Cinecittà aperta: René Pollesch. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DiE Absurdität der Film- und theaterbranche

oder
Existentialismus vom feinsten

 

 

Cinecittà aperta
Ruhrtrilogie Teil 2
René Pollesch

Landestheater NÖ, Großes Haus
Premiere: 06.05.2011, 19.30 Uhr

Gastspiel einer Koproduktion des Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr mit der Volksbühne Berlin, der Rotterdamse Schouwburg und Essen, der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010
Uraufführung: 22.09.2009, Volksbühne im Prater, Berlin
Text und Regie: René Pollesch
Dramaturgie: Aenne Quiñones
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Nina von Mechow
Kamera: Ute Schall
Mit Inga Busch, Christine Groß, Martin Laberenz, Trystan Pütter, Catrin Striebeck
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

 

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburgplatz in Berlin hatte sich 1992 einen zweiten Standort im ehemaligen Kino im Berliner Prater angeschafft. Mit René Pollesch hat sich dort eine neue Theaterszene etabliert. Da der Standort seit Frühjahr 2010 im Umbau ist, profitierte auch St. Pölten von den Gastauftritten des Berliner Prater-Ensembles am Freitag dem 6. und 7. Mai. Die Sanierungsarbeiten der Volksbühne Prater sollen im Sommer 2011 beendet sein.

Um René Pollesch’ Stück annähernd zu verstehen, muss man weit ausholen.
Zunächst ist Pollesch’ Ruhrtrilogie ein Openair-Projekt. Die Stadtlandschaft Ruhr spielt hierbei eine markante Nebenrolle. Am 26.06.2010 wurde in Essen, der Stadt im Zentrum des Ruhrgebiets, die Kulturhauptstadt Europas 2010 unter dem Motto RUHR.2010, die gesamte Trilogie erstmals unter dem Titel Die perfekte Nacht uraufgeführt: Teil 1 Tal der fliegenden Messer, Teil 2 Cinecittà aperta, Teil 3 Der perfekte Tag. In St. Pölten war nun, Dank Isabella Suppanz, der Intendantin des Landestheaters NÖ, der 2. Teil zu sehen.

Cinecittà bedeutet Filmstadt und liegt bei Rom. Sie wurde 1937 von Benito Mussolini, dem italienischen nationalsozialistischen Diktator, eröffnet, während des II. Weltkriegs bombardiert, anschließend diente sie als Lager für Displaced Persons, ein Begriff für Zivilpersonen, die sich kriegsbedingt fern von ihrer Heimat aufhielten. Zum Mythos wurde die Filmstadt durch Regisseure wie Rossellini, de Sica, Visconti, aber vor allem Fellini, der nach La dolce Vita (1960) ausschließlich in Cinecittà seine Filme drehte.

Diese Regisseure begründeten den Italienischen Neorealismus, der durch den Marxismus inspiriert ein Gegenpol zum Italo-Faschismus war. Die Filme thematisierten das Leiden unter der Diktatur, die Armut und Unterdrückung des einfachen Volkes. Seinen Durchbruch erlebte der Neorealismus mit Rossellinis Film Roma, città aperta (Rom, offene Stadt) 1945, in dem die Widerstandsbewegung Italiens dokumentiert wird.

Pollesch’ Stück Cinecittà aperta (frei übersetzt: die offene Filmstadt) bezieht sich also auf den Neorealismus vergangener Zeit und transponiert ihn in die heutige Zeit. Eine Zeit, die schon längst neofaschistisch ist, doch die Menschen der Gegenwart haben noch zu wenig (Leid) ertragen und verstehen ihre Lage nicht. Auch die Schauspieler, die Schauspieler spielen, kennen ihre Rolle nicht. Sie sind auf der Suche wie in Fellinis letztem großartigen neorealistischen Film La Strada (1954), treten wie im Zirkus allabendlich auf und bewegen sich von Drehort zu Drehort. Marktschreierisch proklamieren sie Marx’ Philosophie in maschinengewehrschnellen Salven ins Publikum. Wie in Fellinis Das süße Leben sind auf der Bühne sowie im Film fünf Personen – zwei Männer und drei Frauen - zu sehen: Martin Laberenz, Trystan Pütter, (Chris)Tine Groß, Inga Busch und Catrin Striebeck. Die Handlung ist einfach, der Regisseur Rainer Maria Ferrari will einen Film drehen. Typisch für Pollesch-Inszenierungen, die fünf Personen verkörpern rollend jeden den man für einen Film braucht und noch viel mehr: Star, Hauptdarsteller, Schauspieler, Drehbuchautor, Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Produzent und den Ferrari als Regisseur. Ferrari will also einen Film drehen aber mehr weiß er schon nicht. Es soll natürlich wieder um das Leben der Anderen gehen, um das Leben der Armen, der Unterdrückten. Das Deutschland im Jahre Null soll gezeigt werden. Existentielle Fragen tun sich auf. Durch die Weltwirtschaftskrise hat man das Eigentum verloren, durch die Nazis und den Krieg die Kinder. Aber was hätte man schon dagegen tun können? Die Protagonisten mischen kräftig mit Ratschlägen und Ideen mit, es wird quergeredet, was das Zeug hält. Doch ist es überhaupt möglich in den Körper eines anderen zu schlüpfen? Wie kann jemand, dessen Körper viel besser ausschaut eine Person wie Marcel Reich-Ranicki oder gar Stephen Hawking ohne Rollstuhl spielen? Und überhaupt, wie kann eine bessere Gesellschaft das Leben der Armen wiedergeben? Mit ein wenig Kohledreck auf den Wangen wird man vielleicht glaubwürdiger rüberkommen. Schließlich will man hier Geschichte spielen und vor allem Geschichte schreiben. Doch es gibt keine Geschichte.

