Der Gott des Gemetzels: Yasmina Reza. Rez.: I. Reichel

Ingrid Reichel

DIE NERVEN BLANK!

 

 
DER GOTT DES GEMETZELS
Le dieu du carnage
Yasmina Reza
Aus dem Französischen:
Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Landestheater NÖ, großes Haus
Freitag, 13.02.09, 19.30
Gastspiel: Schauspielhaus Bochum

Premiere: 27.04.07
Mit: Imogen Kogge, Ulli Maier,
Felix Vörtler, Klaus Weiss

Regie: Burghart Klaußner
Bühne: Bernhard Siegl
Kostüme: Marion Münch

 

Bereits 2007 gastierte das Burgtheater mit dem weltweit meist aufgeführten Stück „KUNST“ (Originaltitel: „ART“) der französischen Erfolgsautorin Yasmina Reza in St. Pölten. Nun ist es das Schauspielhaus Bochum, welches dem NÖ Publikum für zwei Abende die deutsche Version ihres neueste Stücks in die Landeshauptstadt bescherte. Die gelungene Übersetzung ist von Frank Heibert und dem mehrmals ausgezeichneten Hinrich Schmidt-Henkel. Die Premiere fand am 27.04.07 im Schauspielhaus Bochum statt.

Rezas Theaterstücke handeln vorwiegend von der gutbürgerlichen Gesellschaft. Dieses Werk widmet sie ganz der „Kunst des zivilen Umgangs“.

Ausgangspunkt der Idee des Stückes war die Erzählung ihres 11-jährigen Sohnes: Ein Schulkollege hatte einem anderen Mitschüler mit einem Stock einen Schneidezahn ausgeschlagen. Erst die Mutter des Opfers, die sich bei der Autorin darüber beschwerte, nicht einmal einen Anruf von Seiten der Tätereltern erhalten zu haben, machte die alltägliche Geschichte zu einem zündenden Stoff für einen Einakter.

So laden die beklagenswerten Opfereltern Véronique und Michel Houillé das gegnerische Ehepaar Annette und Alain Reille zu einem tête-à-tête zu sich nach Hause ein, um die Versicherungsmodalitäten zu klären. Die Formalität wäre leicht per Telefon zu klären gewesen, doch Véronique ist Menschenrechtsaktivistin und überzeugte ihren Mann Michel von der guten Idee, mittels der Eltern Täter und Opfer zusammenzubringen. Die moderne Art, Konflikte zu lösen, wird angewendet, und zwar: die Bereitschaft des Vergebens und des sich Entschuldigens, der Akt der Versöhnung zwischen zwei Streitenden. Doch die „Kunst des zivilen Umgangs“ wird zu einer Odyssee. Die Begegnung zwischen Opfer- und Tätereltern verläuft zunächst angespannt und verklemmt. Man ist peinlich berührt angesichts der schändlichen Tat des einen Sohnes und der einstweiligen Entstellung des anderen. Und obwohl der Brief an die Versicherung bereits geschrieben und korrigiert, also abschickbereit ist, verharren diese zwei Paare im stockenden Gespräch in dieser Wohnung, um eine gemeinsame Talfahrt anzugehen. Eine Situation, die wir alle schon dutzend Mal erlebt haben: Du willst gehen, alles ist gesagt, doch du gehst nicht. Du willst, dass die anderen gehen, doch sie gehen nicht. Es ist das Versagen des Könnens, das Versagen der Vernunft, ja das Versagen des Freien Willens schlichtweg. Irgendetwas hält einem zurück, eine unangenehme kollektive Pattstellung entsteht und man ist plötzlich bereit zu handeln und das auf Teufel komm raus. Die plötzliche Aktivität der einzelnen Protagonisten führt, wie könnte es anders sein, zu einem kollektiven Schachmatt. Es wird beschuldigt, gedemütigt, angeklagt und verherrlicht. Das Innerste wird nach außen gekehrt, kein Wender, keine Familienaufstellung ist mehr nötig. Es wird gekotzt, gepeinigt und geohrfeigt. Schließlich werden Drohungen wahr gemacht, aggressives Potenzial ausgespielt und Fremdbesitz zerstört, sogar von Umbringen ist die Rede. Reza spielt alle Varianten durch. Schritt für Schritt hat sie die Situation psychologisch aufgearbeitet. Ehepaar gegen Ehepaar, Frauen gegen Männer, Männer gegen Frauen und schließlich die kurze Verbrüderung der jeweiligen Gegnerpartner. Was aber hält uns zurück, wenn wir doch schon gehen wollen und wir schon fühlen, dass uns ein Bleiben nicht bekommen wird? Möglicherweise ist es der Schrei nach Aufklärung und der Wille Ungereimtheiten zu bereinigen, welche uns zu einem exzessiven Verhalten veranlassen. Nämlich die späte Erkenntnis, dass nicht immer einer alleine schuldig ist. Und da wir Gesellschaftswesen sind, unterliegen wir dem Zwang unsere Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen. Ein ausgeschlagener Zahn – auf der Bühne sind es zwei Zähne – wird zum Auslöser vieler Offenbarungen, Vorwürfe und letztlich auch vieler Eingeständnisse: Nicht nur die gescheiterte eheliche Beziehung, sondern noch vielmehr die gescheiterte Erziehung der eigenen Kinder verraten die eigene Unzulänglichkeit … Schließlich und endlich liegen nicht nur die Nerven des verletzten Kindes blank, sondern auch die, der beiden Elternteile.

