeift.

Der rot-weiss-graue Morgen legt sich im Wartesaal des St. Pöltner Hauptbahnhofes auf die schlaftrunkenen jungen österreichischen Seelen: Die Leiden der jungen Wartenden. Eine junge Frau und ein junger Mann sitzen da und breiten auf den Sesseln neben sich ein Breakfast-to-go aus: Das Warten der leidenden Jungen. Sie kommen nicht so richtig ins Gespräch: Sie „Ja?“, er „Na!“ Die wartenden Jungen leiden. Sie stecken ihre Nasen in die Zeitung und erfahren, morgen ist heute gestern. Die jungen Leider warten. Leider warten die Jungen. Auf wen? Auf den Weltuntergang? Auf den Bankencrash? Auf den Erlöser? Auf den Wunderwuzzi? Auf Godot? Oder warten sie gar auf den McGuffin? Nein, sie warten auf den Zug! Denn der Zug, der kommt bestimmt. Wenn nicht heute, dann morgen. Sie wissen das, sie sind ja nicht von gestern. Zuvor kommen aber noch eine ganze Menge Leute in den Wartesaal: Die Schriftstellerin und die Leserin, der Journalist und der Zeitungsleser, die BWL-Studentin und die Businessfrau, der Kreuzworträtselkorrekteur und die Zwangsneurotikerin, die Enkeltochter und die Eierfrau. Nur er, er kommt noch nicht. Er lässt sie warten. Kein Wunder, irgendwie machen sie den Eindruck, als ob sie gewartet gehören.

Es entspinnt sich ein Wortgeflecht mit derart oberflächlicher Tiefe, dass einem schier die Ohren zufallen könnten: Die Enkeltochter sorgt sich um den Opa, den der liegt im Koma (reimen würd´ sich Oma). Die Schriftstellerin sucht Motive, die sie in ihrem Roman verarbeiten kann und die Leserin liest ein und dieselbe Liebesszene immer wieder um immer wieder mitfühlen zu können – noch nie war Shakespeare so wertvoll wie heute. Der Journalist sorgt sich um den Zeitungsbildbetrachter und will es ihm besorgen, das Bild. Und die Zwangsneurotikerin schildert ihren minutiösen Tagesplan vom Aufwachen bis zum … Moment! Über die Minuten zwischen Aufstehen und Zähneputzen wird der Zuschauer im Unklaren lassen. Was gibt es hier zu verbergen? Womöglich will man dem Publikum die imaginierte Geräusch- und Geruchsbelastung ersparen.

Und dann kommt er!
Wer, er?
Na, er.
Siddharta?
Nein.
Joshua?
Nein.
Justin?
Nein.
Der Zug?
Nein, ER! Die Lichtgestalt! Erich Hirsch, Weichensteller in Winterbach.
Erich aus Winterbach?!
Ja, Erich, nebstbei Birnenschleuderer.
Was, bitte, ist ein Birnenschleuderer?

Und spätestens hier fragt sich das Publikum, was ihm hier aufgetischt wird, oder besser aufgebühnt, oder noch besser: aufgegleist. Will man mit des Weichenstellers Nebenberuf vielleicht suggestiv an Franz Molnárs Hutschenschleuderer Liliom erinnern? Weiters fragt sich das Publikum, will man uns mit der Eierfrau mit ihrem roten Körbchen an das märchenhafte Rotkäppchen gemahnen. Und plötzlich ergibt eines das andere: Der Journalist mit seinen aggressiven Fragen ist niemand anderer als der gut getarnte böse (Papier-)Wolf. Die Schriftstellerin ist niemand anderer, wie die runderneuerte Miss Marple auf der Suche nach dem Selbstmordmörder. Und der immer wieder in Erscheinung tretende Sprechchor ist nichts anderes als der alte griechisch-antike Theaterchor, selbst seine stellenweise arpeggierten Kommentare können darüber nicht hinweg täuschen. Und Erich Hirsch, Weichensteller und Birnenschleuderer aus Winterbach, ist niemand anderer als der – man wagt es gar nicht zu denken – Rufer in der Wüste: „An alle: Hurchts zua!“

Nun steht es ganz klar vor dem Auge des Betrachters: Das Landestheater Niederösterreich will die literaturbewusste und bühnenbegeisterte Bürgerschaft auf nie geahnte theatralische Höhenflüge vorbereiten. Die Hochkultur hält Einzug ins Dirndltal und kriecht hinauf bis Winterbach, womöglich gar hinein bis Mariazell. Was dem kulturbewussten Wiener die Semmeringbahn, wird dem St. Pöltner die Mariazellerbahn. Was dem theaterverwöhnten Wiener Reichenau, wird dem St. Pöltner Laubenbachmühle. Was dem Wiener das Semmeringbahnhotel Panhans, werden dem St. Pöltner das Alpenhotel Gösing und das Hotel Winterbach. Und mit Schneeberg und Rax können Ötscher und Gemeindealpe allemal mithalten. Und wenn dann gar eine Schnellbahn von St. Pölten bis Bruck/Mur und somit weiter nach Graz führt, steht einer Begegnung von Theater im Bahnhof und Bahnhof im Theater nichts mehr im Gleis. Große Tage stehen bevor.

aufgleisen!, das fantastische Theaterprojekt im Landestheater Niederösterreich, hat mit seiner Bürgerproduktion 1.0 eines schon geschafft: Das Publikum zu minutenlangem Applaus zu bewegen und die Fantasie zum Fahren und zum Fliegen zu bringen. Menschen, die man sonst vielleicht nur aus dem Weichbild der Stadt in der Fußgängerzone kennt, stehen plötzlich auf der Bühne und wirken bei einer professionell betreuten selbst erarbeiteten Produktion mit. Damit wird eine möglicherweise bestehende Kluft zwischen Hochkultur und Amateurtheater überbrückt. Unter den Zuschauern waren jedenfalls Besucher, die schon sehr lange nicht mehr im Landestheater waren und durch private Kontakte zu Mitspielenden wieder Theaterluft geschnuppert haben. Somit ist dem Bürgertheater zu wünschen, dass es die Theaterwerkstatt nicht nur zweimal füllt, sondern öfter und vielleicht auch einmal im Haupthaus mitwirken kann. Und vielleicht ist die Fantasie mit der Literatur und dem Theater im Dirndltal gar nicht so weit hergeholt. Im Rahmen der Eröffnung der Niederösterreichischen Landesausstellung 2015 im neuen Betriebszentrum der Mariazellerbahn in Laubenbachmühle hätte „aufgleisen!“ ganz bestimmt ein begeistertes Publikum. Zug ab, Gleis auf!

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