Tine: „[…] man müssten den deutschen Kindern beibringen, das Leben wieder lieben zu lernen, dann hätte sich die Mühe desjenigen, der diesen Film gemacht hat, mehr als gelohnt.“
Trystan: "Das sagt Rossellini am Ende seines Films Rom, offene Stadt. Aber das wäre nicht das Offene, wenn es wieder nur darum ginge: um das Heil unserer Seele. Das ist die schrecklichste Herrschaftsform, die sich um unsere Seele kümmert, und um ihr weltliches Äquivalent, um unsere Individualität, die verteidigt wird bis aufs Messer und nicht um die unsterblichen Körper. Lasst uns doch mal ausnahmsweise über die reden, und lasst die zu ihrem Recht kommen. Diese geschichtlichen Wesen hier. (Weist auf seinen Körper). Diese Darwinfinken.“

Pauline Boetzke ist so eine, eine Figur aus Klaus Emmerichs TV-Mini-Serie Rote Erde (1983), eine Masurin, eine Trümmerfrau aus dem Ruhrpott des 19. Jahrhunderts, eben eine, die zu den anderen gehört. Darwin, Marx und die immer wiederkehrenden Kriterien zur Überwindung des Kapitalismus, das ist Pollesch. Er lässt seine Schauspieler die Parolen auskotzen. Wenn für das Publikum nur mehr Chaos und Unsinn übrig bleibt, dann hat Pollesch sein Ziel erreicht, der Bourgeoisie die Fratze der Intellektualität heruntergerissen.

Mit Cinecittà gelingt Pollesch die Vermischung von Film und Theater, und in St. Pölten konnten wir eine perfekte Inszenierung erleben! Das Publikum sitzt im Theater und sieht einen Film. Drehort ist Brachland in Essen, Werksgebäude, Abrissreife Hallen, ideologisierte Verfallsromantik. Die Szenen gehen nahtlos zum Aufführplatz – St. Pölten Landestheater NÖ - am Rathausplatz bis auf die Bühne über. Die Dreifaltigkeitssäule am St. Pöltner Rathausplatz wird kurzerhand zum Trevi-Brunnen, die herumstehenden Zelte der gerade eben stattfindenden (Fr)Essmeile stören nicht, geben sie doch den Eindruck einer lebenden Cinecittà wieder. Pollesch geht in seinem Text sogar auf örtliche Gegebenheiten ein, wie z.B. auf die Franziskaner, während einer der Schauspieler auf die Franziskaner Kirche im Hintergrund zeigt! Die in Essen gedrehten Einstellungen sind schwarz-weiß, die Lifeübertragung in Farbe.

Die Kamera geht live vom Rathausplatz durch das Theater bis auf die Bühne mit den Schauspielern mit. Die Kamerafrau Uta Schall und die Person, die das Mikro hält, tun in den beengten Gängen des Theaters ihr Bestes. Dann stehen die Schauspieler leibhaftig auf der Bühne.
Der Produzent, der nichts produzieren will, der Regisseur, der sich eine Drehbühne wünscht, um zu drehen… der Schauspieler, dem sein Körper zu schön ist für die Rolle. Doch all dies findet unter der Annahme statt, dass im Publikum jemand sitzt, der versteht, dass laut Darwin die Historie mit uns selbst nichts zu tun hat. Darwin zwar erklären kann woher wir kommen, die Geschichte jedoch nicht. Doch auch Rossellini ist gescheitert, denn auch aus dem Ausgang einer Geschichte könne man nicht wirklich eine Lebensfreude (zurück)gewinnen. Im Sterben sehen wir jedenfalls die Wesensveränderung des Anderen.

„[…]. Das ist der Tod und das ist der Schwarzmarkt. Das ist die Errungenschaft, eine Personenwaage an den Mann zu bringen. Das ist nicht die Geschichte, das ist nicht der Tod, das ist der Körper hier und jetzt.“ (René Pollesch)

Ein BRAVO an die schauspielerische Leistung der Gruppe, diese Texttiraden zwischen Filmzitaten, Gesellschaftskritik und philosophischen Denkmodellen wiederzugeben. Pollesch realisiert das Unmögliche. Das Publikum hat auf jedenfall nicht begriffen, wann der Film zu Ende war! BRAVO!

Zur Info: Film im Stück

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