Grandios in diesem Stück ist auch die Auswahl der Charaktere der Protagonisten, die Rollenverteilungen in den jeweiligen Familien und in der Gesellschaft generell durch ihre Berufe. Erstklassig ist die Besetzung!

Während Imogen Kogge glanzvoll als die pseudointellektuelle Véronique, die halbtags in einer Buchhandlung arbeitet, sich als Autorin versucht und Moralpredigten hält, dennoch mit konservativen und biederen Aussagen ihren behäbigen und einfach gestrickten Gatten Michel, der mit Haushaltswaren handelt, brillant gespielt von Felix Vörtler, dominiert, spielt sich beim Ehepaar Reille scheinbar das klassische Patriarchat ab. Der schon ältere Klaus Weiss, überzeugt als geistig aber nicht menschlich überlegener Staranwalt Alain, der u.a. eine Pharmaindustrie vertritt, die sich gerade wegen eines Medikaments im Kreuzfeuer der Medien befindet und mit einer Sammelklage von geschädigten Patienten rechnen muss. Er tyrannisiert seine Umgebung mit den permanenten Handygesprächen und nimmt trotz körperlicher Präsenz nur am Rande an den Problemen seiner noch jungen Familie teil. Seine Frau Annette, hervorragend gespielt von der Nestroy-Preisträgerin Ulli Maier, ist selbst berufstätig und arbeitet als Vermögensberaterin. Sie ist gestylt und erheblich jünger als ihr Mann Alain. Ihr fällt trotz Karriere die undankbare und ihr nicht zuträgliche Rolle des klassischen Weibchens zu. Ihre Unzufriedenheit äußert sich durch körperliche Schwächen wie Übelkeit in Stresssituationen.

Für eine kleine Irritation zu Beginn des Stückes sorgt allerdings die Espressotasse in der Hand von Alain, die schließlich von einem Darsteller zum anderen gereicht wird, als das Ehepaar Reille gerade gehen will, mit der Bemerkung von Michel: „Wie unhöflich von mir, ich habe ihnen gar nichts angeboten…bleiben sie doch noch“ (Nicht wörtlich wiedergegebenes Zitat!)

Die vermeintliche Absicht, die Peinlichkeit der Situation verstärkt zu veranschaulichen, verleitet den Zuseher eher zu der Annahme, an einem Regiefehler partizipieren zu dürfen.

Ansonst ist das Stück von Burghart Klaußner so hervorragend inszeniert, dass der Zuseher vergessen hat, dass hier Schauspieler am Arbeiten sind…

Bleibt nur mehr die Frage offen, wie kann ein solch dramatisches Stück, welches weder im Dialog, noch in der Inszenierung oder gar im Schauspiel übertrieben oder gar überspitzt ist, uns dermaßen zum Lachen bringen. Ist es das Erkennen der eigenen Absurdität?

„Der Kodex der westlichen Welt sei der Kampf für Freiheit und Stabilität“, ereifert sich Véronique, doch „wer das Agnus Dei singt, hat keine Lust zu vögeln“ kontert Alain, der Staranwalt. Weitere Aussagen wie „Es sei naiv an die zivilisierte Kraft der Natur zu glauben.“ (Véronique) und „Es braucht Zeit, Gewalt durch Recht zu ersetzen. Ich glaube an den Gott des Gemetzels.“ (Alain), sind schwere Kritiken an unsere Gesellschaft, die weder absurd noch lächerlich sind.

Es wird wohl das Rätsel der Autorin Yasmina Reza bleiben, wie sie es immer wieder in ihren Stücken schafft, uns unseren eigenen Dorian Gray sichtbar zu machen und wir dennoch darüber lachen können. Ein Rätsel, welches ihr auch den berechtigten internationalen Erfolg beschert.

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